Zitronen
Lilly Drach hatte zu dem vollgestellten Haus, das sie von ihrer Mutter geerbt hatte, keine besondere Beziehung. Am ehesten lag ihr noch der Garten aber nicht ein ums andere Jahr. Mal gelang ihr die Apfelernte und sie kochte den ganzen Sommer Kompott, das August und sie tagelang aßen. Im nächsten Jahr ließ sie alles wie es war und krümmte keinen Finger.
August war ein ruhiger Junge, das verdankte er seinem Vater.
Mit zehn kannte August die Macht der Kränkung. Er wusste, dass er gerade stehen sollte, keinen Lärm machen, sein Zimmer aufräumen, dass aus ihm nie etwas werden würde, dass er dumm war, dass er nicht so blöd schauen sollte, dass es besser gewesen wäre, man hätte ihn abgetrieben, dass er sich nicht so anstellen dürfe, dass jetzt alles wieder gut war. S. 27
Nachdem der Vater zugeschlagen hat, tröstet die Mutter. Die Mutter interveniert, möchte von August wissen, wen er lieber mag, wen er retten würde, wenn das Haus brenne, Vater oder Mutter?
Wenn der Vater nachts nach Hause kam unterhielt er die Hunde, mit einem Tänzchen oder einer Jonglage.
Die beiden Hunde waren des Vaters bestes Publikum, hörig und unbeeindruckt gleichermaßen. S. 33
Dann war der Vater eines morgens weg und die Mutter schminkte sich wieder. Sie grämte sich, weil sie keinen Mann hatte. Von da an, kam zwischen die Mutter und den August eine eigenartige Distanz und fast sehnte sich August wieder nach seinem Vater, damit er von der Mutter getröstet werden konnte.
Fazit: Die Autorin zeigt uns zerstörerischste Familienumstände in der jeder, eigene Unzulänglichkeiten zu kompensieren versucht. Der Vater lässt seinen Frust an seinem Sohn aus, die Mutter missbraucht und manipuliert den Sohn, um von ihm wahrgenommen zu werden und um sich nach den väterlichen Attacken besser zu fühlen, weil sie nichts unternommen hat. Das gesamte Klima ist rau, herzlos und Mittel zum Zweck. Die Sprachmelodie ist etwas altbacken, deshalb kann ich die Zeit nicht einschätzen, in der die Geschichte spielt. Und obwohl Valerie Fritsch einen großartigen Schreibstil hat, konnte sie mich nicht abholen. Die ganze Erzählung hat mich außen vorgelassen. Ich habe mich nicht eingeladen gefühlt, als sei es nicht für mich erzählt. Wohl habe ich den Kopf geschüttelt, an vielen Stellen, weil die Eltern ihrem Kind das ganze Leben versauen. Auch finde ich das Münchhausen-Stellvertreter-Syndrom arg gut gezeigt. Und doch hat das Buch mein Herz nicht erreicht.
Die tragische, schockierende Lebensgeschichte des Arnold Drach – in poetischen Bildern sprachgewaltig erzählt
Ich bin schockiert. Zuerst dachte ich: Was soll das, zum Buch dazu zu schreiben: 'Ein sprachgewaltiges Buch über das Münchhausen-Stellvertreter-Syndrom'? Was soll das sein? Nachdem ich mich informiert habe, weiß ich, dass es das gibt und finde es unglaublich und erschütternd. Es ist eine subtile Art der Kindesmisshandlung: Krankheiten hervorzurufen, z.B. um sich als besonders fürsorgliche Mutter zu gebärden.
Genau das ist für die Lebensgeschichte des kleinen August Drach prägend. Zuerst war er den Grausamkeiten des prügelnden Vaters ausgesetzt und als dieser plötzlich spurlos verschwand, 'übernahm' die Mutter, allerdings auf ganz andere Art und Weise. Die Autorin hat es sehr treffend so ausgedrückt: 'Dem Vater fiel er in die Hände, der Mutter in die weit ausgebreiteten Arme'.
August Drach ist schon ein junger Mann - 'mit unsichtbaren Beschädigungen' - als er durch einen Zufall endlich von seiner Mutter loskommt. Er findet in der Stadt sogar Arbeit und eine große Liebe, aber leider kommt das alles für ihn zu spät. Der langjährige Missbrauch hat zu irreparablen Schäden geführt. Am Ende kehrt er noch einmal in sein Heimatdorf zurück, wo den Leser ein überraschendes Ende erwartet. Oder vielleicht doch nicht?
Natürlich ist das ein deprimierendes, ein trauriges Buch, aber die Autorin hat es auf so besondere Art und Weise geschrieben, dass ich begeistert bin: über ihre kreativ-innovative, bildhafte Sprache, über die Gedanken, die anregend wirken und über die kleinen Charakterstudien, die sie einfügt und die einen Blick auf unsere kranke Gesellschaft werfen: Menschen, die weggucken, Menschen mit Rachegedanken, Menschen, die Mitschuld auf sich laden.
Man mag einwänden, dass die Lebensgeschichten ziemlich gerafft erzählt werden oder dass es manchmal zu viele Metaphern, Symbole und Bilder gibt, aber mir hat gerade die ungewöhnlich starke Sprache gefallen und ich gebe eine klare Leseempfehlung aus.
Kurzmeinung: Valerie Fritsch setzt sich mit diesem Roman ein literarisches Denkmal.
Valerie Fritsch beschreibt in einem wirklich schmalen Büchlein einerseits die Kindheit und das junge Erwachsensein des Knaben August Drach, andererseits aber liefert sie in ihrem Roman auch gestochen scharfe Kurzcharakterisierungen und kleine Gesellschaftskritiken und zeichnet sich durch eine leuchtende Sprache aus. Den Süden beschreibt sie so: „Ein Licht herrschte als hätte man mit einem Mal andere Augen“.
Die Lebensgeschichte Augusts ist schockierend, es ist eine Geschichte von Kindesmisshandlung, von Gewalt, sowie Vater wie Mutter vergehen sich an dem Kind und auch ein späterer erwachsener Freund kommt ihm nur zag- und mangelhaft zur Hilfe. „Dem Vater fiel er in die Hände, der Mutter in die weit ausgebreiteten Arme“, vom Regen in die Traufe. Kann man es besser sagen? Und der Leser hält die Luft an.
Valerie Fritschs blumig-fulminante Sprache steht in krassem Widerspruch zum äußeren Geschehen und gerade das macht den Roman aus; widersprüchlich wie das Leben selber ist der Roman, denn im Schönen ist auch das Schreckliche zu Hause und umgekehrt. Ich mag es, wie sie Substantive personalisiert, „die verlegene Freude“, „die betrunkene Nacht“ – ja, eigentlich ist dies falsch, aber man weiß sofort, was damit gemeint ist. Und ich mag es, wenn ein Autor etwas wagt. Manchmal ist es vielleicht ein wenig zu viel, zum Beispiel sind „blühende Satelittenschüsseln“ für mich zu viel. Aber auch hier stellte das Bild einen Gegensatz dar.
Es passieren Valerie Fritsch auch Formulierungen, unter denen ich mir nichts vorstellen kann, aber das gehört zum experimentellen Schreiben dazu. Die Österreicherin ist auf alle Fälle keine konservative Erzählerin, aber eine charmante.
August erlebt einiges, als er sein Dorf endlich hinter sich lässt und er schlussfolgert schließlich: „Es gab nichts, was es nicht gab, aber es gab vieles, was es nicht hätte geben dürfen, wenn man die Welt für eine schöne halten wollte.“
Warum heißt der Roman „Zitronen“ und kommen diese leuchtend gelben Früchte immer wieder vor? Sie sind Symbole des Gegensatzes, leuchtend schön, prall und voller Leben und in ihrem unmittelbaren Gefolge das Schreckliche und die Auslöschung gesunden Empfindens. Es fällt einem auch sofort das Sprichwort ein "Wenn das Leben dir Zitronen gibt, mach Limonade draus". Wenn das mal so einfach wäre!
Der Roman ist in seinem depressiven Grundton gesellschaftskritisch in sich. Die wegsehenden Nachbarn, die Folgen der Misshandlungen, die Autorin beschreibt es mehr so nebenbei. So nebenbei wie diese Dinge in der Gesellschaft ja auch geschehen. Auch der Mob findet Eingang in den Roman, die Reaktion der Menge. Die Autorin beschreibt eben nicht nur Augusts Leiden, wie es manche Rezensentinnen bemängeln werden, die Autorin verliere den Fokus, nein, ihr Fokus ist die Gesellschaft. Und da ist August nur ein Teil davon.
Letztendlich geht es um Entfremdung. Entfremdung vom Leben. Valerie Fritsch erweist sich mit „Zitronen“ als waschechte Existenzialistin als eine moderne Autorin. Vater und Mutter sind sich selbst entfremdet, „Sie (die Mutter) lebte ein anstrengendes Leben unter dem löchrigen Deckmantel eines unangestrengten Tagesablaufs“, auch der Vater ist sich fremd. Und August, eigentlich ein ganz normales, aufgewecktes Kind wird ein Erwachsener, der sich selbst und dem Leben ohnmächtig und hilflos gegenübersteht, unfähig zur Eigeninitiative, ein ratloser Reagierender. Seine Erziehung wird sich rächen, das Muster sich wiederholen.
Fazit: Dieser Roman hat alle meine Erwartungen übertroffen. Es ist in gewisser Weise ein experimenteller, existentialistischer Roman. Ein echter Deutscher Buchpreisanwärter und auf seine Weise ein kleines Meisterwerk.
Kategorie: Anspruchsvolle Literatur
Suhrkamp Verlag 2024
Eine düstere Familiengeschichte
Es ist eine düstere Welt, in die der Leser versetzt wird. Ein kleines Dorf, abweisend, jeder der Bewohner lebt für sich, es gibt keine Gemeinschaft, und „der eine schlägt seinen Hund, der anderen seine Frau“. In diesem Dorf lebt die Familie Drach, abgelegen, in einem windschiefen und ungepflegten Haus – und in diesem Haus geht es noch düsterer zu als außerhalb. August Drach, der Protagonist, erlebt dort eine Kindheit, die an Düsterkeit und Einsamkeit schwer zu überbieten ist.
Der Vater ist ein unzufriedener Choleriker, der seine Familie tyrannisiert und seinen kleinen Sohn mit unberechenbarer Gewalt und täglichen Demütigungen klein hält, während seine Frau Lilly sich in Traumwelten flüchtet. Sie erwacht aber förmlich zum Leben, wenn sie das geprügelte und hilfsbedürftige Kind umsorgen kann. Als der Vater verschwindet, sorgt sie selber dafür, den Sohn krank zu halten und umsorgen zu können. Nach außen ist sie die fürsorgliche und aufopfernde Mutter, in Wirklichkeit aber führt sie den kränklichen Zustand des Kindes selber gezielt mit Gift und Medikamenten herbei. Sie leidet am sog. Münchhausen-Stellvertreter-Syndrom, das der Autorin offensichtlich vertraut ist und das sie mit Präzision und subtiler Beobachtung schildert.
Diese Gleichzeitigkeit von Grausamkeit und Fürsorge, von Gewalt und Zärtlichkeit erzählt die Autorin in einer nüchternen und distanzierten Sprache, die die erzählten Handlungen noch beklemmender macht. Sie verzichtet auf jede Dramatik, jede Larmoyanz, sie ergreift niemals Partei, sondern sie erzählt in einem fast chronikhaft anmutenden Stil, der durch beeindruckende Metaphern aufgebrochen wird. Dabei lässt sie die Erzählung langsam vorangehen und widmet sich jeder ihrer Figuren mit analytischer Genauigkeit, sodass bedrückende Bilder von Menschen entstehen, die in den „Verkarstungen“ ihrer Seele gefangen sind.
Einziger Lichtblick im buchstäblichen Sinn sind die Zitronen: ein leuchtender Fleck in der dunklen Geschichte. Die Autorin flicht das Symbol der Zitrone immer wieder ein, nie aufdringlich, aber immer aussagestark. Eine besondere Bedeutung kommt dem Symbol zu, als sie von einem Urlaub erzählt in dem Land, wo die Zitronen blühn. Lilly stehen ihre Gifte nicht zur Verfügung, und August blüht auf, er lebt. Das Bild der Zitronen, die „wie Sterne am dunklen Himmel standen“, begleitet ihn sein Leben. Allerdings auch die Säure bzw. die Bitterkeit dieses ambivalenten Symbols.
Fazit: Ein dunkler Roman über einen Menschen, dem es nicht gelingt, sich aus seinen anerzogenen Mustern zu lösen.
4,5/5*