Die Stärkste unter ihnen

Buchseite und Rezensionen zu 'Die Stärkste unter ihnen' von Selina Kristin Seemann
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3 von 5 (1 Bewertungen)

Inhaltsangabe zu "Die Stärkste unter ihnen"

Format:Gebundene Ausgabe
Seiten:224
EAN:9783218014069

Rezensionen zu "Die Stärkste unter ihnen"

  1. 3
    05. Sep 2023 

    Unentdecktes „Grooming“ in der Kirchengemeinde

    In ihrem Debütroman beschäftigt sich die 1993 geborene Autorin Selina Seemann mit dem sogenannten „Grooming“. Laut Wikipedia wird als Grooming „die gezielte Kontaktaufnahme Erwachsener mit Minderjährigen in Missbrauchsabsicht bezeichnet, indem stufenweise ihr Vertrauen erschlichen wird.“ Ich musste den Begriff selbst erst nachschlagen. Ist zwar das Vorgehen durchaus bekannt, so hat das ganze jetzt auch einen Namen. Und mit dem Roman von Seemann bekommt es auch noch eine Geschichte.

    Da ist Milena, die im Alter von 15 Jahren eine „Beziehung“ mit dem 35jährigen, verheirateten Kirchenmitarbeiter Nick gerät. Nick ist bei allen Kindern und Jugendlichen in der Kirchengemeinde beliebt. Er weiß mit jungen Menschen umzugehen, so scheint es von außen. Nur wenige fragen sich, warum er ausschließlich Jugendliche in seinem Freundeskreis hat und sich scheinbar gar nicht mit Gleichaltrigen abgibt. Die „Beziehung“ von Milena und Nick wird sechs Jahre anhalten, bis sie den Absprung schaffen und sich von ihm trennen wird. Das erfahren wir gleich zu Beginn des Romans, wenn Milena kurzerhand nach der Trennung in 2014 zu Josh nach Irland reist und sich direkt in die nächste merkwürdige Verbindung wirft.

    Mithilfe von Rückblicken erfahren wir nach und nach, wie diese „Beziehung“ zwischen Milena und Nick zustande gekommen ist und welche Abscheulichkeiten die verliebte Milena alles ertragen musste. Bis zum Schluss bezeichnet sie die Verbindung zum Täter Nick als „feste Beziehung“, nimmt zwar zunehmend wahr, dass da etwas nicht richtig sein kann, bleibt aber für lange Zeit in dem Gefühl des Verliebtseins verhaftet. Nick unterdessen hat nicht nur mit der 15jährigen von Beginn an Sex, sondern überredet sie auch, mit fremden Männern Sex zu haben. Das wird alles im Anfangsteil des Romans ungeschönt beschrieben und hier sei eine Warnung an alle ausgesprochen, die mit solchen Beschreibungen nicht gut klarkommen, denn was Seemann beschreibt ist wirklich heftig.

    So stellt sich schnell eine absolute Fassungslosigkeit aufgrund des Missbrauchs an Milena ein, die Seemann durch ihre direkte Sprache eindringlich zu evozieren weiß. Immer wieder möchte man dieses Mädchen aus dieser schrecklichen Verbindung herausreißen und schützen. Allein das Wissen vom Beginn des Romans, dass diese „Beziehung“ ein Ende haben wird, lässt einen die Beschreibungen aushalten. Sehr geschickt zeigt Seemann gleichzeitig durch die Zeitebene in 2014 auf, dass Milena aufgrund dieser vollkommen falschen Beziehungserfahrung zu Nick noch viele Jahre gezeichnet sein wird. Sie schafft es nicht zum gleichaltrigen Josh, der auch eine sehr merkwürdiger Zeitgenosse ist, eine adäquate Beziehung aufzubauen, bläst sie ihm doch direkt zur Begrüßung einfach mal eben einen. Wie vor den Kopf gestoßen liest man diese Szenen und muss sich erst einmal auf diese verqueren Verhaltensweisen einstellen.

    Neben dieser authentischen Darstellung von Milena stellt meines Erachtens eine Stärke des Romans dar, dass, wenn auch nur ganz kurz, auch „nette“ Seiten von Nick aufblitzen, die verdeutlichen, warum Milena so viele Jahre trotz allem an Nick festgehalten hat. Die Trennung nach so vielen Jahren, obwohl es zuvor schon mehr als genug heftige Auslöser hätte geben können, wirkt dann doch irgendwie recht unverhofft und plötzlich. Das ging mir dann doch etwas schnell und hätte gern noch näher aus der Innensicht Milenas erklärt werden können. Auch springen wir letztlich noch einmal in die Gegenwart und erfahren, wie es mit Nick weitergegangen ist. Das wird dann nur kurz angerissen, ist aber eigentlich eine ganz schöne Bombe. Auch wundert man sich zuvor, dass die Ehefrau von Nick so gar nichts mitbekommen haben will von seinen Machenschaften. Das wäre für mich alles noch im literarischen Sinne zu tolerieren gewesen, leider hat der Roman aber meines Erachtens einen wirklich großen Schwachpunkt: Die Eltern oder generell die Familie von Milena findet im Roman nicht eine einzige Erwähnung. Die Figur Milena scheint im luftleeren Raum zu existieren. Nun könnte es ja sein, dass die Eltern physisch und/oder psychisch abwesend waren und sie erst dadurch zum Opfer dieses Groomings hat werden können. Aber dafür gibt es keinerlei Anhalt im Buch. Die Eltern existieren einfach nicht in der Erzählung. Und das ist für mich gerade bei diesem Thema einfach inakzeptabel. Bei einer 15Jährigen, die übrigens schon zuvor mit 14 Jahren eine sexuelle Beziehung hatte, spielen die Eltern doch noch in irgendeiner Weise eine Rolle. Diese auszusparen lässt eine klaffende Lücke zurück. Es gibt innerhalb des Romans keine Erklärung für diese literarische Entscheidung. Ich habe eine ganz wilde Vermutung, die aber in keinster Weise gesichert ist: Die Protagonistin hat dasselbe Geburtsjahr wie die Autorin; sie heißt Milena, die Autorin Selina; und die Autorin schreibt in der Danksagung an ihre Eltern folgendes: „Bitte blättert bei einigen Kapiteln einfach weiter.“… Vielleicht hat die Geschichte der Protagonistin ihre Inspiration in der realen Welt und eventuell sollten hier die Angehörigen geschützt bzw. nicht involviert werden. Keine Ahnung. Aber fachlich und literarisch kann ich diese Entscheidung nicht gutheißen.

    So runde ich bei einem ansonsten sehr guten Roman letztlich doch noch auf 3 Sterne ab. Lesenswert ist der Roman definitiv trotzdem, nur gefestigt sollte man bezogen auf die Thematik schon sein, bevor man die Lektüre beginnt.

    3,5/5 Sterne