Übertretung

Buchseite und Rezensionen zu 'Übertretung' von Louise Kennedy
4.75
4.8 von 5 (4 Bewertungen)

Inhaltsangabe zu "Übertretung"

Jeden Tag, während Cushla Lavery ihrer alkoholkranken Mutter das Frühstück macht, sich im Garten mit dem Nachbarn unterhält, ihre Grundschüler unterrichtet oder in der Bar ihrer Familie aushilft, werden die Toten und die Verletzten gezählt. Es ist 1975, und in Belfast eskaliert der Bürgerkrieg. Die katholischen Laverys betreiben ihren Pub in einer überwiegend protestantischen Vorstadt. Sie müssen vorsichtig sein – ein falsches Wort, schon findet man sich auf einer Todesliste wieder. In diesem »Höllenloch« gibt es vieles, was man besser nicht tut. Sich in einen verheirateten Mann verlieben, der nicht nur ein wohlhabender, angesehener Prozessanwalt ist, sondern auch noch Protestant. Sich einmischen, wenn ein Schüler schikaniert und sein Vater fast totgeprügelt wird. Gegen jede Vernunft beginnt Cushla eine leidenschaftliche Affäre mit dem deutlich älteren Michael Agnew, gegen jede Vernunft setzt sie sich für den kleinen Davy ein – und bezahlt einen hohen Preis. Louise Kennedys international gefeierter Roman erzählt von einer tief gespaltenen Gesellschaft, von einem Konflikt, dessen Wunden bis heute nicht geheilt sind, von Menschen, die versuchen, inmitten täglich stattfindender Gewalt ein normales Leben zu führen. Ein herzzerreißendes, bittersüßes, unvergessliches Buch.

Format:Gebundene Ausgabe
Seiten:304
Verlag: Steidl Verlag
EAN:9783969992593

Rezensionen zu "Übertretung"

  1. Liebe in gefährlichen Zeiten

    Katholik oder Protestant? Die Antwort konnte in Nordirland während der ‚Troubles‘ nicht nur die Lebensweise bestimmen (ob z.B. nachts die Armeehubschrauber mit Scheinwerfern in die Wohnungen der Betonbunker leuchteten), das Image (‚Wenn etwas sauber und ordentlich war, wenn es so war, wie es sein sollte, wurde es als protestantisch beschrieben‘), sondern auch über Leben und Tod entscheiden.

    Die Geschichte von Michael und Cushla ist wahrscheinlich so alt wie die Menschheit: ein 56-jähriger, verheirateter Mann hat eine Affäre mit einer wesentlich jüngeren Frau, einer 24-Jährigen. Nichts Neues und Außergewöhnliches also, wenn nicht der Handlungsort, die Zeit und die Begebenheiten sich abheben würden: Die Handlung spielt 1975 während der ‚Troubles‘ in Nordirland, in einer Stadt vor den Toren Belfasts, und Michael ist ein protestantischer Strafverteidiger und Cushla eine katholische Lehrerin einer 3. Klasse.
    Mehr Verachtung als die jeweils andere Religions-Gruppe bekamen nämlich jene, die sich mit der anderen Gruppe ‚einließen‘, z.B. durch eine Affäre oder gar Heirat. (Michael und Cushla machten sich damit gleich mit 2 Übertretungen der gesellschaftlichen Regeln ‚schuldig‘.) Außerdem war Nicht-Auffallen-Wollen oberste Devise!

    Sehr authentisch sind die Protagonisten beschrieben: angefangen bei der Familie Lavery (mit der Mutter Gina und ihren Alkoholproblemen), dem fanatischen Pfarrer Slattery (der die Themen Folter, Erbsünde, Reue und Schuld bevorzugte) und die Familie McGeowns, deren jüngster Sohn Davy in Cushlas Klasse ging und um die sie sich rührend nach dem Anschlag auf Vater Seamie kümmerte (und sich damit der 3. Übertretung ‚schuldig‘ machte!)

    Mir ging dieses Buch mit seiner klaren Sprache gewaltig unter die Haut! Besuchten wir doch 2003 (also gerade mal 5 Jahre nach Beendigung des letzten Konflikts) Nordirland und auch Belfast, fuhren in einem schwarzen (konventionellen) Taxi zu den berühmten politischen Wandgemälden, hielten bei vielen ‚Heldenfriedhöfen‘ (mit Namen lauter junger verstorbener Männer) und ich habe heute noch das beklemmende Gefühl bei unserem Warten vor der Sinn-Féin-Zentrale (bei offenen Taxitüren, weil der Fahrer nur schnell was drin erledigen wollte) in Erinnerung.

    Ich gebe 5 Sterne für dieses beeindruckende Werk von Louise Kennedy (übersetzt von Claudia Glenewinkel und Claus-Christian Oeser). Empfehlen kann ich es allen, die sich für dieses beeindruckende Land mit seinen fantastischen Landschaften, jedoch schmerzhaften Geschichte, interessieren.

  1. 4 Sterne!

    Klappentext:

    „Jeden Tag, während Cushla Lavery ihrer alkoholkranken Mutter das Frühstück macht, sich im Garten mit dem Nachbarn unterhält, ihre Grundschüler unterrichtet oder in der Bar ihrer Familie aushilft, werden die Toten und die Verletzten gezählt. Es ist 1975, und in Belfast eskaliert der Bürgerkrieg. Die katholischen Laverys betreiben ihren Pub in einer überwiegend protestantischen Vorstadt. Sie müssen vorsichtig sein – ein falsches Wort, schon findet man sich auf einer Todesliste wieder. In diesem »Höllenloch« gibt es vieles, was man besser nicht tut. Sich in einen verheirateten Mann verlieben, der nicht nur ein wohlhabender, angesehener Prozessanwalt ist, sondern auch noch Protestant. Sich einmischen, wenn ein Schüler schikaniert und sein Vater fast totgeprügelt wird. Gegen jede Vernunft beginnt Cushla eine leidenschaftliche Affäre mit dem deutlich älteren Michael Agnew, gegen jede Vernunft setzt sie sich für den kleinen Davy ein – und bezahlt einen hohen Preis.“

    Das Cover zeigt es schön direkt, der Buchtitel benennt die Geschichte im Ganzen auf den Punkt: Übertretung. Wir befinden uns im Jahre 1975 in Belfast. Für Geschichtsinteressierte ist klar was das für ein Jahr ist. Der Bürgerkrieg in Nordirland ist ausgebrochen und die Einwohner der Stadt Belfast stehen Kopf wenn sie überhaupt noch einen haben. Autorin Louise Kennedy erzählt uns hier die Geschichte u.a. von Cushla Lavery, von ihrer kranken Mutter und ihrem generell verkorksten Leben. Das Leben in der Stadt ist eine Art Spießrutenlauf für alle Diejenigen, die anders denken oder auf der „falschen“ Seite stehen, und man muss gehörig dabei aufpassen wem man sich anvertraut, was man sagt oder gar laut denkt. Ich muss zugeben, ich habe das Buch vier Mal gelesen und erst nun eine wirklich sichere und hoffentlich passende Bewertung dazu verfasst. Beim ersten Mal durchlesen war ich komplett verstört von diesem Buch und seinen Protagonisten, ich sprach mit einer Freundin darüber, die das Buch ebenfalls gelesen hatte und was sie dazu empfand und erst gar nicht bewertet hat, beim zweiten Mal wurde es heller im Verständnis und beim dritten Mal verstand ich immer mehr Cushlas Gedanken und Handlungen. Ihre Unterwerfung zu Michael war hart zu ertragen und heute kaum mehr vorstellbar bzw. es lässt sich eigentlich mit einem Wort benennen: Hörigkeit. Beim vierten Anlauf nahm ich all mein Wissen rund um den nordirischen Bürgerkrieg zusammen, hatte zuvor noch hier und da andere Bücher darüber „studiert“, den wirklich guten Film „Belfast“ von Kenneth Branagh geschaut und mir meine gesammelten Notizen rund um diese Buch Revue passieren lassen….Fazit: Es ist wirklich ein Buch welches sich zu lesen lohnt aber es ist durch seinen Schauplatz und eben der geschichtlichen Begebenheit sehr speziell. Wer Null Wissen dazu hat, wird das Buch überhaupt nicht verstehen oder wer sich gar nur auf die Personen einschießt, wird den Sinn der Geschichte schwer zuordnen können. Die Story ist ein Geflecht aus Entwicklung von Personen, geschuldet durch eine politische Entwicklung im eigenen Land, die alles aber alles verändert und einem selbst das Lügen als richtig abverlangt. Kennedy vermischt psycho-dramatische, gesellschaftskritische, geschichtliche und auch romantische Parts doch sehr gekonnt miteinander. Es ist schwer alles so in eine Geschichte zu packen aber Kennedy ist es gelungen. Auch wenn sich Belfast heute mehr als gemacht hat in den letzten Jahrzehnten, so schwebt bis heute dieses Ereignis bei Nennung dieses Namens mit. Belfast befreit sich sichtlich von dieser Last und unsere Protagonistin und alle Mit-Darsteller dieses Buches suchen sich einen Weg, der für sie richtig erscheint. Kennedy hat hier eine Zeit beschrieben, die die Übertretung gewisser Grenzen zeigt und jeder wird sich dafür verantworten müssen! 4 sehr gute Sterne hierfür!

  1. Irland in den 70er Jahren: Hass und Gewalt

    Mein Lese-Eindruck:

    Eine Welt voller Hass und Gewalt im Irland der 70er Jahre öffnet sich in diesem Buch.

    Der Leser erlebt die irischen troubles aus der privaten Sicht von Cushla Laverty, einer jungen Lehrerin in Belfast. Trotz der Waffenruhe ist das tägliche Leben von Bombenattentaten, gewalttätigen und grausamen Übergriffen, Überwachung und von Polizeiwillkür gepägt. Cushla und ihre Familie gehören zur katholischen Minderheit in einem durchwegs protestantisch bewohnten Viertel. Sie wohnt noch bei ihrer Mutter, einer Alkoholikerin, und abends hilft sie ihrem Bruder in dessen Pub aus. Hier lernt sie den protestantischen Anwalt Michael kennen, mit dem sie schließlich eine leidenschaftliche Affäre beginnt.

    Damit sind bereits einige „Übertretungen“ Cushlas benannt. Das ist zum einem die Tatsache, dass sie als junge Katholikin eine unmoralische Affäre hat und damit, jedenfalls nach Ansicht ihrer Familie, ihre Heiratschancen mindert. Zum anderen ist es der Umstand, dass Michael verheiratet ist, und, last not least, er ist Protestant. Die Beziehung wird daher von Geheimhaltung, von Verstellung und auch von Lügen begleitet.
    Eine weitere Übertretung besteht darin, dass Cushla sich eines kleinen Schülers annimmt, dessen Vater katholisch, die Mutter aber protestantisch ist. Die Familie ist täglichen Schikanen und auch tätlichen Übergriffen seitens ihrer protestantischen Nachbarn ausgesetzt. Die Angriffe gehen so weit, dass der Vater grausam verletzt und arbeitsunfähig wird. Cushla übertritt hier die Aufgaben, die ihr als Lehrerin zugewiesen sind, und kümmert sich um die Familie, die unter dem äußeren Druck zerbricht.

    Cushla sieht sich wegen dieser Übertretungen großem privaten Druck ausgesetzt, und zwar sowohl, von offizieller Seite durch den Schulleiter und den fanatisierten Priester, als auch im privaten Bereich durch Mutter und Bruder, die „tugendhaftes“ Verhalten einfordern. Auch hier übertritt Cushla tradierte Grenzen und verweigert das Nachleben von patriarchalischen Rollenvorstellungen. Sie wehrt sich gegen die Bevormundungen und damit auch gegen die traditionelle Abwertung der Frauen.

    Damit vermischt die Autorin das Thema der Emanzipation mit den politischen-konfessionellen und auch sozialen Konflikten, die Irland viele Jahre polarisiert haben. Diese Vermischung gelingt ihr ohne jede Verwerfung, und es ist beklemmend zu lesen, wie die Zeitgeschichte im privaten Leben Cushlas zur Tragödie wird.

    Lesenswert!

  1. 5
    29. Sep 2023 

    Grenzüberschreitungen

    „Übertetung" - ein treffender Titel für den aktuellen Roman der irischen Autorin Louise Kennedy. Denn darum geht es in diesem nervenaufreibenden Buch: Übertretungen von Grenzen, sowohl im buchstäblichen als auch im übertragenen Sinn.
    Schauplatz dieses Romans ist Belfast im Jahr 1975. Hier tobt der Bürgerkrieg zwischen der katholischen IRA und der protestantischen Besatzungsmacht. Inmitten dieses Krieges findet der Alltag statt. Die Bevölkerung ist zweigeteilt. Doch jeder versucht ein halbwegs normales Leben zu führen, wenn auch mit wenig Sympathie für die jeweils andere Glaubensrichtung. Begleitet wird der Alltag von der ständigen Bedrohung durch Heckenschützen, Bombenanschlägen und gewalttätigen Ausschreitungen. Denn in diesem Krieg gibt es keine Frontlinie, Belfast ist ein einziges großes Kampfgebiet.
    Der Roman wird aus der Perspektive von Cushla erzählt, einer jungen katholischen Lehrerin, die zusammen mit ihrer Mutter Gina in Belfast lebt, der Vater ist verstorben.
    Cushlas Bruder Eamon betreibt einen Pub in einem protestantischen Viertel, Cushla hilft dort regelmäßig aus.
    Die junge Lehrerin unterrichtet an einer katholischen Schule Kinder im Grundschulalter und versucht, den dogmatischen Einfluss, den der Priester des Viertels auf die Schüler ausübt, zu mildern. Davey ist der Außenseiter unter ihren Schülern. Um ihn sorgt sie sich und schenkt ihm sehr viel Aufmerksamkeit. In seiner Familie, die in einem protestantischen Viertel lebt, sind beide Glaubensrichtungen vertreten. Seine Mutter ist protestantisch, der Vater katholisch, was zu Anfeindungen in der Nachbarschaft und der Schule führt. Cushla unterstützt ihn und seine Familie mit den wenigen Möglichkeiten, die sie hat. Damit schafft auch sie sich Feinde, denn sowohl in der Schule als auch in der Bevölkerung stoßen konfessionelle Grenzüberschreitungen auf Ablehnung.
    Konfessionsübergreifend ist auch das Liebesleben von Cushla. Sie lernt den deutlich älteren und verheirateten Michael kennen. Er ist protestantischer Anwalt am Gericht in Belfast und vertritt katholische Straftäter, die in Verbindung mit der IRA gebracht werden. Darunter befinden sich viele, die unschuldig angeklagt sind und als Bauernopfer herhalten sollen. Michaels Glaube an Gerechtigkeit ist stärker als sein religiöser Glaube. Mit seiner Tätigkeit macht er sich auf beiden Seiten Feinde. Die Protestanten nehmen ihm sein Engagement für katholische Straftäter übel und die IRA betrachtet ihn, den Vertreter der protestantischen Gerichtsbarkeit, prinzipiell als Feind.
    Das ungleiche Paar verliebt sich ineinander. Doch die Liebe hat kaum eine Chance an einem Ort, wo Grenzen strikt eingehalten und Übertretungen streng geahndet werden.
    Louise Kennedy schafft in ihrem Roman eine düstere Stimmung, die dem Bürgerkriegsschauplatz Belfast angemessen ist. Angst und Gewalt sind ständig präsent Die Menschen sind angespannt. Daher wundert es nicht, dass Alkohol und Zigaretten nicht wegzudenkende Requisiten in diesem Roman sind, was sich aus der heutigen Sicht betrachtet, merkwürdig liest. Doch schließlich befinden wir uns in den 70ern, als das Rauchen noch gesellschaftsfähig war und sich keiner daran gestört hat.
    In „Übertretung“ lässt sich selten vorhersehen, was die nächsten Seiten in diesem Roman erzählen werden. Stattdessen findet man sich mit jedem Kapitelbeginn in das Geschehen hineingeworfen, braucht einen Moment der Orientierung. Immer wieder tauchen offizielle Nachrichtenmeldungen auf, die über weitere Verbrechen im Zusammenhang mit dem Bürgerkrieg stehen. Im ersten Moment scheinen diese Meldungen losgelöst von der Handlung zu sein und schildern nur einen weiteren Tag der Gewalt in Belfast. Doch tatsächlich gibt es Verbindungen zu den einzelnen Protagonisten und ihrem Schicksal.
    Fazit:
    Louise Kennedy erzählt am Beispiel ihrer Protagonistin Cushla von Menschen, die im kriegsgebeutelten Alltag Belfasts der 70er Jahre einfach nur ein normales Leben führen wollen. „Übertretung“ ist ein unglaublich berührender, aber auch verstörender Roman.
    Leseempfehlung!