Weltalltage: Roman

Buchseite und Rezensionen zu 'Weltalltage: Roman' von Paula Fürstenberg
4.5
4.5 von 5 (2 Bewertungen)

Inhaltsangabe zu "Weltalltage: Roman"

Format:Kindle Ausgabe
Seiten:309
EAN:

Rezensionen zu "Weltalltage: Roman"

  1. Wie hält Freundschaft Depression und Krankheit stand?

    Weltalltage, das sind die Tage, an denen ihr Schwindel ihr das Gefühl gibt, Zeit und Raum zu verlassen, um sich einer Schwerelosigkeit hinzugeben, die sie als Betroffene bedrohlicher erlebt, als ihre Mitmenschen. Sie kennt Max seit einer gefühlten Ewigkeit. Beide im Osten Deutschlands aufgewachsen, beide Kinder alleinerziehender Mütter. Max‘ Mutter Ingenieurin, ihre Textilpflegerin. Max und sie waren sich einig, wenn sie auf Westkinder hinabsahen.

    Ihr erfandet die Beleidigung Gummistiefelkinder für alle, die behüteter aufwuchsen als ihr und nie nasse Füße hatten. Eure Freundschaft fußt darauf, dass ihr keine Gummistiefelkinder wart und die Löcher in euren Turnschuhen zum symbolischen Beweis eurer Lebenserfahrung erhobt. S.25

    Sie halfen sich gegenseitig, so gut sie konnten. Max schrieb bei ihrem Lexikonwissen ab und sie schaute sich von ihm die Selbstverständlichkeit seines Seins in dieser Welt, seinen Duktus ab, sobal ihre Redeangst sie lähmte, machte sich zunutze wie er in seinem Stuhl saß, frei von jeder Erwartung oder Bewertung. Lag sie mit heftigsten Unterleibschmerzen zuhause, kochte Max ihr etwas zu essen. Und als Ärzte ihr das geliebte Radfahren verboten, baute Max ihr einen Hänger und brachte sie überall hin.

    Als Max Onkel, der vorletzte Mann seiner Familie, freiwillig aus dem Leben scheidet, entsteht ein Ruck in ihm, der ihn nachhaltig erschüttert. Nun glaubt er, dass ein Fluch über der Familie hängt, der alle Männer frühzeitig dahinrafft und nach dieser Logik, konsequenterweise bald auch ihn holen wird. Max trifft zunehmend Entscheidungen, die ihr nicht gefallen. Dann geht er in ein Krankenhaus und verbietet ihr jede Kontaktaufnahme zu ihm, was sie alles infrage stellen lässt. Ihre Freundschaft. Ihre Krankheit. Ihr Selbstbild.

    Fazit: Ich mochte die Sprache von Paula Fürstenberg. Sie hat viele kluge und auch kreativ ausgearbeitete Sätze in dieses Buch gebracht. Der thematische Schwerpunkt liegt auf Freunschaft, Krankheit, Depression, Suizid und was diese Lebensereignisse mit einem selbst und mit anderen machen. Wie finden wir unseren Wert in einer Gesellschaft, die voller Erwartungen an uns ist, die wir nicht erfüllen können? Stellenweise wird ein wenig feministisches Gedankengut eingestreut, was ich nie verkehrt finde. Grundsätzlich hat die Autorin wichtige und interessante Fragen aufgeworfen, von denen ich mich gerne habe inspirieren lassen. Die Perspektive fand ich gewöhnungsbedürftig, weil die Autorin ihre Aufarbeitung mit sich selbst führt und im Du erzählt, also quasi eine Du-Erzählung. Was mir weniger gut gefallen hat, ist die Bezeichnung des Verlages, das Buch als Roman zu deklarieren. Deswegen hatte ich einen Roman erwartet aber es gibt keine durchgehende Geschichte. Allerdings fällt es mir auch schwer, den Text einzuordnen. Vielleicht trifft Essay das Geschrieben eher. Und so hat meine Herangehensweise an das Buch mein Leseglück ein wenig getrübt.

  1. 5
    12. Feb 2024 

    Eine Annäherung über Listen

    Ich sitze hier und versuche mir einen schmissigen Titel für die Rezension zu diesem großartigen Buch einfallen zu lassen. Da „Weltalltage“ von Paula Fürstenberg aber so vielschichtig und im wahrsten Sinne des Wortes „unbeschreiblich“ ist, fällt es mir schwer, einen solchen Titel zu finden.

    Auf der aller obersten, oberflächlichen, inhaltlichen Ebene dreht sich der Roman um die Freundschaft der Erzählerin mit Max. Beide in der DDR kurz vor der Wende geboren und gefühlt schon immer befreundet. Dabei war Max immer der Aufpasser für die Erzählerin, denn diese ist chronisch krank seit der Kindheit, leidet unter anderem an einem medizinisch nicht erklärbaren Schindel, der sie häufig in die Knie zwingt und für sie lebensgefährlich wird, wenn sie z.B. schwimmen gehen will. Das Gefüge zwischen den beiden: Sie die Kranke, Er der Gesunde; bleibt bis sie Dreißig sind so bestehen, bis Max langsam in eine Düsternis abrutscht, die beide nicht schnell genug als eine Depression erkennen. So einfach, so profan. Aber dann kommen noch die anderen Ebenen zum Vorschein.

    So betrachtet Fürstenberg auch den Zusammenhang von Biografien und Erkrankungen mit gesellschaftlichen Rahmenbedingungen. Auf einer soziologischen Ebene begleiten wir Kinder, die in der strukturlosen Nachwendezeit aufwachsen, deren alleinerziehende Mütter überfordert sind und um die existenziellen Grundlagen ihrer Familien kämpfen müssen, wodurch sie fast keine Kapazitäten für die Bedürfnisse ihrer Kinder mehr haben. Diese retten sich durch das Klammern aneinander.

    Und eine Ebene weiter ist Fürstenbergs Roman eigentlich gar kein „richtiger“ Roman, denn er besteht ausschließlich aus Listen. Listen, welche nicht aus reinen Stichpunkten bestehen, aber nach denen der Zettelkasten dieser Freundschaftsgeschichte geordnet ist. Das Buch beginnt mit der „Liste möglicher Anfänge dieser Geschichte“. Wir finden bald heraus, warum hier ertastet werden muss, wie der Anfang der Freundschaft zustande gekommen ist. Denn die Erzählerin ist Schriftstellerin, Max ist Architekt. Die Schriftstellerin versucht ein Buch zu schreiben und muss ihre Ideen und Gedanken irgendwie zusammenbringen. Dies gelingt ihr durch Listen. So kommt die „Chronik einiger Verletzungen, die ihr euren Müttern zufügt“ ebenso vor wie ein „Amtliches Verzeichnis einiger Gespräche zwischen Max und dir, die im Nachhinein betrachtet nicht so optimal gelaufen sind“. Anhand dieser übergeordneten Punkte ergibt sich mehr und mehr ein tiefgründiges Bild nicht nur dieser besonderen Freundschaft, sondern auch der Biografien der Figuren, deren Befindlichkeiten und Sorgen.

    Weiterhin enthält dieses Buch fast essayistische Passagen, in denen Krankheitsentstehung, die Wahrnehmung von Krankheit in der Gesellschaft, Diagnoseodysseen, die misogyne Medizingeschichte, Krankheit als Metapher in literarischen Texten usw. erforscht werden. Hier werden viele konkrete Zitate eingebunden, die im Anhang des Buches durch ein entsprechendes Literaturverzeichnis unterlegt werden.

    Und auf einer Metaebene beobachten wir auch die Figur der fiktiven Schriftstellerin dabei, wie sie diesen Roman, den wir hier in Händen halten, überhaupt erst entwirft. Wie sie gegen Wände rennt, wie sie mit Max verhandeln muss, ob Passagen über ihn im Buch vorkommen dürfen, wie sie eine erzählerische Stimme findet: „Dies ist auch die Geschichte eurer Freundschaft und die begann 1999 in der siebten Klasse. Da hast du noch keine Selbstgespräche in der zweiten Person geführt, da hast du noch ich gesagt, wenn du ich meintest.“ Denn der Text ist vollständig in der Du-Form verfasst. Da muss man sich erst einmal zu Beginn des Buches hineinfinden, aber nach der Eingewöhnungszeit passt diese etwas distanzierte Form perfekt, wird mensch beim Lesen doch dadurch auch immer mit angesprochen.

    Und auch wenn das alles jetzt unglaublich überkonstruiert klingt, ist es das dann bei der Lektüre gar nicht so sehr. Alles fließt wunderbar dahin, alles greift ineinander und ergänzt sich, lässt sich wunderbar lesen. Der Text ging mir an vielen Stellen ganz nah, entlockte mir immer wieder Tränen. Dieses Buch ist ein „Ja genauso ist/war es“-Buch für Menschen mit chronischen Erkrankungen, mit Ärzt:innenodyssee, mit „Migrationshintergrund“ aus dem nicht mehr existenten Staat DDR, eine Migration, für die man nicht einmal umziehen musste, und mit vielem mehr in ihrem Erlebnishorizont. Und es ist ein Buch für Menschen, die zwar all diese Erfahrungen nicht gemacht haben, aber die es besser verstehen wollen, wie es sich damit anfühlen kann.

    Für mich persönlich stellt dieses Werk von Paula Fürstenberg ein wahres Highlight dar. Ein Roman, den ich in dieser kreativen Form und mit so eindringlich und authentisch vermittelten Inhalten noch nie gelesen habe. Ich bin restlos begeistert und ich weiß, egal, was ich hier schreibe, es wird sowieso weder dem Roman noch meiner Begeisterung gerecht, die ich beim Lesen empfunden habe.

    Deshalb:

    10/5 Sterne… nein natürlich 5/5 Sterne, geht ja nicht anders. ;)