Nachbarn: Storys

Buchseite und Rezensionen zu 'Nachbarn: Storys' von Diane Oliver
4.35
4.4 von 5 (3 Bewertungen)

Inhaltsangabe zu "Nachbarn: Storys"

Autor:
Format:Gebundene Ausgabe
Seiten:304
Verlag: Aufbau
EAN:9783351042240

Rezensionen zu "Nachbarn: Storys"

  1. Der Alltag während der 60er Jahre in den Südstaaten der USA

    Die Kurzgeschichten der Autorin Diane Oliver, geboren 1943, einer Schwarzen aus North Carolina, die leider schon bei einem Motorradunfall mit 22 Jahren ums Leben kam, katapultiert uns ca. 60 Jahre in die Vergangenheit. Tayari Jones, die das Nachwort schrieb, erinnern die Erzählungen an ‚eine Zeitkapsel, versiegelt und vergraben im Garten einer African Methodist Episcopal Church irgendwo in den Südstatten Anfang der 1960er Jahre‘.

    Die 14 Kurzgeschichten erzählen vom Leben der und auch mit den Schwarzen im Umbruch der Rassenintegration. Wir lesen auf vielfältige Art, welche Herausforderungen damit verbunden waren, denn in den meisten Köpfen war dies noch nicht angekommen. Ob es der zukünftige Schulbesuch eines schwarzen Kindes in einer weißen Schule ist, das Studium einer Schwarzen unter lauter weißen jungen Frauen, oder der anstrengende Besuch einer Mutter mit ihren 4 kleinen Kindern (zu Fuß) beim Gesundheitsdienst in der nächsten Stadt, die nach über drei Stunden Wartens wieder unverrichteter Dinge auf den weiten Weg nach Hause geschickt wird - die Geschichten gehen unter die Haut!

    Diane Oliver klagte nicht an, sie schildert nur nüchtern und sehr eindringlich die Situationen. Was mir auffiel: etliche Ehemänner suchten ihr Glück im Norden, z.B. in Chicago, ‚vergaßen‘ aber dann ihre Familie, die dann mehr schlecht als recht über die Runden kam. (Die Frauen waren also verstärkt die Leidtragenden.) Sehr interessant und erhellend fand ich auch ‚Spinnen weinen ohne Tränen‘, in der eine Weiße eine Beziehung mit einem schwarzen Arzt hat und dann nach der Heirat (nach 6 Jahren) in der schwarzen Gemeinschaft lebt.

    Die Kurzgeschichten zeichnen sich durch große Vielseitigkeit und Vielschichtigkeit aus und einzig der Kurzgeschichte ‚Gefrorene Stimmen‘ konnte ich nichts abgewinnen, weder vom Inhalt noch von der Erzählweise her. Ich vergebe sehr gerne 4 Sterne und freue mich sehr, dass dieses Werk jetzt auf den Markt kam und somit gewürdigt wurde!

  1. Eindrücklich und brandaktuell

    Wir können von Glück reden, dass Diane Olivers Talent gefunden und so lange nach ihrem frühen Tod noch veröffentlicht wurde. Man kann nur spekulieren, was sie noch geschaffen hätte, wenn sie länger gelebt hätte aber schon der Vorgeschmack in ihren Kurzgeschichten hat mir unglaublich gut gefallen.

    Oliver hat die Geschichten bereits in den 60ern geschrieben und trotzdem fühlen sie sich unfassbar aktuell an. Sie tauchen subtil in die Systeme ein, die für Seperation sorgen und welche Faktoren (z.B. Bildung) eine bestimmende Rolle spielen. Ihr Geschichten erzählen dabei noch eine Geschichte in der Geschichte, sind miteinander verwoben und ergeben ein unfassbar schönes Gesamtbild, wenn man mit dem Buch fertig ist.

    Eindrücklich verleiht sie jungen Frauen eine Stimme, sie werden vor unseren Augen plastisch und man kann sich total gut einfühlen, auch wenn man selbst nie solche Erfahrungen machen musste. Dabei schafft sie es mit ihrem Schreibstil trotz der Nüchternheit und Ruhe, die die Geschichten ausstrahlen eine solche Wucht in ihre Geschichten zu packen, dass diese bestimmt noch ganz lange in mir nachhallen werden.

    Normalerweise mag ich keine Kurzgeschichten, ich komme entweder nicht rein oder fühle mich unbefriedigt, wenn ich die Welt wieder verlassen muss. Das ist hier gar nicht der Fall, man ist vollauf zufrieden, wenn man eine Familie wieder verlassen muss und denkt trotzdem noch über sie nach. Der Großteil der Geschichten hat mir unglaublich gut gefallen. 2 - 3 waren nicht mein Fall, das ist aber bei einem Buch dieser Länge eine gute Quote finde ich.

    Ein Buch für alle, die ohne Radikalisierung in die Welt anderer eintauchen wollen und die sich im tollen Schreibstil einer jungen Frau verlieren wollen, die ihrer Zeit wahrlich voraus war.

  1. 5
    22. Jan 2024 

    Einblicke in einen segregierten Alltag

    Die Wiederentdeckung der Kurzgeschichten der Schwarzen Autorin Diane Oliver ist ein Glücksfall für die heutige Zeit. Wäre die 1943 geborene Autorin nicht mit nur 22 Jahren tragisch bei einem Motorradunfall ums Leben gekommen, sie hätte eine Wegbegleiterin der Literaturnobelpreisträgerin Toni Morrison werden können.

    In diesem nun erstmals im Deutschen veröffentlichten Erzählungsband greift die Autorin immer wieder alltägliche Situationen aus dem Leben in den Südstaaten der USA zur Zeit der Rassentrennung auf. Damals galt zwar schon, die Bürger der USA seien „gleich“ aber man hielt sie weiterhin voneinander getrennt. Getrennt in den Bussen, getrennt in der Schule, getrennt in Restaurants oder auf Toiletten. Genau während der Hochphase der US-amerikanischen Bürgerrechtsbewegung zwischen den späten 1950er und späten 1960er Jahren spielen die Geschichten von Diane Oliver. Hier geht es um Alltagsheldinnen, deren Ängste, Wünsche und Freuden nie den Weg in die allgemeine Geschichtsschreibung gefunden haben.

    So dreht sich die titelgebende und auch erste Geschichte des Bandes „Nachbarn“ um eine Familie, die am Tag vor der Schuleinführung des Sohnes mit sich aufgrund der Anfeindungen, die bereits eingegangen sind und noch bevorstehen werden, hadert, ob sie ihn tatsächlich als erstes und einziges Schwarzes Kind auf eine rein weiße Schule schicken sollen. Es wäre nun ihr Recht, aber was steht dabei auf dem Spiel? In einer anderen Geschichte begleiten wir eine junge Frau, die ihren gesamten Schulweg immer „die erste Schwarze“ unter Weißen gewesen ist und nun auf dem College an dieser Bürde psychisch zerbricht. Aber Diane Oliver bewegt sich mit ihren Geschichten keinesfalls nur in der Gruppe der intellektuellen und tatkräftigen Vorkämpfer:innen der damaligen Bewegung, auch auf die Menschen, die weit davon entfernt sind, überhaupt die Kraft erübrigen zu können, für ihre Rechte zu kämpfen, wirft sie ein Schlaglicht. Auf die Schwarzen Frauen, die sich alltäglich unter Weißen abrackern und doch ihre Familie kaum über Wasser halten können. Die in einem diskriminierenden Gesundheitssystem unvorstellbare Hürden auf sich nehmen, um eine Grundversorgung zu erhalten. Die ihre Kinder vor dem Hungertod retten müssen, während sich ihre Männer aus dem Staub machen. Es werden aber nicht nur ausschließlich Schwarze Protagonistinnen in den Geschichten vorgestellt, auch gibt es weiße Personen, die langsam ihre traditionell konservativen, rassistischen Südstaatler-Ansichten hinterfragen und versuchen neue Wege zu gehen.

    Diese Kurzgeschichtensammlung besticht durch ihre Intersektionalität von Race, Gender und Class und wirkt trotz der historischen Gegebenheiten nie veraltet, sondern im Gegenteil brandaktuell, sind doch dunkelhäutige Frauen aus einer niedrigen sozioökonomischen Schicht immer noch weitverbreitet die am meisten benachteiligte Bevölkerungsgruppe. Die Gruppe, die am meisten für ihre Rechte kämpfen muss. Diesen Kampf zeigt Oliver mithilfe der antirassistischen sozialen Bürgerrechtsbewegung Mitte des vergangenen Jahrhunderts in den USA auf. Dieses Buch wird auch heutzutage noch zu Diskussionen anregen und ist durch die mitunter überraschenden Wendungen in den einzelnen Geschichten und Durchmischung der Themen durchgängig interessant. Sprachlich bewies die Autorin schon in jungen Jahren ein Talent für das pointierte Geschichten erzählen, schade dass wir sie nie als sich noch weiter entwickelnde Autorin kennenlernen können. Wie es bei solcherart Zusammenstellungen immer ist, stellt nicht jede Erzählung ein Highlight dar, das liegt in der Natur der Sache, trotzdem erkennt man eindeutig das Talent der Autorin sowie die Dringlichkeit ihrer Anliegen und liest (fast) jede Geschichte atemlos und begeistert. Eine wirklich wichtige Wiederentdeckung!

    4,5/5 Sterne