Sommerwasser: Roman

Buchseite und Rezensionen zu 'Sommerwasser: Roman' von Sarah Moss
4.4
4.4 von 5 (13 Bewertungen)

Inhaltsangabe zu "Sommerwasser: Roman"

Der Regen trommelt auf den schottischen See, schluckt das Licht des langen Sommertages und lässt die Pfützen brodeln. Hinter den Fenstern der wenigen Ferienhütten bleibt kaum etwas zu tun, als die Nachbarn zu beobachten. Während die Stunden fast unmerklich vergehen, formen die Urlaubsgäste aus flüchtigen Eindrücken ihr Urteil. Über die Mutter, die bei Tagesanbruch in ein paar kostbare Stunden Einsamkeit flüchtet. Den Jungen, der den windgepeitschten See seinen nervtötenden Eltern vorzieht. Und vor allem über diese eine Familie mit dem komischen Nachnamen, die hier einfach nicht hingehört. Mit Witz und Einfühlungsvermögen erzählt Sarah Moss von der menschlichen Fähigkeit zu Grausamkeit und Güte.

Autor:
Format:Kindle Ausgabe
Seiten:200
Verlag: Unionsverlag
EAN:

Rezensionen zu "Sommerwasser: Roman"

  1. Es regnet, es regnet...

    Sommer 2023 in NRW beim Familienbesuch. Mein Bruder stellte für diesen Sommer einen beheizten Pool auf, dessen Nutzung Groß und Klein freudig entgegenblickte. Doch dann kam der Regen und es regnete, regnete und regnete. Die Stimmung trübte sich entsprechend, denn was macht man bei sommerlichen Dauerregen? Man drückt sich die Nase an der Fensterscheibe platt. Mit Glück passiert dann ein wenig, was die Aufmerksamkeit catched, doch allzu oft hängt man trübselig den Gedanken nach, was man eigentlich gerne an diesem Sommertag Tolles gemacht hätte...

    Sarah Mosse thematisiert in ihrem neuesten Roman mit dem Titel "Sommerwasser", wie endlos dahin plätschernder Dauerregen auf das Gemüt drückt. Schauplatz ist Schottland. In mehreren Ferienhütten harren die Sommergäste dort der Dinge. Sie wissen bei dem trostlosen Wetter nichts mit sich anzufangen und so beginnen sie die Nachbarn zu beäugen. In 12 Kapitel präsentiert uns Mosse verschiedene Protagonisten: mehr oder weniger (un)glückliche Paare, Heranwachsende, Kinder. Wir blicken durch die besondere Konstruktionsweise der Geschichte quasi wie durch ein Fenster kurz in ihr Leben herein, erfahren, was sie bedrückt; wo im Leben der Schuh drückt. Manch einer ist aus dem Rhythmus gekommen. Mosse erzählt auch viel von der Natur und gibt Gesellschaftskritik zum Beispiel in Form des Nachdenkens über Rassismus einen gebührenden Raum. Währenddessen regnet es ohne Unterlass, und das Geschehen in den schottischen Ferienhütten plätschert so vor sich hin. Bis halt zum Ende, wo die Autorin so richtig überrascht.

    Ein typischer gute Laune- Sommerroman ist dies sicher nicht. Habe ich das Buch gerne gelesen? Irgendwie ja, und auch irgendwie nein. Es ist ein schmales Bändchen, dennoch hatte ich aber das Gefühl, irgendwie auf der Stelle zu treten, nicht voranzukommen. Erst gegen Ende nahm die Geschichte an Fahrt auf. An sich finde ich die Geschichte jedoch klug durchdacht und gut aufgebaut. Gefallen haben mir auch gesellschaftskritische Einschübe. Begeistern konnte ich mich trotz des gelungenen Endes nicht für dieses Buch, aber dennoch würde ich anderen Werken der Autorin gerne noch mal eine Chance geben.

  1. Keine vergnügliche Auszeit

    Es ist Urlaubszeit, doch in einer Ansammlung von Ferienhäusern an einem schottischen See herrscht Dauerregen. Zwölf Personen halten sich hier mit ihren Familien auf. Eine Mutter und ihre Tochter erregen besonders Aufmerksamkeit.

    „Sommerwasser“ ist ein Roman von Sarah Moss.

    Meine Meinung:
    Der Roman setzt sich aus 12 Kapiteln zusammen, die sich mit ebenso vielen kurzen Zwischenkapiteln abwechseln. Erzählt wird im Präsens aus der Perspektive unterschiedlicher Personen. Die Handlung erstreckt sich im Wesentlichen über 24 Stunden. Der Aufbau ist komplexer und geschickter konstruiert, als es auf Anhieb erscheinen mag.

    Der Schreibstil ist sehr atmosphärisch. Die Sprache ist zum Teil bildstark und eindringlich. Gut gefallen hat mir auch, dass bei den verschiedenen Perspektiven sprachlich differenziert wird.

    Die Charaktere wirken lebensnah und verfügen über psychologische Tiefe. Ihre Innenwelt, die viel Raum erhält, wird sehr gut deutlich. Mit wenigen Beschreibungen werden die Figuren hinreichend intensiv dargestellt.

    Inhaltlich ist der Roman vielschichtig, aber auch recht düster. Es geht um zwischenmenschliche Probleme und Konflikte, um menschliche Abgründe.

    Trotz der nur knapp 200 Seiten habe ich den Roman stellenweise als langatmig empfunden. Erst im letzten Drittel konnte mich die Geschichte richtig fesseln. Darin spielt die Autorin ihr schriftstellerisches Können aus und überrascht mit einem furiosen Finale, bei dem sich die Zusammenhänge und raffinierten Verbindungen offenbaren.

    Der deutsche Titel ist eine wortgetreue Übersetzung aus dem Original („Summerwater“). Auch das stimmungsvolle, aber unaufgeregte Cover gefällt mir.

    Mein Fazit:
    „Sommerwasser“ von Sarah Moss ist ein ungewöhnlicher und anspruchsvoller Roman, der einiges zu bieten hat, leider jedoch erst recht spät zündet.

  1. 4
    20. Aug 2023 

    Dauerregen...

    Eine Feriensiedlung an einem schottischen Loch, alte Holzhütten, die ihre beste Zeit schon hinter sich haben, und doch könnte es ein ruhiger und erholsamer Urlaub sein, würde es nicht schon seit Tagen ohne Unterlass regnen. Der Dauerregen schlägt auf die Stimmung, zermürbt die Urlauber, man hockt in der Enge der Häuser aufeinander ohne die üblichen Outdoor-Aktivitäten, noch nicht einmal die Handys haben Empfang.

    Jedes Kapitel widmet sich einem anderen Feriengast, begleitet ihn ein Stück durch den Tag, nimmt teil an seinen Gedanken und Empfindungen. Eine Lebensunzufriedenheit unterschiedlichen Ausmaßes begegnet einem da in dieser Feriensiedlung - und der Dauerregen stellt Beziehungen jedwelcher Art auf die Probe. Jeder flüchtet hier vor irgendwas, zieht die Einsmkeit der Zweisamkeit vor. Und beobachtet so ganz nebenher auch die Menschen in den benachbarten Blockhütten.

    Eingelullt und fast genervt war ich von all den gelangweilten, schlecht gelaunten, miesepetrigen, negativen Gedanken der Bewohner der Feriensiedlung. Und doch konnte ich mich der gedrückten Atmosphäre nicht entziehen, die Sarah Moss hier kreiert - düster und mit dem Gefühl einer zunehmenden Bedrohung. Das Prinzip von Andeutungen und Auslassungen trägt sicherlich dazu bei.

    Neben den Charakterzeichnungen (oft mit wenigen Pinselstrichen hingeworfen und dabei unglaublich treffend skizziert) haben mich auch die bildhaften Naturschilderungen beeindruckt, die oftmals ebenfalls düster ausfallen. Der Schreibstil ist ruhig und gesetzt, stellenweise fast poetisch: "Er schenkt ein, von weiter oben als nötig, bewundert die Form der fallenden Flüssigkeit und den sich ringelnden Dampf, die Drinnen-Variante des Nebels zwischen den Bäumen." (S. 29) Dann wieder ist die Ausdrucksweise unvermittelt so harsch, dass man fast zusammenzuckt.

    Wie gelungen dieser Roman konstruiert ist, entpuppt sich erst ganz am Schluss - das Ende hat definitiv einen "Wow"-Charakter. Und der letzte Satz: Gänsehaut! Keinesfalls eine erbauliche Sommerlektüre. Aber ein klug konzipiertes psychologisches Kammerspiel, das mich letztlich sehr für sich einehmen konnte.

    © Parden

  1. Der Regen geht aufs Gemüt

    Der Regen geht auf das Gemüt

    Schottland wird ja oft nachgesagt, dass es dort sehr trüb und regnerisch sein soll. In "Sommerwasser" scheint der Regen gar nicht aufhören zu wollen. Er legt sich auf das Gemüt aller Urlauber, die in der Ferienhaussiedlung ein paar Tage Erholung gesucht haben.
    Die Autorin widmet sich jeder Person aus dieser Anlage und schafft es so, dass der Leser die Probleme, Sorgen und Ängste der Menschen aus verschiedenen Blickwinkel betrachten kann. Viele dieser Menschen haben lediglich Alltagsprobleme, als Leser findet man sich sicher in der ein oder anderen Geschichte wieder.
    Doch sie baut auch eine unheimliche Spannung auf, weil sie vieles nur anreißt und nicht zu Ende erzählt. Lange bleibt so zum Beispiel der Ausgang eines morbiden Spiels unklar, es bleibt dem Leser überlassen sich das Hirn zu zermartern, auf weitere Hinweise zu warten, um näheres zu erfahren.

    Die Autorin zeigt bei ihren einzelnen Passagen ein gutes Gespür für die jeweiligen Hauptakteure. Dabei ist es egal, ob es sich dabei um eine an Demenz erkrankte alte Frau oder um einen Teenager handelt. Sie zeigt auf, wie schwer es für Mütter sein kann auch mal an sich zu denken und die Ruhe, wenn sie möglich ist, dann auch für sich zu nutzen.
    Aus diesen ganzen Elementen kommt es dann am Ende zu einer Wendung, die mich sehr überrascht hat. Es gipfelt in eine Katastrophe und auch dort kann man als Leser dann wieder beobachten wie unterschiedlich Menschen sind. Man erkennt, dass Menschen ganz anders agieren als man erwartet hat. Beim lesen der vorherigen Kapitel hat man sich ein Bild gemacht, meint die Menschen und deren Beweggründe zu kennen, doch ich habe mich in vielen Aspekten geirrt. Menschen, die sonst zerbrich sind, können in einer Krise stark sein. Kinder, die man für harmlos und unschuldig hält, müssen dies nicht immer sein…..

    Ich habe mich absichtlich bedeckt gehalten bezüglich der einzelnen Geschichten und deren Inhalte, da es, denke ich, dass reizvolle an diesem Roman ist, sich dies Geschichte für Geschichte selbst zu erarbeiten.
    Mir hat der Roman sehr gut gefallen, aber auch wenn der Titel fast an eine Sommer oder Urlaubslektüre denken lässt, sollte man keine erwarten.

  1. 5
    15. Aug 2023 

    Ein verregneter Urlaubstag voller Abgründe

    Es regnet ohne Unterlass. So haben sie sich ihren Sommerurlaub nicht vorgestellt, die Bewohner der Häuschen in einer Ferienanlage an einem schottischen See.
    Trotzdem läuft Justine frühmorgens los, noch bevor Ehemann Steve und die beiden Jungs aufwachen. Beinahe zwanghaft absolviert die Mittvierzigerin ihre Runde, wohlwissend, dass ihr aus medizinischen Gründen davon abgeraten wurde.
    Beobachtet wird sie dabei von David, einem pensionierten Arzt, der wie jeden Tag draußen auf der Terrasse seinen Tee trinkt. Er kommt schon seit langer Zeit hierher. Noch bevor die Ferienanlage überhaupt existiert hatte, haben er und seine Frau sich hier ein Häuschen gekauft. Mittlerweile sind sie sowie die ganze Anlage in die Jahre gekommen, nicht alles ist mehr so richtig in Schuss. Bei Ehefrau Mary häufen sich die Anzeichen für eine beginnende Demenz.
    Das junge Pärchen Milly und Josh dagegen lässt sich vom Regen nicht stören. Ist der doch ideal, um sich im Bett zu vergnügen.
    Für Familien mit Kindern aber wird so ein verregneter Urlaub zu einer Nervenprobe. Eine leicht depressive Mutter schickt deshalb ihre Tochter Lola und den jüngeren Sohn Jack zum Spielen runter an den See. Doch was soll man hier schon tun? Vielleicht das ausländisch aussehende Mädchen ärgern?
    Für Teenager ist es besonders öde, denn nicht mal ein funktionierendes WLAN gibt es hier. Alex macht sich mit seinem Kajak auf zum See und überschätzt dabei seine Kräfte und Becky zieht los, um den fremden Soldaten im Wald zu besuchen.
    Wie in einem Kammerspiel lässt die schottische Autorin hier unterschiedlichste Menschen aufeinandertreffen. Dabei gibt es aber kaum Interaktion zwischen ihnen. Man beobachtet einander aus dem Fenster heraus, weniger aus Interesse denn aus Langeweile. Das permanent schlechte Wetter schlägt allen auf das Gemüt. Die Stimmung wird zusehends gereizter. Gestresste Mütter, Väter, die ins nahegelegene Pub flüchten, nörgelnde Kinder. Einig sind sich aber die meisten darüber, dass die Gruppe Osteuropäer - Rumänen oder Ukrainer, was auch immer - stört mit ihren nächtlichen Partys, mit dem Musiklärm bis in die Frühe.
    Kapitelweise wirft die Autorin einen Blick in insgesamt sechs Ferienhäuschen und schreibt aus der Sicht jeweils einer Figur. Ungefiltert bekommt der Leser deren Gedanken und Gefühle mit und erfährt dabei viel über den jeweiligen Hintergrund. Das ist nichts Spektakuläres, eher eine Unzufriedenheit mit der aktuellen Situation. So wie bei Justine, bei der man sich fragt, wovor sie davonläuft.
    Die kurzen Einblicke sind mal bewusst komisch, so z.B. wenn man von Millys abschweifenden Gedanken beim Sex erfährt, dann wieder traurig, so bei der immer vergesslicher werdenden Mary. Aber auch erschreckend, was Steve so von sich gibt, wenngleich er betont, er sei kein Rassist.

    In den insgesamt zwölf Kapiteln lässt sie jeweils zwei Figuren aus den sechs Feriendomizilen zu Wort kommen. So werden die Beziehungskonstellationen von zwei Seiten beleuchtet. Der Leser setzt so sein Gesamtbild zusammen aus den Gedanken und Handlungen der Protagonisten und den z. T. wenig freundlichen Bemerkungen, die sie übereinander machen.
    Einzig das Häuschen der Ukrainer bekommt keine eigene Erzählstimme. Dessen Bewohner werden nur von außen betrachtet. Dadurch wird deren Außenseiterrolle noch stärker verdeutlicht.
    Sarah Moss vermag es, jeder Erzählstimme einen unverwechselbaren Ton zu geben. Es gelingt ihr dabei z.B. die Ängste eines kleinen Kindes genauso glaubwürdig darzustellen wie die Überlegungen des alten Arztes.
    In kleinen Nebensätzen bringt die Autorin auch immer wieder ihre gesellschaftspolitischen Ansichten zur Sprache, so z.B. zu Umweltthemen oder dem Brexit, ohne dass dies aufgesetzt oder störend wirkt.
    Zwischen den einzelnen Kapiteln finden sich kurze, z. T. rätselhafte Texte, die in poetischer Sprache Natur und Tierwelt beschreiben. Diese steigern zusätzlich die zunehmend bedrohlichen Stimmung, die sich in einem unerwarteten Finale entlädt.
    „ Sommerwasser“ ist eine atmosphärisch aufgeladene, kritische und gleichsam unterhaltsame Gesellschaftsstudie, ein etwas anderer Sommerroman, böse und witzig zugleich.

  1. Vielschichtiges und multiperspektivisches Meisterwerk

    Sommer, Sonne, Sonnenbrand – überall fröhliche Gesichter, Menschen in kurzen Klamotten, Kinder mit Eiscreme befleckten T-Shirts…Überall? Nein, ein kleiner schottischer Loch wehrt sich mit aller Macht gegen die „Übermacht“ des glühenden Balls am Himmel und präsentiert den kurzzeitigen Bewohner:innen der an seinem Ufer gelegenen Ferienhaussiedlung lieber (Dauer-)Regen. Das drückt schon mal aufs Gemüt und finstere Gedanken brechen sich Bahn…

    Was sich hier so locker liest, ist für die Protagonist:innen in Sarah Moss´ Roman „Sommerwasser“ (erschienen im Unionsverlag und – wie ich finde – kongenial übersetzt von Nicole Seifert) mehr oder weniger ein Alptraum.

    In den Ferienhütten am nicht näher benannten, aber in der Nähe des Ben Nevis verorteten Lochs in Schottland verbringen Familien mit Kindern, junge und alte Paare ihren Sommerurlaub. Wobei allen die Urlaubsstimmung mehr oder weniger durch den Dauerregen vergeigt wird.

    Da haben wir die sportlich (zu) ehrgeizige Mutter, die vor allem vor sich selbst und ihrem Mann wegrennt. Ein Arzt, dessen Frau an zunehmender Demenz leidet und ein junges Pärchen, dem die Leser:innen beim Sex über die Schulter schauen (wer´s mag…). In der multiperspektivisch angelegten Erzählung kommen also die „kleinen“ Leute zum Sprechen bzw. zum Denken. Es gibt jedoch nicht nur (aufschlussreiche) Innenansichten der Erwachsenen, sondern auch überzeugende Kinder- und Jugendlichenstimmen, die einem ihre Sicht der Dinge darlegen. Das Ganze endet nach nur 182 Seiten in einem furiosen Finale, das nicht vorauszusehen war (es sei denn, man kombiniert bereits beim ersten Lesen die versteckten Hinweise *g* - nein, ich habe es nicht gemacht ha ha ha!).

    Verbindendes Glied der einzelnen Erzählstimmen sind poetische Betrachtungen über die Natur und die Tierwelt, die – wen wundert´s? – vieles besser und intelligenter „organisiert“ als die Spezies Mensch. Gleichzeitig erzählen sie (versteckt) von den unmittelbar folgenden menschlichen Perspektiven. Mich hat der Aufbau dieses schmalen, aber nicht „leichtfüßigen“ Buches absurderweise an eine vor Jahren veröffentlichte CD meiner Lieblingsband erinnert, obwohl beides weder thematisch noch ortsmäßig zusammenhängt. Egal...

    In jedem Fall ist es Sarah Moss gelungen, ein vielschichtiges Meisterwerk zu komponieren, äh zu schreiben, dass sich als „Wiederholungstäter“ wunderbar eignet und dem ich aufrichtig eine absolute Leseempfehlung mit auf den Weg gebe.

    5*/5*

    ©kingofmusic

  1. 4
    07. Aug 2023 

    Spannendes Nichtstun im schottischen Regen

    Es sind Sommerferien, aber es fühlt sich gar nicht so an. In einer Feriensiedlung irgendwo im Wald an einem See (auf Schottisch auch noch so klangvoll „Loch“ genannt) langweilen sich Feriengäste in ihren etwas heruntergekommenen Ferienhäusern bei permanentem Regenwetter. Sie vertreiben sich die Zeit mit … den kleinen Konflikten, die hier der Regen an die Oberfläche spült, oder sie geben sich dem Nichtstun hin, beobachten die Nachbarn oder es treibt sie doch einmal hinaus in die nasse, graue Landschaft rund um die Siedlung. Oder versuchen sogar Spaß zu haben und trotz Regens Party zu machen.
    Sarah Moss beschreibt diese Situation und Stimmung in einer Art und Weise, dass man die Langeweile der Feriengäste als spannendes und intensives Leseerlebnis aufnehmen kann und das titelgebende „Sommerwasser“ gleichsam zu hören und zu fühlen meint.
    Die Figuren in den Geschichten, die im Verbund diesen „Roman“ ergeben und tatsächlich eine Einheit zu schaffen vermögen, sind ganz bewusst normale Menschen mit ihren kleinen Konflikten in Ehen und Familien und in der Beurteilung des Anderen, das für einige Wochen des Jahres gleich nebenan in der Nachbarhütte seine Zeit verbringt.
    Sommerwasser entführt seine Leser in ein Schottland, dessen spektakuläre Landschaften irgendwo da draußen sind, aber von diesem speziellen Ort in Schottland weit entfernt scheinen. Und doch vermag es Sarah Moss eine schottische Stimmung zu gestalten und wiederzugeben, die dem Leser das Land sehr nahebringt.
    Der Zauber des Buches ist für mich sehr schwer zu beschreiben. Aber er ist unzweifelhaft vorhanden und schlägt den Leser in seinen Bann. Das liegt ganz sicher an der treffsicheren Sprache von Sarah Moss und der gekonnten Übersetzung durch Nicole Seifert.

  1. Es regnet dicke Tropfen

    Einen Sommerroman der anderen Art legt Sarah Moss in der gelungenen Übersetzung von Nicole Seifert hier vor: Eine idyllische schottische Landschaft, eine Siedlung mit romantischen Holzhäuschen direkt am See gelegen. Viele Urlauber unterschiedlichen Alters verbringen ihre Ferien hier. Doch etwas Zentrales stimmt nicht: die Wetterlage. Obwohl formal Hochsommer, regnet es ohne Unterlass. Die Feuchtigkeit steigt in jede Ritze, der Nebel will sich kaum lichten. Das entspricht nicht den Erwartungen und schränkt die Freizeitmöglichkeiten der Urlauber enorm ein, die nun auf engem Raum die Tage verbringen müssen. Die Nerven liegen zum Teil blank, Konflikte schwelen.

    Der Roman besteht aus zwölf Kapiteln, in denen jeweils ein Urlauber in personaler Erzählperspektive über seine Erlebnisse, Gedanken oder Erinnerungen berichtet. Dadurch erhält man Einblicke in die Familien- oder Beziehungskonstellationen, die wettertechnisch gerade besonderen Herausforderungen ausgesetzt sind. Eine unzufriedene Mutter entflieht der Familie ins Joggen, eine andere andere ins Putzen, eine weitere in die Depression. Wie kommen deren Kinder damit klar? Eine alte Dame ist demenzkrank. Was bedeutet das für sie und ihren Mann? Ein junges Paar nutzt die Regentage, um den gemeinsamen Sex zu optimieren – selten habe ich solch vergnügliche Sexszenen gelesen!

    Die Gemengelage der Probleme und Befindlichkeiten sind in jedem Haus anders gelagert. Hinzu kommen die Beobachtungen der Nachbarschaft. Es finden zwar nur wenige persönliche Begegnungen statt, aber man hört und sieht sich, man denkt übereinander nach – nicht immer nur Positives. Ein kollektives Ärgernis sind dabei die vermeintlichen Rumänen, die jede Nacht mit lauter Musik und viel Alkohol feiern, so dass die Nachtruhe massiv gestört wird. Hinzu kommen die leisen Zwischentöne und das Ungesagte, das der aufmerksame Leser wahrnimmt. Im Zuge des Romans komplettiert sich das Bild über die Schicksalsgemeinschaft immer mehr. Man spürt, dass etwas Schlimmes passieren könnte, kann nur lange nicht zuordnen, aus welcher Richtung es sich anbahnt. Jedem Kapitel ist zudem ein kurzes Vorwort vorangestellt, das sich mit der Tier- und Pflanzenwelt am See befasst und mit seinem unheilvollen Ton auf das Kommende einstimmt. Von Beginn an wabert eine undefinierbare Bedrohungslage durch den Text, die für Spannung sorgt.

    Es gelingt Sarah Moss hervorragend, jedem Charakter eine eigene, individuelle Tonlage zu geben. Der pubertierende Teenager klingt völlig anders als das jung verliebte Paar, der Arzt im Ruhestand unterscheidet sich von der überforderten Mutter usw.. Die Autorin fühlt sich sehr tief in ihre Figuren ein, auch kindliche Sichtweisen werden völlig glaubwürdig dargestellt. Stereotype werden vermieden. Jeder Charakter besteht aus vielen Facetten und ist psychologisch so gut durchdacht, dass man Verständnis für die jeweilige Situation aufbringen kann. Da aus den meisten Häusern jeweils zwei Stimmen zu Wort kommen, bekommt man schlussendlich ein umfassendes Bild der jeweiligen Lebenssituation, muss dadurch aber auch bereits gefasste Meinungen zum Geschehen revidieren. Der Roman besitzt eine starke kriminalistische Note. Völlig unaufdringlich fließen auch Umweltthemen und Gesellschaftskritik in die Handlung ein, so dass man spürt, dass das Geschehen in der Gegenwart angesiedelt ist. Der ein oder andere mag eine gewisse Zeit brauchen, um sich an das Episodenhafte zu gewöhnen. Doch immer stärker greift ein Rad ins andere, so dass man eine Ahnung bekommt, worin der Kern der Geschichte liegt. Fährten werden gelegt und wieder verworfen… Der finale Showdown läuft einem Krimi den Rang ab und dürfte jeden Leser kolossal überraschen!

    Die authentischen Erzählstimmen haben mich von Beginn an fasziniert, die trostlose Kulisse sorgt für fortwährende Dramatik. Die kunstvolle, ausgewogene Konzeption dieses Romans, dessen Ende mich total begeistert hat, überzeugt mich restlos. Ich empfehle das Buch allen Lesern, die Interesse für Zwischenmenschliches, für Kriminalistisches und Gesellschaftliches mitbringen. „Sommerwasser“ ist ein Highlight, das man sich nicht entgehen lassen sollte.

    Riesige Leseempfehlung!

  1. Raffiniert konstruierter Episodenroman um einen verregneten Urla

    Eine heruntergekommene kleine Holzhaus-Feriensiedlung an einem schottischen Loch, abgelegen, einsam. Es könnte schön sein, wenn es nicht ununterbrochen regnen würde. Die erzwungene Isolation bringt einige schwelende Konflikte zutage, von denen wir im Gedankenstrom der Person in einem jeweils eigenen Kapitel erfahren.

    Die Ferienhausbewohner muten wie ein Querschnitt durch die Gesellschaft an: das junge Pärchen beim Sex, die Familie mit kleinen Kindern und überforderter Mutter, pubertäre Kinder, die eigentlich gar nicht dort sein wollen, der alte Arzt im Ruhestand mit seiner kranken Frau – und auch Außenseiter. Es sind Ukrainer, die abends Party machen und die Nachtruhe der anderen stören sowie ein geheimnisvoller illegaler Camper in einem Zelt am Waldrand.

    Kommunikation gibt es so gut wie keine zwischen den Bewohnern, lediglich zufällige Beobachtungen und kleine Wortwechsel. Innerhalb der Familien scheint man sich auf die Nerven zu gehen, keiner spricht seine wahren Gedanken aus und einige versuchen, auf die ein oder andere Art ein wenig Zeit für sich alleine zu finden.

    Mit den ungeordneten Gedankenströmen dieser Menschen gehen wir als Leser mit und beobachten sie an diesem langweiligen Regentag. Unterbrochen wird dieses ein wenig dahinplätschernde Denken durch rätselhafte Zwischenkapitel, meist Naturbeschreibungen, zwar poetisch, aber nicht idyllisch, sondern im Gegenteil unterschwellig bedrohlich wirkend. So kommt dann doch Spannung in diesen verregneten Urlaubstag und den Leser beschleicht ein Gefühl nahenden Unheils.

    Kleine Sätze gesellschaftskritischer Art sind wie zufällig eingestreut: Brexit, Klimaveränderung, Urlaub als selbst gewählte Isolation, etc., werden aber nicht weiter thematisiert.

    Erneuter Krach von dröhnenden Bässen aus dem Ferienhaus der Ukrainer erbost die genervten Anderen, die auf die unterschiedlichste Art reagieren. Nun ergeben sich doch Kontakte zwischen den Urlaubern, aber leider eskaliert die Angelegenheit und das, was im Buch immer wieder – mehr oder weniger versteckt – angedeutet wurde, wird wahr. Der unerwartete Höhepunkt wirkt ein wenig verstörend und mit so einem Schluss hat sicher nicht jeder gerechnet, obwohl sich die Anzeichen verdichteten.

    Fazit

    Ein leicht lesbarer Episodenroman, der auf den zweiten Blick vielschichtiger und komplexer ist, als man denkt und der durch seine raffinierte Konstruktion besticht.

  1. Still und starr ruht der See

    Da ist Justine, die morgens um 5 Uhr aufsteht, um sich den Kopf freizulaufen und um sich zumindest mal ein wenig von ihrem Mann Steve zu entfernen. Da sind Lola und Jack, zwei gelangweilte Kinder, deren depressive Mutter viel zu sehr mit sich und ihrem Unglück beschäftigt ist, um sich um die beiden zu kümmern. Da ist Alex, ein pubertierender Jugendlicher, dem die Eltern peinlich sind und der sich trotz des schlechten Wetters lieber mit dem Kajak aufmacht, um ganz allein bei sich zu sein. Und da sind der pensionierte Arzt David und seine Frau Mary, deren Demenz immer offensichtlicher wird. Sie alle eint dieses völlig verkorkste Wetter an einem schottischen See, die Langeweile in ihrer jeweiligen Hütte und der Ärger über die fremde Familie, in deren Haus abends immer und immer wieder laute Musik lärmt. Und sie alle sind die Hauptfiguren in Sarah Moss' neuen Roman "Sommerwasser", der in der deutschen Übersetzung von Nicole Seifert jüngst im Unionsverlag erschienen ist.

    Wobei das nur die halbe Wahrheit ist. Denn eigentlich sind alle genannten Personen und der Rest des umfangreichen Ensembles nur Nebenfiguren. Protagonist ist zweifelsohne das Wasser, oder besser gesagt der Regen. Unaufhörlich prasselt er auf den schottischen See und die dazugehörige Natur hernieder. Wer also beim Titel des Romans an einen beschaulichen Sommerurlaubs-Roman denkt, der sei gewarnt. Denn hinter dem Wasservorhang befindet sich der ein oder andere menschliche Abgrund.

    EIn großer Vorzug des Romans ist, wie nah sich die Autorin an ihre Charaktere heranwagt. Moss nimmt die Leser:innen mit in die Köpfe der Figuren und zeigt mit großer Präzision die Gedankengänge auf, die mal mehr, mal weniger interessant sind. Stark beispielsweise, wie intensiv man den Fluchtwunsch der Läuferin Justine fast am eigenen Leib spürt oder wie verworren und gleichzeitig äußerst realistisch einen die Gedankengänge der demenzkranken Mary berühren. Andererseits gibt es das Pärchen Josh und Milly, dessen Hauptanliegen ein gemeinsamer Orgasmus zu sein scheint und das doch eher ein wenig belanglos oder gar überflüssig erscheint.

    Sprachlich setzt Sarah Moss immer wieder auch auf poetische Vergleiche, die ihr besonders gut gelingen, wenn sie in kleinen Zwischenstücken die Auswirkungen des Regens auf die Natur und ihre Bewohner beschreibt. In den zwischenmenschlichen Beziehungen wirken die Sprachspiele manchmal ein wenig aufgesetzt und zünden dementsprechend nicht immer. Als störend habe ich vor allem zu Beginn die fehlenden Anführungszeichen in der direkten Rede empfunden, denen außer einem gewissen Manierismus keine Funktion zukommt. Außerordentlich originell ist das übrigens auch nicht, weil man es mittlerweile schon ziemlich häufig gelesen hat.

    Während das erste Drittel des Buches im wahrsten Sinne des Wortes auf der Handlungsebene ein wenig dahinplätschert, gewinnt es mit einem plötzlichen Spannungsbogen mit zunehmender Dauer immer mehr hinzu. Konkret geht es um das Mädchen Violetta, welches in der Hütte wohnt, die die anderen Bewohner:innen als störend empfinden. Was als Spiel beginnt, endet für das Kind in einer außerordentlichen Bedrohung. Klug spielt Sarah Moss hier mit politischen und gesellschaftlichen Themen wie der Angst vor dem Fremden, aber auch dem Brexit und konkretem Rassismus. Während die einzelnen Perspektiven zuvor noch recht beliebig wirkten, erhalten sie außerdem mit zunehmender Dauer ihre jeweilige Berechtigung.

    Und so nähert sich "Sommerwasser" seinem dramatischen Höhepunkt, einem wahrlich überraschenden und in jeder Hinsicht spektakulären Finale, still und heimlich, aber mit immer größer werdender Intensität.

    "Sommerwasser" von Sarah Moss ist ein leiser, atmosphärischer Episodenroman, der zwar nicht über seine gesamten 180 Seiten gleichermaßen überzeugt, die Leserschaft aber dafür ungläubig staunend und berührt mit seinem sehr gelungenen Finale und der zuvor aufgebauten Spannung zurücklässt. Ein Roman, der gerade wegen des vermeintlich schlechten Wetters andererseits zudem große Lust macht: auf den Regen, aber auch auf weitere Werke von Sarah Moss.

  1. 5
    31. Jul 2023 

    Episoden eines verregneten, schicksalhaften Sommertags

    Wer denkt beim Wort „Sommerwasser“ schon an einen verregneten Urlaub in einer Ferienhaussiedlung an einem schottischen Loch (See)? Bei unserem derzeit (zum Glück!) verregneten Sommer hier in Mitteleuropa ist dieses Szenario vielleicht sich gar nicht so schwer vorzustellen. Aber wem es an Vorstellungskraft fehlt, der wird durch diese großartige Geschichte von Sarah Moss und ihren unbestechlichen Schreibstil definitiv abgeholt und mitgenommen in die Highlands.

    Sieben alte, morsche Holzhäuschen gehören zur kleinen Feriensiedlung, in der der Roman von Moss angelegt ist. Sie werden von jungen und alten Paaren sowie von Familien mit noch ganz kleinen Kindern oder schon fast ganz ausgewachsenen Teenagern bewohnt. Während sich die Handlung über nur einen Sommertag hinweg erstreckt, tauchen wir ganz tief in die Geschehnisse dort ein und schauen fast in jedem Häuschen vorbei. Dabei schnappt sich Moss in jedem Personen-Kapitel ein Familienmitglied und beschreibt deren Gedanken, Gefühle und Handlungen in genau diesem Moment durch die Brille der personalen Erzählerin. Zwischengeschoben sind Kurzkapitel, die die Stimmung in der umgebenden Natur widerspiegeln und immer mehr von Unheil künden.

    Beginnt der Roman noch meines Erachtens recht amüsant mit Einblicken in die Gedanken z.B. einer bei Tagesanbruch joggenden, jungen Mutter, eines pensionierten Arztes, der verwundert die frühmorgendliche Joggerin beobachten oder einer jungen, frisch verlobten Frau, die während des morgendlichen, sportlichen Sexes sich nicht so recht konzentrieren kann. Die Stimmung kippt jedoch zunehmend und das Unheil, welches bereits durch die Zwischenkapitel durch die Naturbeschreibungen angedeutet wird, wird scheinbar immer konkreter. Menschliche Abgründe tun sich auf, wenn Moss so unglaublich authentisch und glaubhaft in die Köpfe von Jungen und Alten, Männern und Frauen hineinspringt und deren Motivationen erforscht. Psychologisch vollkommen schlüssig konstruiert sie ihre Figuren, sodass ein Puzzleteil nachvollziehbar ins nächste passt.

    Wirklich brillant inszeniert Moss diesen nur 180 Seiten kurzen Episodenroman zu einem echten menschlichen Drama, steigert die Spannung sowohl über den großen feriensiedlungsübergreifenden Bogen aber auch immer wieder im Kleinen bezogen auf die Erlebnisse jeder einzelnen Figur, sodass man gar nicht mehr aufhören will, dieses Bravourstück zu lesen, bevor man nicht genau erfahren hat, wie das alles nur ausgehen wird.

    Während der Text ganz nah an den Gedanken der Protagonist:innen entlanggeführt wird, scheint aber auch immer wieder Gesellschaftskritisches durch diese hindurch bzw. wird durch sie verdeutlicht. Somit bekommt der Roman nicht nur eine kluge psychologische Tiefe sondern auch im übergeordneten Sinne weitere Dimensionen.

    Insgesamt konnte mich Sarah Moss‘ Roman von Anfang bis Ende durch seine großartige Figurenzeichnung, die mit Auslassungen spielende Sprache, welche immer zur entsprechenden Figur passt, die heraufbeschworene, unheilvolle Atmosphäre, die Spannung, die Gesellschaftskritik und die kluge Konstruktion der übergreifenden Geschichte uneingeschränkt überzeugen. Deshalb gibt es von mir eine ebenso uneingeschränkte Leseempfehlung für diesen auf vielen Ebenen ausgezeichneten Roman.

    5/5 Sterne

  1. Multiperspektivischer Episodenroman zu einem Regentag

    Sarah Moss Roman spielt im an einem schottischen See (Loch) in einer Ferienhaussiedlung, in dem die unterschiedlichsten Charaktere aufeinandertreffen. Die Handlung erstreckt sich über einen Tag, an dem es ununterbrochen regnet und den Feriengästen kaum Raum für Aktivitäten gibt.

    In 12 Kapiteln erfahren wir aus unterschiedlichen personalen Perspektiven, wie die einzelnen Figuren einen Teil dieses Tages erleben. Als Leser:innen offenbaren sich uns jeweils die Gedanken der Personen, so dass sich deren Charakter und Verhaltensweisen vor uns ausbreiten. Obwohl Moss ganz unterschiedliche Figuren zu Wort kommen lässt, wirkt jede Perspektive authentisch und glaubwürdig.
    Die 40jährige Justine, die sich früh morgens aus dem Haus schleicht, um durch den Regen zu rennen und dabei über das Laufen und ihr Leben reflektiert, oder David, der Arzt im Ruhestand, der schon seit Jahren mit seiner Frau Mary im Sommer in die Hütte fährt und sieht, wie Justine am Haus vorbeiläuft.

    Es gibt keine Interaktion zwischen den einzelnen Partien, nur Beobachtungen, Mutmaßungen und
    (Vor-)Urteile. Vor allem gegenüber den Ukrainern, die nachts laute Musik hören und somit Unmut bei den anderen erzeugen.

    „Andere Menschen bleiben im Urlaub im Bett, erst recht, wenn sie die halbe Nacht wach gehalten wurden von diesen egoistischen Arschlöchern mit ihrer lauten Musik, die gewusst haben müssen, dass sie den kleinen Kindern und deren Eltern und den alten Leuten und überhaupt allen den Schlaf und damit den nächsten Tag ruinierten.“ (8)

    Offener Rassismus tritt bei der kleinen Lola zutage, wenn sie das ukrainische Mädchen Violetta auf eine Schaukel lockt, die über dem „Loch“ hängt und es dann mit Steinen bewirft. Diese bedrohliche Situation wird nicht aufgelöst und schwebt über den weiteren Kapiteln. Was ist mit Violetta geschehen?
    Aber auch die Kanufahrt eines jungen Mannes, der seinen Eltern und der jüngeren Schwester entfliehen will, wird lebensbedrohlich, weil er seine Kräfte überschätzt. So kämpfen die einzelnen Figuren mit den widrigen Umständen, mit sich selbst und ihren Gedanken, gefangen in diesem Regentag, der am Ende eine völlig unerwartete Wendung nimmt.

    Aus jeder der Hütten kommen jeweils zwei Figuren zu Wort, teilweise auch die Kinder, wie z.B. Lola, so dass man als Leser:in immer auch eine weitere Perspektive der Handlung erlebt. Nur die Hütte der Ukrainer bleibt stumm, die sieht man nur aus der Sicht der anderen. Gedanken, die teilweise durchaus rassistisch anmuten.

    Neben ihrer Gesellschaftskritik übt Moss auch Kritik am Brexit:
    „Er blinkt, nimmt die erste Spitzkehre bergauf, ein schönes, glattes EU-gefördertes Wunderwerk der Technik, über das außerhalb der Saison vielleicht zwei Dutzend Autos pro Tag fahren. Wie können die Engländer so dumm sein, denkt er erneut, wie können sie den gelben Ring aus Sternen auf jeder neuen Straße, jedem neuen Krankenhaus, den erneuerten Schienen und neu gemachten Stadtzentren der letzten dreißig Jahren nicht sehen?“ (37)

    Eine Besonderheit bilden die 12 kurzen Zwischenkapitel, die den jeweiligen Kapiteln, die aus der Sicht einer Figur erzählt werden, zugeordnet und thematisch mit diesem verbunden sind – auch wenn sich der Zusammenhang nicht immer direkt erschließt.

    „Der Klang von Blut und Luft“ beschreibt zunächst die Stimmung vor dem Sonnenaufgang in der Natur beim Regen.
    Der Satz "so beständig wie der Klang von Blut und Luft im eigenen Körper. Man würde früh genug bemerken, wenn es aufhörte." (S.5) bezieht sich auf Justine, das erschließt sich jedoch erst, wenn man das folgende Kapitel ganz gelesen hat.
    Gleichzeitig taucht dieser Satz wieder am Ende des Romans auf, so dass sich eine Art Rahmen ergibt.

    Insgesamt ist der Roman sowohl von der Komposition, der Erzähltechnik und der Figurenzeichnung überzeugend.

    Klare Leseempfehlung für alle, die kein „Wohlfühl“-Sommerbuch lesen wollen, sondern eines, das einen authentischen Einblick in die Gedanken, und auch Abgründe, unterschiedlicher Menschen bietet.

  1. Ein verregneter Sommer am Loch

    An einem schottischen Loch (See) stehen Ferienhäuser einträchtig nebeneinander. Die Gäste kommen im Sommer hierher, um in den einfachen Holzhütten zu entspannen und den Alltag hinter sich zu lassen. Doch dieser Sommer hat es in sich. Der Regen prasselt ununterbrochen, die Nebelwände verschleiern die Landschaft. Die Gäste hocken in ihren Buden und wissen mit sich und der Zeit nichts anzufangen.

    Justine läuft. Sie joggt trotz Regen und Matsch ihre Runden, argwöhnisch beäugt von anderen Frühaufstehern in dieser Siedlung auf Zeit. Milly und Josh ist das egal, sie sind ein junges Paar und proben ihr zukünftiges Zusammenleben, das bitte auch im Bett gefälligst harmonisch verlaufen soll. Auch Mary und David sind mit sich selbst beschäftigt, Mary versucht ihre Erinnerungen zusammenzuhalten und David beobachtet sie dabei nach vielen Jahren der Ehe etwas hilflos.
    Bei den Familien mit Kindern geht es schon etwas lebhafter zu. Beckys großer Bruder probiert seine pubertären Kräfte auf dem Loch mit dem Kajak aus, während Becky in den Wäldern den campenden Exsoldaten entdeckt.
    Izzi und Patrick sind noch zu klein, um auf eigene Faust draußen zu spielen. Pat lernt gerade erst das Laufen und Izzi hat Angst vor dem Schattenmann, den sie nachts von ihrem Schlafkammerfenster aus draußen zwischen den Bäumen sehen kann.

    Nur Lola weiß mit ihrer Umgebung umzugehen. Unerschrocken und immer ein glänzenden Vorbild für ihren jüngeren Bruder Jack, rückt sie sich die Welt zurecht, bezwingt die über dem Wasser und rutschigen Steinen baumelnde Schaukel und kann jederzeit ihren Bruder und ihre Eltern dazu bringen, sich vor Dinge zu fürchten, die nicht da sind.

    Der anhaltende Regen verdüstert bei allen die Gedanken. Da ist es auch nicht hilfreich, dass in einer der Hütten jede Nacht lautstark Musik gespielt wird und dieses ausländisch aussehende Kind auch im Dunkeln noch draußen allein in ihren Lackschuhen herumläuft. Lola hat sie an der Schaukel getroffen. Sie heißt Violetta. Violetta kann Lola aber nicht sagen, aus welchem Land sie kommt, weil sie doch hier ist und eigentlich schon immer war.

    Sarah Moss geht von Hütte zu Hütte und stellt uns ihre Protagonisten vor. Sie klinkt sich in ihre Gedanken ein und so unterschiedlich Alter und Umstände auch sein mögen, findet sie die perfekten Worte, sodass es ein wahrer Lesegenuss ist. Vom feingeistigen Kunstverständigen bis zum nörgelnden Teenie, passt sie dabei die Sprache virtuos an. Doch man sollte genau hinhören, denn mit wenigen Sätzen zeigen sich alsbald Risse im glänzenden Porzellan, die diese scheinbare Idylle für jeden Einzelnen zur Bewährungsprobe werden lässt. Bald wird nämlich klar, dass etwas passieren wird. Die Zwischenkapitel der Natur- und Landschaftsbeschreibungen deuten es an... doch aufgepasst, Moss spielt mit ihren Leser*innen.

    Das stimmungsvolle Coverbild aus dem Unionsverlag, die sorgfältige Übersetzung aus dem Englischen von Nicole Seifert, beides gliedert sich harmonisch in die 182 Seiten voller Lokalkolorit, Lebensbilder und fataler Eskalation. Die Frage bleibt, was zählt noch die eigene Befindlichkeit, wenn es zum Äußersten kommt? Vollste Leseempfehlung!