Kathedrale

Einigen dürfte Darius Kopp schon aus „Der einzige Mann auf dem Kontinent“ bekannt sein. Ein etwas oberflächlicher Typ, zunächst ein Wendegewinnler, doch nun eher ein Looser. Nicht besonders sympathisch, allerdings würde man ihm doch ein anderes Schicksal gönnen, denn seine Frau Flora hat sich vor fast einem Jahr umgebracht und über diesen Schlag kommt er nicht hinweg. Er verkriecht sich in seiner Wohnung und später wird er von einem Freund aufgenommen. Erst als er die Übersetzung von Floras Tagebuch, das sie in ihrer Muttersprache Ungarisch verfasst hat, rafft sich Kopp wieder etwas auf. Er will Floras Heimat besuchen und vielleicht herausfinden weshalb sie sich das Leben nahm.
Darius’ Leid am Tod seiner Frau lässt sich beim Lesen mitfühlen, keine Hilfe ist in Sicht. Gerade eine Selbsttötung ist für die Hinterbliebenen schwer zu verarbeiten. Oft macht man sich Vorwürfe, warum man nichts gemerkt oder getan hat. Man empfindet aber auch Wut, weil der Verstorbene nicht geredet hat, keine Hilfe suchte und schließlich seine Lieben einfach so im Stich ließ. Beinahe kann einem Darius Kopp sympathisch werden. Man meint ihm den Aufbruch gönnen zu wollen, seine Reise zu Flora und ihren Wurzeln. Ihre Depression, unter der sie wohl schon seit Ewigkeiten litt, ließ letztlich keine Heilung zu, eine chronische Krankheit, die mit dem Tode endete. Das Tagebuch bietet eine Einblick in ihren Kampf um psychische Gesundheit und ihr langsames Scheitern. Zu seiner Enttäuschung kommt Darius kaum darin vor, was also mag er ihr bedeutet haben. Doch auch Darius muss sein Tal durchwandern, manchmal könnte Hoffnung bestehen, dann wieder kommt eine Phase der Ziellosigkeit, des aus dem Auge verlieren des eigentlichen Zweckes.
Beginnt die Erzählung zunächst wirklich hervorragend, einfühlsam die Trauerarbeit beschreibend, so wandelt sie sich im Verlauf auch nach mehrmaligen Lesens einiger Passagen in etwas Unverständliches, Verschwurbeltes. Sicher ist es wahrscheinlich genau das, was nach einem Suizid bleibt. Dennoch wünschte man als Leser etwas mehr Klarheit, um die Andeutungen eine Richtung zu geben. So ist dieser Roman zwar ergreifender als sein Vorgänger, lässt aber doch das letzte Quentchen vermissen. Die Art, die Seiten des Buches in einen oberen Darius-Teil und einen unteren Floras-Tagebuch-Teil aufzuteilen, gibt dem Buch etwas eigentümlich besonderes, was das Lesen zwar etwas verlangsamt, dafür aber die Aufmerksamkeit erhöht - ein echter Pluspunkt.
In „Godwin“ prallen zwei Welten aufeinander, die scheinbar nur wenig miteinander zu tun haben: Faszination Fußball und der Berufsalltag in einem Büro. Dem irischen Autor Joseph O’Neill gelingt es dennoch, beide Welten in seinem aktuellen Buch auf sehr kreative Weise miteinander zu verbinden.
Bindeglied zwischen den beiden Welten in diesem Roman ist der Freelancer Mark Wolfe, der sein Geld verdient, in dem er freiberuflich Unternehmen bei der Verfassung von Förderanträgen unterstützt.
Mark ist Mitglied einer Bürogenossenschaft, die ihm die nötige Infrastruktur zur Verfügung stellt, damit er seiner freiberuflichen Tätigkeit nachgehen kann. Darüber hinaus kümmert sich diese Genossenschaft um das Heranholen von Kunden und Aufträgen, die den Mitgliedern zugewiesen werden. Federführend für diese Aufgabe, genauso wie für alles Organisatorische, ist Lakesha, die wir als Vorstandsmitglied dieser Genossenschaft kennenlernen.
Der Roman besteht aus zwei Handlungsebenen, dementsprechend sind die Kapitel dieses Romans nach den Protagonisten benannt, aus deren Sicht der jeweilige Handlungsstrang erzählt wird: L für Lakesha und M für Mark Wolfe.
Anfangs erscheinen die beiden Handlungsebenen in sich abgeschlossen, von der beruflichen Verbindung zwischen Lakesha und Mark Wolfe einmal abgesehen. Im Wechsel der Kapitel liest man zwei Geschichten parallel, die kaum Berührungspunkte haben.
Lakesha, die den Anfang in diesem Roman macht, erzählt die Geschichte ihres Büroalltags. Dabei treten die täglichen Routinen in den Hintergrund. Im Fokus stehen die Intrigenspielchen und Konkurrenzkämpfe innerhalb der Genossenschaft, wenn es darum geht, an die Spitze dieser Organisation zu kommen. Die edle Grundidee, gleichberechtigt und nach demokratischen Grundsätzen gemeinsam für wirtschaftlichen Erfolg zu sorgen, gerät dabei in Vergessenheit. Lakesha kommt nicht damit zurecht, dass ihre einstigen Ideale bei dem Kampf um die Spitze nicht mehr die Gewichtung haben, wie zu Beginn ihrer beruflichen Laufbahn in der Genossenschaft.
Teil dieses Kampfes wird auch Mark sein, der dabei erst später eine Rolle spielen wird.
Denn zunächst ist er derjenige bzw. sein Handlungsstrang, der dem Leser die Tore zur Welt des Fußballs öffnet. Eigentlich undenkbar, bei einem Menschen wie Mark, der mit Fußball so gar nichts zu tun hat. Doch er hat einen jüngeren Bruder – Geoffrey – und dieser ist in Europa Fußballagent, wenn auch nicht besonders erfolgreich. Geoffrey bittet Mark um Unterstützung bei der Suche nach einem mysteriösen Fußballtalent. Der Zufall hat Geoffrey das ominöse Video eines unbekannten Jungen, der irgendwo in Afrika beim Kicken gefilmt wurde, zugespielt. Und der Fußballkenner wird bestätigen: Dieser Junge ist ein Ausnahmetalent! Geoffrey bittet also seinen großen Bruder um Hilfe bei der Suche nach der fußballspielenden Nadel im afrikanischen Heuhaufen.
Der Junge ist jener Godwin, nach dem dieser Roman benannt ist. Doch bis wir wissen, dass er so heißt und was es mit dem geheimnisvollen Godwin auf sich hat, wird noch einiges passieren. Bei der Suche nach dem Jungen wird Mark durch die halbe Welt reisen, er wird es mit Talentjägern zu tun haben, die ebenfalls ein übersteigertes Interesse an Godwin haben und ihn unter ihre Fittiche nehmen wollen, weil sie das große Geld wittern.
Dieser Handlungsstrang erzählt also die Geschichte der Jagd auf Godwin. Wer am Ende zu den Gewinnern und Verlierern gehört, bleibt bis zum Schluss offen und macht die Spannung in dieser Geschichte aus.
Von Beginn an habe ich mich immer wieder gefragt, wie Joseph O’Neill die beiden Handlungsstränge zusammenbringen wird, da beide Welten – Büroalltag und Fußball – so herzlich wenig miteinander zu tun haben. Man wundert sich, aber es gelingt ihm ganz hervorragend. Denn irgendwann fließen beide Handlungsstränge ineinander. O’Neill präsentiert dem Leser am Ende eine abenteuerliche Geschichte, die durch ihre sehr kreativen und unvorhersehbaren Wendungen für Verblüffung sorgt. Dabei betört er den Leser mit einem intelligenten Humor, der maßgeblich durch die Darstellung des Protagonisten Mark transportiert wird. Denn Mark ist ein Nerd, dem sein Computer – er nennt ihn Roald – näher ist als andere Menschen, abgesehen von seiner Frau Sushila und dem gemeinsamen Kind.
Der gute Mark ist ein Zyniker, der sich in der Regel von anderen Menschen belästigt fühlt und sich am liebsten selbst genug wäre, ließe man ihn. Ginge es nach ihm, würde er die Welt da draußen aussperren und sich in seinem seelischen „Schneckenhaus“ verkriechen. Schnell gewinnt man den Eindruck, dass Mark durch seine Isolation den ganz normalen Dingen im Alltag nicht gewachsen ist. Seine Frau Sushila sorgt mit ehefräulicher Raffinesse dafür, dass ihr Mann am Leben teilnimmt.
Ein Protagonist wie Mark ist ein Garant für komische Momente in diesem Roman, da er nicht nur mit dem Leben konfrontiert wird, sondern sich auch noch auf das Abenteuer Fußball einlässt.
Natürlich spielt Fußball eine besondere Rolle in diesem Roman. Während O’Neill also die Geschichte von der Suche nach Godwin erzählt, flicht er immer wieder Informationen, Anekdötchen und Wissenswertes rund um den Fußball und das Fußballgeschäft ein. Dadurch beleuchtet er sämtliche Facetten dieses Sports, der sowohl Wirtschaftszweig als auch Philosophie zugleich ist. In Summe beschreibt O’Neill damit die Faszination, die Fußball ausübt, doch begründen kann auch er das Phänomen „Fußball“ nicht, was der Qualität dieses Romans jedoch keinen Abbruch tut. Denn an einem Erklärungsversuch haben sich schon andere vor ihm die Zähne ausgebissen.
Fazit:
Ein Roman über die Welt des Fußballs, ein Roman über den Büroalltag, eine Handlung, die durch die halbe Welt führt, Protagonisten, die aus ihrer Komfortzone ausbrechen – alles in allem ein sehr vielschichtiger Roman, der durch seine kreativen Handlungsverlauf und seinen intelligenten Humor besticht. Großes Erzählkino!
©Renie
"Godwin" ist der neueste Roman aus der Feder O'Neills. Ich erwartete einen Fußballroman, doch bekam weit mehr als das. O'Neill bringt eine Vielzahl thematischer Aspekte ins Feld: Genossenschaft, Globalisierung, Kolonialisierung, Talentsuche und alles letztlich verbunden durch das Streben nach Macht und Gewinnmaximierung.
Im Roman gibt es zwei Erzählstränge: einen aus Marks, einen aus Lakeshas Sicht. In den Erzählungen rund um Lakesha steht das Funktionieren einer Genossenschaft im Vordergrund. Auch Mark arbeitet dort als analytischer Berater, Lakesha hingegen ist mit der Leitung beauftragt. Leitidee der Genossenschaft ist, dass alle für ein gemeinsames Ziel eintreten und individuelle Interessen zurückstellen. Das funktioniert allerdings nur, solange Annie nicht kündigt. Ihre Kündigung bringt alles ins Wanken.
Dieser Erzählstrang wird abgewechselt von der Suche nach Godwin, einem afrikanischen Fußballtalent. Marks Bruder George ist Talentsout und durch ein Video auf den Jungen als (vermeintliche) Goldgrube aufmerksam geworden. Er spannt Mark für seine Interessen ein, der später jedoch ohne George weiter nach dem Jungen sucht und in Benin letztlich fündig wird. Doch auch Andere versuchen aus dem Ganzen ihren Profit zu schlagen. Macht und Profitgier scheinen die zentralen Motive des Romans zu sein.
Kolonialismuskritik nimmt ebenfalls einen großen Stellenwert ein. Insbesondere die Figur Lefevres regt hier zum kritischen Nachsinnen ein, ebenso Faye.
Die Themen sind so vielschichtig wie interessant. Dennoch tat ich mich schwer, mich auf den Roman zu konzentrieren. Ich las interessiert und lernte Einiges dazu. Ein Lesesog blieb jedoch aus und ich musste mich phasensweise zum Weiterlesen sehr zwingen. Vermutlich liegt dies aber nicht an O 'Neills Erzählkunst, so dass ich zukünftig sicher noch den ein oder anderen Versuch mit Werken von O'Neill wagen werde.
Um zu entdecken, worum es im vorliegenden Roman überhaupt geht, muss man schon eine Weile lesen, was aber überhaupt nicht schwerfällt, weil o´Neill sein Metier beherrscht. Er lässt Eins ins Andere greifen, legt Fährten aus, lässt sie liegen, um sie am Ende gekonnt in ein großes Ganzes zu überführen. Der Leser wird bestens unterhalten und stets aufs Neue überrascht – nur eine feste Erwartungshaltung sollte er für diesen Roman nicht mitbringen.
Zwei Erzählstränge lösen sich miteinander ab: M für Mark und L für Lakesha. Mark ist ein verheirateter, grüblerischer Familienvater. Er arbeitet in der genossenschaftlich organisierten und angeblich hierarchielosen P4 Group als analytischer Berater, deren Co-Leitungsbeauftragte Lakesha ist. Die Group funktioniert nach der Ideologie, dass sämtliche Mitglieder ihre individuellen Ziele zugunsten der Group hinten anstellen. Das funktioniert über viele Jahre, bis die renommierte Leiterin Annie kündigt. Nun gerät das offenbar sensible Gerüst ins Wanken: Einzelne, sich benachteiligt fühlende Mitglieder der Group sehen ihre Chance. Sie spinnen eine perfide Intrige, in die Mark ungewollt als Spielball fremder Interessen hineingerät.
Auch im zweiten Handlungsstrang wirkt Mark zunächst ebenfalls recht passiv. Sein Halbbruder Geoff, der sich als Glücksritter, Fußballvermittler und Talentsucher verdingt, bittet ihn um Hilfe. Mark soll kurzfristig nach Europa reisen, um den Aufenthaltsort eines jungen, unglaublich talentierten Fußballspielers zu ermitteln. Geoff besitzt nur eine Videoaufnahme. Dem Spieler, der vermutlich aus Westafrika stammt, hat man den Namen Godwin gegeben, die Erwartungen an ihn sind riesig. Jeder will an ihm partizipieren und mitgewinnen.
Im Verlauf des Romans lernen wir verschiedene, teilweise schräge Figuren kennen. Neben den Kollegen aus der P4 Group sind das Marks berechnende Mutter Faye sowie sein unzuverlässiger Bruder Geoff. Der umtriebige, dem Alkohol zugeneigte Fußballagent Lefebvre hat einige kuriose Auftritte, in denen er gern weit ausholt, um über Gott, die Welt und den Fußball zu schwadronieren. Seine lebhaften Reiseberichte regen den Leser an, über Afrika und die Folgen des ausbeuterischen (Post-) Kolonialismus der privilegierten weißen Welt nachzudenken. Der Autor versteht es, seine Charaktere mit unterschiedlichen Tonlagen auszustatten, die für Unterhaltung und Kurzweil sorgen. Brillant getroffen ist Marks überwiegend zynische, selbstironische Stimme. Man folgt seinen Beobachtungen, Reflektionen und teilweise philosophischen Gedanken sehr gern.
Während einem das Intrigenspiel an Marks Arbeitsplatz vertraut vorkommt, wird man vom Fußballtwist in eine weitgehend unbekannte Welt hineingezogen. Die Suche nach Godwin gestaltet sich kompliziert, verschiedene Reisen müssen unternommen werden, um ihn zu finden. Die sich ergebenden Erkenntnisse über das Fußballbusiness erscheinen wenig schmeichelhaft. Der individuelle Spieler mutiert zur Ware, an die sich Gewinn-, Reputations- und Renditeerwartungen verschiedener Interessenkreise knüpfen. Godwin kommt dabei gar nicht zu Wort, auch er ist ein Spielball „höherer Mächte“. Zahlreiche Schilderungen und Anekdoten aus der Welt des Fußballs unterfüttern bekannte Skandale der letzten Jahre, offensichtlich wird im Fußball auf allen Ebenen korrumpiert, manipuliert und übervorteilt. Der Mensch als Individuum besitzt kaum einen Wert, es geht immer nur ums Geld. (Den Spielerpoker mit einer modernen Form des Sklavenhandels zu vergleichen, führt meines Erachtens allerdings angesichts der enormen Summen, die im Profifußball verdient werden, zu weit.)
Die konkreten Berührungspunkte und Zusammenhänge der beiden Erzählstränge greifen im Verlauf des Romans zunehmend ineinander. Globale Kapitalismuskritik scheint unüberhörbar. Dem Autor gelingt sie jedoch leichtfüßig, ohne Moralkeule oder penetrante Botschaft. Man darf auch andere Lesarten für diesen außergewöhnlichen Roman haben.
Spritzige Dialoge, geschliffene Formulierungen sowie eine originelle Gesamtkonzeption runden das Buch ab, das sich leicht verständlich lesen lässt, ohne ein Leichtgewicht zu sein. Leseempfehlung für alle, die sich gern überraschen lassen. Ein gesteigertes Interesse am Fußball ist indessen nicht notwendig.
Leseempfehlung!
...dann denken wir doch, besonders in diesen Tagen, an Fußball. Wenn dann noch ein junger Fußballgott irgendwo in Afrika seine Künste dem Auge der Videokamera offenbart, spätestens dann hat der Rasenplatz unsere Erwartungen im Griff. Doch zunächst einmal gilt es, diesen Jungen, alle nennen ihn Godwin, zu finden, ihn nach Europa zu schleusen, zu fördern, um mit ihm in das Spiel um die Millionentransfers der Topliga-Vereine einzusteigen. Das zumindest verspricht der Rückentext.
Unbeleckt von diesen komplizierten Geschäften, abseits von Europa und Afrika, arbeitet Mark als technischer Redakteur in einer Genossenschaft in den USA, dessen Co-Leiterin Lakesha gerade die Fäden ihrer Führung aus den Händen zu gleiten drohen. Ihre Geschäftspartnerin verlässt das Unternehmen und Lakesha hat genaue Vortsellungen, mit wem dieser offene Posten neu besetzt werden sollte. Völlig unvorbereitet trifft sie da plötzlich das Intrigenspiel einer Kollegin.
Der mit menschlichen Interaktionen hadernde Mark, hat sich mit einem Kunden angelegt. Zu allem Überfluss kam ihm dann noch der neue Pförtner dumm, so dass ihm Lakesha eine Auszeit angeraten hat, just, als sich sein Halbbruder aus Großbritannien meldet und ihn um Hilfe bittet. Auch Marks Ehefrau Sushila findet, dass Mark eine Reise nach Europa unternehmen sollte.
Marks autistisch anmutende Stärke ist das analytische Denken und so meint er anhand des Videos den Aufenthaltsort Godwins zu erkennen. Sein Bruder Geoff schickt Mark auf eine Irrfahrt durch die Agentenwelt des Fussballs und zieht sich vermeintlich aus dem Geschäft zurück, bis dann doch alles anders kommt als erwartet.
Sowohl Marks, als auch Lakeshas Vergangenheit waren nicht ohne Schwierigkeiten, wie uns der Autor in kleinen Rückblicken erkennen lässt. Trotzdem darf sich ein Nebendarsteller in einem vielseitigen Monolog über die ganz eigenen Bedingungen in Afrika und seinem knallharten Fussballgeschäft auslassen, so dass ich mich als Leser zwischen mehreren Themen hin- und hergerissen fühlte. Mit einem Kunstgriff macht O'Neill dann aber den Sack zu und lässt zumindest die Hälfte der Mannschaft wieder zusammenkommen. Sogar der gesuchte Godwin nimmt Gestalt an.
Der Fokus verschwimmt, vor lauter grünen Halmen erkennt man nicht den Fussballplatz. Doch gibt es viele kleine Storys, die mich abgelenkt und mehr interessiert haben, als die Suche nach dem jungen Talent. Vielleicht ist in dem Buch zusammengekommen, was nicht zusammengehört, aber es war ein durchaus interessanter Mix. Die Süddeutsche Zeitung bezeichnet O'Neill als Berichterstatter aus den Untiefen unserer Gegenwart, was dem Buch näher kommt, als das Bild des ballspielenden, schuhlosen Person of Color auf dem Cover.
Der Roman Godwin von Joseph O’Neill stellt auf seinem Titelbild deutlich das Thema Fußball heraus, und doch startet er ganz anders.
Wir sind in den USA und erleben im ersten Teil eine kreative Bürogenossenschaft, die locker aber durchaus erfolgreich Freiberufler, die technische Texte verfassen, zusammenbringt und sie mit Kunden und Aufträgen versorgt. Einer dieser Freiberufler ist Mark. Und mit ihm gab es gerade einen Konflikt, der in dem auf Wohlfühlatmosphäre setzenden Unternehmen keinen Platz finden soll. Und so wird Mark erstmal für eine längere Zeit in eine Auszeit geschickt, damit sich die Wogen in dem Unternehmen und in den beteiligten Personen wieder glätten können.
Und so erleben wir dann Mark in seiner Auszeit, in der ihn sein Halbbruder kontaktiert, mit dem er sonst nur sehr sporadisch Kontakt hat. Der Bruder, Geoff, bittet ihn um Hilfe, ohne das näher zu erläutern oder mit Inhalt zu füllen. Aber in dieser besonderen Ausnahmesituation für Mark ist das eine Option, die er - wenn auch etwas widerstrebend - zu ziehen bereit ist. Und so reist Mark nach England, trifft dort den chaotischen Bruder, der nicht ganz professionell und durchsichtig als Fußballeragent tätig ist, immer auf der Suche nach jungen Talenten, nach denen die großen Vereine lechzen. Gerade ist dafür der afrikanische Markt besonders reizvoll. Und aus dieser Region hat ihn das Video eines jungen Spielers besonders überzeugt. Ohne dessen Herkunft zu kennen und ohne eine Ahnung, wer darin wo seine Fußballkünste zeigt, will Geoff alles daransetzen, dieses Ausnahmetalent zu finden. Nur ist er gerade absolut verhindert. Also soll Mark ran, der gar nicht daran denkt, sich auf so eine windige Mission zu begeben. Und doch: Da ist der Reiz des Abenteuers, da ist der Reiz eines Jobs, der ihn deutlich mehr fordert als der alltägliche Kram seiner Techniktexte. Und so kann er nicht ganz davon lassen. Und auch wenn alles dagegenspricht, beginnt er eine Recherche, die ihn letztlich auf die Spur des Aufnahmeortes bringt: der hohe Norden von Benin, eine unwirtliche, nur schwer zu erreichende Gegend. Und tatsächlich macht er sich auf den Weg, wird jedoch nach langer Suche von seinem Bruder ausgebremst, der mit der gemeinsamen Mutter dann doch noch nicht von dem Projekt Godwin (so nennen sie das Talent) lassen konnte. Nicht bereit, sich auch noch auf einen familiären Konflikt einzulassen, scheut Mark den Wettbewerb um Godwin mit Geoff und kehrt nach Hause und an seinen Arbeitsplatz zurück.
Dort ist inzwischen durch das Ausscheiden der entscheidenden Führungspersönlichkeit in der Organisation eine Lücke entstanden, die durch eine Reihe von Umstrukturierungen und Umbesetzungen ausgeglichen werden muss. Im Geiste des liberal geführten Unternehmens soll das alles in vollkommenem Einvernehmen aller Beteiligten geschehen. Doch das geht vollkommen daneben, undurchsichtige Intrigen und Machenschaften führen zu einem Chaos im Führungsteam, in dem sich überraschenderweise auch Mark wiederfindet.
Am Ende des Romans sind dann die beiden weitgehend nebeneinanderstehenden Teile der Geschichte miteinander enger verwoben, ohne dass hier über das Ende gespoilert werden soll.
„Godwin“ ist in weiten Teilen mit einer schriftstellerischen Meisterschaft geschrieben. Die wechselnden Handlungsstränge sind durch überzeugende unterschiedliche Erzählerperspektiven voneinander unterschieden: Lakesha, die farbige Co-Geschäftsführerin der Genossenschaft, erzählt aus der Ich-Perspektive in den Teilen, in denen wir sie in die Bürogenossenschaft begleiten, und Mark erzählt aus seiner Perspektive, wenn wir uns in dem Fußballerzählstrang des Romans befinden. Dabei bekommt der Leser einen guten Einblick in die Gefühlswelt der Erzähler und nimmt dabei auch noch sehr gut die Stimmung in den Büros der Genossenschaft und auf Marks Europa-Afrika-Reise auf. Angereichert ist der Roman dann auch noch mit vielen kleinen Fußballstories aus der Geschichte realer populärer Spieler und Vereine. Deutlich schwächer fällt der Roman aber dann aus, als er in der zweiten Hälfte ausgiebig den windigen Fußballagenten Lefevre erzählen lässt. Hier blitzt nicht mehr schriftstellerisches Können auf, hier tritt auf vielen Seiten schon mal Langeweile auf.
Und doch bleibt das Fazit eines sehr lesenswerten, überraschenden Romans, der viele interessante Situationen gestaltet und Einblicke gibt in ungemein unterschiedliche Bereiche der Geschäftswelt.
„Godwin“ ist nicht nur für den Fußballmarkt ein „Gewinn Gottes“ sondern war auch für mich als Leser ein echter GEWINN mit 4-5 Sternen.
Zwei ungleiche Romanfiguren teilen sich in "Godwin" von Joseph O’Neill die Erzählerrolle, keine davon ist das titelgebende afrikanische Fußballtalent, das nicht Subjekt, sondern nur Objekt des Buches ist. Insgesamt dreimal kommt Lakesha Williams zu Wort, die es als schwarze Frau aus prekären Verhältnissen in Milwaukee mittels Studium zur Gründerin und Co-Leiterin einer Genossenschaft für freiberuflich tätige technische Redakteure in Pittsburgh gebracht hat. Ihr Problemfall im Einstiegskapitel ist ein langjähriges Mitglied mit neu aufgetretenen Verhaltensauffälligkeiten, Mark Wolfe, um die 40 und Ich-Erzähler der dazwischenliegenden beiden Abschnitte. Trotz seiner Beteuerungen über seine glückliche Ehe und Vaterschaft zeigt er depressive Züge, die neuerdings gelegentlich in Aggression umschlagen. Eine wissenschaftliche Karriere hat er verpasst und schreibt stattdessen als technischer Redakteur Förderanträge und Texte für medizinisch-pharmazeutische Unternehmen. Insgeheim ist er der Überzeugung, dass er damit sein Potential nicht ausschöpft und mehr Erfolg verdient hätte.
Brüder in Schwierigkeiten
Während einer unfreiwilligen Auszeit erreicht ihn ein Anruf seines jüngeren Halbbruders Geoffrey aus London, eines windigen Möchtegern-Fußballagenten, der dringend Marks Hilfe einfordert. Ermutigt von seiner Frau Sushila lässt Mark sich zunächst widerwillig auf diese Reise ins Ungewisse ein:
"Dann mache ich mich auf meine Reise über den Atlantik. Schließlich und endlich ist mir der Gedanke gekommen, dass der Bruder in Schwierigkeiten vielleicht gar nicht Geoff ist." (S. 48)
In London angekommen, findet Mark sich in einer ihm fremden Welt wieder, in der es um viel Geld, Ruhm, Macht und das Austricksen undurchsichtiger Konkurrenten geht. Dabei hat Geoffrey zunächst nicht mehr als das Video eines afrikanischen Fußball-Wunderkinds, das sich irgendwo auf diesem Kontinent befindet. Die Herausforderung weckt Marks Lebensgeister:
"Meine Zeit ist gekommen. Mir ist Gerechtigkeit widerfahren." (S. 157)
"Die Zeiten, in denen ich herumgeschubst worden bin, sind vorbei." (S. 164)
Ein Themenpotpourri
Joseph O’Neill, 1964 als Kind einer türkisch-irischen Verbindung in Cork geboren, in den Niederlanden aufgewachsen, lebt heute nach Stationen in Cambridge und London in New York. 2009 erzielte er mit seinem preisgekrönten Roman "Niederland" seinen bisher größten internationalen Erfolg. Er engagiert sich für die Demokraten und gegen die Wiederwahl von Donald Trump als Präsident, dessen erste Wahl in "Godwin" kurz bevorstand. Der Roman kombiniert auf intelligente Weise die Jagd nach einem westafrikanischen Fußballgenie mit den Spannungen in einer US-amerikanischen Bürogenossenschaft und greift dazu das Thema Familie in all ihren Facetten auf: biologische Familie, Adoption, glückliche, toxische, zerbrochene und wiedergefundene Familienbande. Daneben gibt es jede Menge Anekdoten zu berühmten Fußballern, Trainern und Spielen, detailliert porträtierte Nebenfiguren, Überlegungen zu Gesellschaft und Politik, Globalisierung, modernem Kolonialismus und vielem mehr, leider teilweise in Monologform. Beim gut 100 Seiten währenden Erzählmarathon eines alten französischen Fußballagenten mit oft ebenso antiquierten Ansichten über Afrika, Frauen, Rassen und postkoloniales Erbe dämmerte nicht nur Sushila gähnend weg, sondern vorübergehend fast auch ich.
Überraschende Wendungen
Davon abgesehen hat mich der Roman in großen Teilen gut unterhalten und viele Denkanstöße geliefert. Als Nicht-Mehr-Fußballfan fand ich die Intrigen um Macht, Ruhm und Geld in der kleinen Welt der Bürogenossenschaft sogar noch spannender als die im großen, absurd anmutenden Fußballgeschäft. Mit seinen zwar völlig unerwarteten, jedoch keineswegs unmöglichen Wendungen im letzten Abschnitt wird mir der Roman nachhaltig im Gedächtnis bleiben.
Mark Wolfe ist unzufrieden. Sein Job als technischer Redakteur erfüllt ihn nicht, die Boshaftigkeit der Welt plagt ihn. Als sein Halbbruder Geoff in England seine Hilfe benötigt, verlässt er erstmals die USA. Geoff arbeitet als Berater im Fußballbusiness und hat offenbar einen ganz dicken Fisch an der Angel. "Godwin" lautet der Vorname des afrikanischen Talents, dessen Videoaufnahmen an einen neuen Messi erinnern. Das Problem ist: Niemand weiß, wo genau dieser Godwin zu finden ist. Als Geoff verletzungsbedingt ausfällt, ist es an Mark, sich auf die anscheinend aussichtslose Suche zu machen...
"Godwin" ist der neue Roman des gebürtigen Iren Joseph O'Neill, der in der deutschen Übersetzung von Nikolaus Stingl bei Rowohlt erschienen ist. Es ist ein Roman, der mit den Konventionen bricht und über weite Strecken vieles richtig macht. Schade nur, dass das Niveau in der zweiten Hälfte verflacht und das Finale in seiner Überkonstruktion und seinem Zynismus gar ein echtes Ärgernis ist.
In "Godwin" gibt es zwei Erzählstimmen. Neben Mark ist es dessen Vorgesetzte Lakesha Williams, eine glatte Businessfrau, die Mark durch dessen Beurlaubung überhaupt erst ermöglicht, die Suche nach dem Fußballtalent zu beginnen. Joseph O'Neill gelingt es ganz hervorragend, diese beiden Erzählstimmen auch komplett unterschiedlich klingen zu lassen. Die einzige Gemeinsamkeit ist der auffällige Einsatz der indirekten Rede, wenn sie ihre diversen Gesprächspartner:innen zitieren. Ansonsten erzählt Lakesha so, wie sie arbeitet: schnörkellos, effizient, ein wenig unnahbar. Mark Wolfe ist das genaue Gegenteil. Er ist ein Grübler, ein Haderer, der mit sich und der Welt nicht im Reinen ist. Immer wieder scheint in seinen Ausführungen der studierte Biologe durch. O'Neill begegnet diesen zwei Stimmen mit feinem Humor und Überspitzungen, die "Godwin" gerade zu Beginn zu einer unterhaltsamen und klugen Lektüre machen, auch wenn ihm einige Passagen dabei zu geschwätzig geraten.
Insbesondere die Teile, die von Mark erzählt werden, sind in der ersten Hälfte große Kunst. In den tragikomischen Ausführungen und dem absurden Humor erinnern sie in den besten Momenten gar an Knut Hamsuns "Hunger". Außerdem streut O'Neill immer wieder philosophische Ausführungen ein, denen man sich als Leser:in mit Genuss hingibt. Ein weiterer Pluspunkt sind die immer wieder mit viel Charme und Liebe eingestreuten Anekdoten aus der Fußballwelt. Ob Ernst Happel, Eusébio oder Youri Djorkaeff - O'Neill hat wunderbar recherchiert und schafft es, diese kleinen Schnipsel in die Handlung rund um "Godwin" einzustreuen, ohne dass dies bemüht wirkt.
Verantwortlich für diese Fußballgeschichten zeichnet übrigens Jean-Luc Lefebvre, ein französischer Talentscout, der zugleich die präsenteste Nebenfigur des Romans ist. Und dieser Lefebvre ist kurioserweise gleichermaßen in nicht geringem Maß dafür verantwortlich, dass sich die erste Hälfte eben so gut und unterhaltsam liest, die zweite aber zu einem Reinfall wird.
Denn in einer nahezu unerträglich langen Szene lässt O'Neilll Lefebvre Mark Wolfe und seine Frau Sushila in den USA besuchen. Auf sage und schreibe mehr als 100 Seiten erzählt Lefebvre von dessen Erlebnissen in Afrika und seiner Suche nach Godwin - und damit etwa ein Viertel des gesamten Buches. Unterbrochen wird dieser mit der Zeit unglaublich langweilige Monolog durch wenige Einschübe von Mark und Sushila oder von ein paar Streicheleinheiten für Marks Hund. Der Autor und Dramaturg Roland Schimmelpfennig, selbsternannter Kämpfer gegen die literarische Geschwätzigkeit, hätte seine helle Freude am Zusammenstreichen dieser Szene. Lefebvre lässt sich über afrikanische Mythen und Vorurteile aus und kommt dabei vom Hölzchen aufs Stöckchen.
Eine Schwäche, über die man noch hinwegsehen könnte, wenn da nicht auch noch das vermaledeite Ende des Buches wäre. Im letzten Abschnitt kommt wieder Lakesha zu Wort. O'Neill macht daraus eine Wundertüte. Ohne zu viel verraten zu wollen, bricht das Finale nicht nur mit inhaltlichen und erzählerischen Konventionen, sondern präsentiert der mittlerweile ermatteten Leserschaft eine Überraschung nach der anderen. Kann man machen, wäre das nicht alles so furchtbar überkonstruiert, unglaubwürdig und zynisch. O'Neill begeht darin den Fehler, selbst mit der Figur Godwin zu spielen - dabei ist es noch die kleinste zynische Anekdote, dass der Namensgeber des Buches nicht ein einziges Mal während der knapp 430 Seiten wirklich zu Wort kommt. Sprich: Die vordergründige Kritik des Romans am Fußball-Business und an der Globalisierung hintergeht der Autor selbst mit diesem vor Zynismus nur so triefenden Finale. Ein echtes Eigentor in der Nachspielzeit!So hinterlässt "Godwin" trotz der lesenswerten ersten 250 Seiten einen schalen Beigeschmack und ein Gefühl der Ernüchterung.
Joseph O'Neill wurde 1964 als Sohn eines irischen Vaters und einer türkischen Mutter in Cork, Irland, geboren und wuchs in den Niederlanden auf. Er studierte Jura an der Universität Cambridge und arbeitete als Anwalt in London. 1998 zog er nach New York. Dort lebt er heute mit seiner Familie. Sein Roman „Netherland“, der 2008 veröffentlicht wurde, wurde 2009 mit dem PEN/Faulkner Award ausgezeichnet.
Sein nächster Roman „Der Hund“ wurde für den Man Booker Prize 2015 nominiert.
In seinem herausragenden Bestseller „Netherland“ betrachtet er den Sport Cricket als ästhetisches und politisches Ideal, während er nun in „Godwin“ über Fußball schreibt.
Der Hauptplot der Geschichte ist rasch erzählt, aber Joseph O'Neill erweitert ihn um eine tiefgründige und umfassende Analyse unserer Zeit. Er setzt Fußball als Metapher eines Milliardengeschäfts rund um den Globus ein.
Zunächst stellt der Autor O`Neill uns seine Akteure vor.
Der Roman beginnt mit dem Kapitel „L“, in dem die Icherzählerin Lakesha Williams vorgestellt wird. Zusammen mit Annie leitet sie die P4-Group, eine Genossenschaft technischer Redakteure in Pittsburgh. Die P4-Group ist als Genossenschaft organisiert, wodurch alle Mitglieder ein Mitspracherecht haben und monatliche sowie jährliche Beiträge zahlen. Der Beruf des technischen Redakteurs wird als anspruchsvoll beschrieben, was zu hoher Fluktuation führt. Die P4-Group wurde von vier Frauen gegründet, von denen zwei die Leitung innehaben. Ein Problem der Group ist der „Männermangel“, was ihnen peinlich ist, da sie nicht als Feministinnen gelten wollen. Lakesha beschreibt das Großraumbüro als Teil eines „Arbeiterparadieses“ mit modernen Arbeitsplätzen und gemeinschaftlicher Reinigung, an der auch die Chefs teilnehmen.
Mark Wolfe wird als seltsam, aber auch charismatisch beschrieben, obwohl ein Kunde ihn als außerordentlich unhöflich und wenig hilfsbereit empfindet. Wolfe selbst ist davon überzeugt, dass der Kunde "dumme und respektlose Forderungen" stellt (vgl. S. 15). Er durchläuft eine Phase emotionaler Instabilität und mangelhafter Selbsterkenntnis, was von der Gruppe wahrgenommen wird. (vgl. S. 17)
Im zweiten Kapitel „M“ tritt Mark Wolfe als Icherzähler auf. Ein prägendes Erlebnis im Winter, bei dem er eine Frau durch eine Schaufensterscheibe beobachtete, wie sie ein Eis aß, führte ihn zu einer Reflexion über sein eigenes Spiegelbild im Schaufenster. Er sieht einen verwahrlost aussehenden Mann mittleren Alters, dessen Empfinden gestört ist, als er eine ältere Frau beim Eisessen beobachtet. (vgl. S. 27)
Geoff, Marks Halbbruder, ruft ihn an und bittet ihn nach England zu kommen, da er dort ein "interessantes Geschäft" sieht. Trotz anfänglicher Bedenken überredet Marks Frau ihn schließlich, der Bitte nachzukommen, da er seinen Bruder schon lange nicht mehr gesehen hat. Geoff besitzt ein Video von einem bemerkenswert talentierten jungen Fußballspieler, den Mark dabei helfen soll, zu finden. Unterstützt wird er dabei von einem Franzosen namens Lefebvre.
Die Suche nach Godwin beginnt.
Joseph O'Neill untersucht in seinem Roman "Godwin" die Komplexität der Globalisierung und des modernen Fußballs als kulturelles Phänomen. Er nutzt den Sport geschickt als Rahmen, um tiefgreifende Themen wie Globalisierung, Kapitalismus und die Suche nach Talenten aus verschiedenen Teilen der Welt zu erforschen. Durch sorgfältig entwickelte Charaktere und ihre miteinander verwobenen Geschichten entsteht eine Erzählung von großer Vielschichtigkeit und Tiefe. Zentral steht dabei die Figur des Godwin, die als Metapher für ein unentdecktes, großes Talent fungiert und dem Roman eine mystische Dimension verleiht. Besonders hervorzuheben ist O'Neills Betonung auf Afrika als bedeutende Quelle für unentdeckte Fußballtalente, was sowohl ökonomische Chancen als auch kulturelle Herausforderungen beleuchtet. Der Roman bietet durch Geschichten innerhalb von Geschichten verschiedene Perspektiven und behandelt Themen von persönlichen Träumen bis hin zu globalen Ambitionen. Insgesamt reflektiert der Roman "Godwin" über Identität, Werte und die Suche nach Erfolg in einer zunehmend vernetzten Welt im Zeitalter der Globalisierung. Fußball dient hier nicht bloß als Thema an sich, sondern vielmehr als Metapher für tiefgreifende gesellschaftliche und kultureller Fragen, die O'Neill anspricht, darunter Kolonialismus, Sklaverei, Vertreibung, Migration sowie die Geschichte und die zukünftigen Perspektiven Afrikas.
Der Schreibstil ist zwar sachlich, doch die Fabulierlust ist deutlich zu spüren. Humor und satirische Einblicke kommen dabei nicht zu kurz.
Fazit
Die Erzählung „Godwin“ nimmt unerwartete und faszinierende Wendungen, aber was mich wirklich überrascht hat, war die parallele Geschichte von Lakesha, der Gründerin einer Schreibkooperative. Lakesha ist wohlmeinend und strebt danach, fair und ehrlich zu handeln, obwohl sie manchmal ausgenutzt wird. Ihre Geschichte und die von Wolfe überschneiden sich nur gelegentlich. Anfangs war ich darüber verwirrt, aber ich las weiter, um zu sehen, wie O'Neill diese beiden Handlungsstränge miteinander verweben würde. Meiner Meinung nach gelingt es ihm ziemlich erfolgreich, die verschiedenen Erzählungen zu verbinden und eine stimmige Gesamterzählung zu formen.
Das Ende ist überraschend.
Im Fußball gab es das „Sommermärchen“ im Jahr 2006. Jetzt wiederholt es sich 2024, wenn auch in etwas anderer Form.
Kurzmeinung: Intelligente Unterhaltung - man sollte sich freilich für Sport und sein Drumherum interessieren.
Der Autor, Joseph O’Neill, schrieb bereits diverse Romane, darunter „Niederland“, das 2009 mit dem PEN/Faulkner Award ausgezeichnet wurde. Er widmet sich zeitgenössischen Themen. Mit „Godwin“ bereist der Leser den Benin, einen weitgehend weißen Flecken auf der inneren Landkarte der meisten Europäer. Hier, irgendwo im Nirgendwo – aus Sicht der Fußballscouts – befindet sich ein Fußballwunderkind, mit dem man Geld machen könnte.
Der Kommentar und das Leseerlebnis:
Fußball ist ein Geschäft. Und zwar eines, in dem man unter Umständen mit harten Bandagen gegeneinander kämpft. Diesen Umstand bringt O’Neill dem Leser nahe. Diverse Fußballscouts konkurrieren miteinander um das kostbare „Spielermaterial“.
Die Helden des Romans „Godwin“ sind allesamt Antihelden, allen voran, Mark Wolfe, ein Mann mit prekärem familiärem Hintergrund, der eigentlich in London als technischer Redakteur ein Auskommen hat, aber von seinem Bruder in das windige Fußballgeschäft hineingezogen wird. Auch Lakesha Williams ist eine Antiheldin, obwohl es zunächst nicht den Anschein hat. Sie leitet eine Agentur für technische Redakteure, vermittelt ihnen Jobs und vermietet ihnen Büros. Lakesha Williams kümmert sich gegen eine Gebühr um den ganzen bürokratischen Schnickschnack samt Internetauftritt, so dass die Redakteure sich ganz auf ihre eigentliche Arbeit konzentrieren können. Auch Mark Wolfe gehört ihrer Klientel an.
Dieser Agentur-Handlungstrang, mit dem der Roman tatsächlich beginnt und keineswegs mit dem Thema Fußball losprescht, erweist sich als unerwartet interessant und spannend. Im weiteren Verlauf wird man auch im Büroalltag und nicht nur im Fußballgeschäft mit dem konfrontiert, was der nachdenkliche und oft zynische Redakteur Wolfe „die Finsternis der Dummheit“ nennt. Wolfe hat theoretisch eine pessimistisch-reale Sicht auf die Welt, erliegt aber im praktischen Handeln dennoch manchmal der unrationalen Sehnsucht nach einer heilen Welt. Er ist eine gebrochene, sehr reizvolle Figuer, die in einen charmanten Gegensatz zu der pragmatischen Figur der Fimenleiterin gesetzt ist, beide interagieren notgedrungen miteinander, weil "das Schicksal" in Form von Joseph O'Neill es so will und er die Gegebenheiten entsprechend arrangiert. Diese beiden Figuren bestimmen weitgehend den Charakter des Romans.
Insgesamt besticht der Roman insbesondere durch seine Sidekicks und seine losen Zusammenhänge, da kommt Vieles aufs Tapet, die Sicht arroganter Europäer auf Afrika, die Geldgier im Fußballgeschäft, die „Finsternis der Dummheit“, soll heißen, nicht Argumente gewinnen einen Konflikt und sind sie noch so wahr, sondern irrationaler Populismus und die dazugehörigen ungezügelten Emotionen. Da kann man nur die Waffen davor strecken, oder?
Sehr launig führt der Autor durch seinen Roman; philosophische Kurzreflexionen, die es immer wieder auf den Punkt bringen, Fussballeranekdoten und Legenden, unerwartete Wendungen und erzählerisches Geschick kommen hier zusammen.
Fazit: „Godwin“ hat mich sowohl oft überrascht wie auch sehr gut unterhalten.
Kategorie: Sehr gute Unterhaltung
Verlag Rowohlt, 2024
REZENSION – Mit seinem Romandebüt „Die Unperfekten“ über die Welt des Journalismus gelang dem langjährig erfahrenen britischen Auslandskorrespondenten Tom Rachman (50) vor 15 Jahren auf Anhieb ein internationaler Bestseller. Seitdem arbeitet er als freier Schriftsteller. Auch sein aktueller, im Juni beim dtv-Verlag veröffentlichter Roman „Die Hochstapler“ handelt vom Schreiben und schildert in einzelnen, voneinander völlig unabhängigen Episoden mit jeweils anderer Hauptfigur die Vielschichtigkeit des Lebens aus subjektiver Perspektive ihres jeweiligen Protagonisten. Ungewöhnlich an Rachmans raffiniert aufgebautem Roman ist auch, dass nicht er selbst als Autor uns diese Geschichten erzählt, sondern dies einer von ihm erdachten Schriftstellerin überlässt.
Die seit Jahren allein in ihrem Londoner Haus lebende holländische Schriftstellerin Dora Frenhofer (74), deren Romane längst Ladenhüter sind und deren letztes Manuskript vom Verlag abgelehnt wurde, denkt nun über ihr Ende nach: „Ich sollte dieses Leben bald zu Ende bringen, findest du nicht?“. Doch es gibt ein Problem: „Handle zu früh, und du bringst dich um einen lebenswerten Teil deines Lebens. Handle zu spät, und du handelst nie." In diesem Zwiespalt will sie doch noch einen letzten Roman schreiben. Woher aber soll sie ihre Anregungen bekommen, wenn sie während der Corona-Lockdowns im Haus isoliert ist? Ihr kommt die Idee, einen autobiografischen Rückblick zu verfassen. „Jedes zweite Kapitel aber wird sich einer anderen Figur widmen. Und somit stellt sich ein Problem. Leser wollen, dass der Text sich zu etwas Einheitlichem fügt, nicht zu vielerlei. Meine Figuren muss also irgendwas verbinden.“ So besinnt sie sich auf Personen, die im Laufe ihres eigenen Lebens eine Rolle gespielt haben.
Hier zeigt sie die zweite Raffinesse in Tom Rachmans Buch. Denn dieser Roman hat keine durchgängige Handlung. Jedes „zweite Kapitel“ ist eine völlig eigenständige Erzählung über das Leben einer jeweils anderen Hauptfigur. So erfahren wir in einer Episode von Doras verschollenem Bruder Theo, der sich in Indien unter anderem Namen eine Existenz aufgebaut hat, in einer anderen von ihrer Tochter Rebecca, die in Los Angeles Gags für Comedians schreibt. Auch zu ihr hat Dora seit unzähligen Jahren keinen Kontakt. Als bindungsunfähig und egoistisch hat sich Dora schon vor Jahrzehnten auch in Paris in ihrer Liaison mit dem erfolgreichen Gastro-Kritiker Alan erwiesen. Ihn lernen wir als inzwischen alten Mann kennen, den die Branche längst abgeschrieben hat und der seinen behinderten, damals von Dora verlassenen Sohn umsorgt.
Auch an Zufallsbegegnungen erinnert sich die Schriftstellerin: Amir (29), Sohn einer Französin und eines Syrers, der von London aus zur Beisetzung seines Vaters nach Syrien fährt, dort willkürlich in Haft genommen wird und im Gefängnis auf seinen bis dahin unbekannten Halbbruder Khaled trifft. Emotional besonders stark beeindruckend ist die Geschichte um Morgan Willumsen, die die Todesstrafe für die Mörderin ihrer zwei kleinen Kinder fordert, am Ende aber doch zur Verständigung bereit ist. Aus dem Füllhorn eigener Branchen-Erfahrungen scheint Tom Rachman in der recht sarkastischen Episode über den erfolglosen Schriftsteller Danny Levittan zu schöpfen, der auf einem Festival in Australien nicht einmal seine Bücher signieren darf, da der Verlag unverkaufte Exemplare mit Autogramm nicht zurücknimmt.
Tom Rachman zeigt in seinem neuen Roman anhand der einzelnen, für inhaltliche Abwechslung sorgenden Episoden, die alle durch Doras zwischengeschobene Tagebucheinträge lose verbunden sind und deren jeweilige Protagonisten schließlich im überraschenden Schlusskapitel noch einmal alle der Reihe nach auftreten, die menschlichen Schwächen seiner Charaktere und die Unsicherheiten, mit denen sie im Leben zu kämpfen haben. Wir Menschen scheitern allzu oft an zu hohen Erwartungen seitens der Gesellschaft oder an denen, die wir an uns selbst stellen. Wir leben in einer täglichen Balance zwischen Erfolg und Absturz, zwischen Schein und Sein, Traum und Wirklichkeit, zwischen Täuschung anderer und Selbsttäuschung.
Auch wenn jede Episode für sich allein schon als in sich abgeschlossene Erzählung ihren eigenen Stellenwert hat, fasziniert der Roman insgesamt durch die eben dadurch geschaffene Vielschichtigkeit. Da kann es sogar passieren, dass man beim Lesen vergisst, dass nicht die erzählende Schriftstellerin Dora Frenhofer den Roman „Die Hochstapler“ geschrieben hat, ist sie doch nur eine weitere fiktive Romanfigur, sondern dass der wahre Autor dieses interessanten und lesenswerten Romans der britische Schriftsteller Tom Rachman ist.
Tom Rachman ist mit seinem Roman „Die Hochstapler“ ein kleines Kunststück gelungen, denn obwohl der Roman keine lineare, durchgängige Handlung hat, wird man als Leser ganz tief in ihn hineingezogen. Woran das liegt? Rachman ist ein wahrer Meister der Figurengestaltung und so schafft er es in seinem episodisch wirkenden Text in jedem Kapitel Interesse an Leben und Charakter des jeweiligen Protagonisten zu wecken, manchmal in solchem Maße, dass man gar vergisst, dass es sich hier wieder nur um einen weiteren „Romanbeginn“ handelt – denn genau darum geht es in „Die Hochstapler“.
Rachmans Roman ist eine Ansammlung von Romananfängen, von ersten Kapiteln, erdacht von der alternden und unter beginnender Demenz leidenden Dora Frenhofer. Jedem Kapitel ist ein kleinerer Abschnitt „fiktionaler Realität“ vorangestellt, in dem eine Begebenheit aus Doras Alltag, z.B. eine Begegnung mit einem Lieferanten, eine Erinnerung an den verlorenen Bruder, präsentiert wird. Bruchstücke aus dieser „fiktionalen Realität“ finden sich dann im Folgekapitel wieder, in dem ganz tief in das Seelenleben, die Motivationen und Tragödien einer immer wieder anderen Hauptfigur eingedrungen wird. Dennoch stehen diese Episoden nicht lose nebeneinander. Das verbindende Element der Einzelkapitel bleibt neben Dora, die meist weit in den Hintergrund gerückt als Nebenfigur auftaucht, das Schreiben bzw. die Literatur. Jedes Kapitel greift in irgendeiner Form Schreib- und Leseprozesse auf und befasst sich durchaus kritisch mit der Produktion und Rezeption von Geschriebenem. Darüber hinaus sind alle Hauptfiguren und Dora selbst thematisch durch den Begriff „Hochstapler“ verbunden, denn alle Figuren werden von ihrer Umwelt anders wahrgenommen als sie sind, wären gern anders oder werden durch zu viel Passivität in Situationen gedrängt, in denen sie als Lügner wahrgenommen werden.
Was den Roman neben seiner überaus detaillierten, genauen und begeisternden Figurenzeichnung auszeichnet, ist die Tatsache, dass er gleichzeitig einen durchaus ironischen Kommentar auf das Handwerk der Schriftstellerei liefert. Wie oft wird davon ausgegangen, dass Autoren Begebenheiten aus ihrem eigenen Leben verarbeiten? Es ist wohl eine der häufigsten Fragen auf Lesungen. Dass dies so ist – oder eben gerade nicht – mit dieser Annahme spielt Rachman auf höchstem Niveau. Denn interessanterweise sind Doras populärstes Werk ihre Memoiren, während eine „ihrer“ Figuren, ein Autor auf Lesereise wiederum komplett erfolglos ist, weil er nur aus seinem Leben berichtet. Angereichert wird diese ambivalente Betrachtung von Literatur durch bissige, mitunter sicherlich reaktiönar anmutende, Momente, in denen der Text sich in sehr deutlicher Gesellschaftskritik übt – diese Einwürfe sind gerade deshalb so amüsant wie erhellend, weil sie komplett von einer didaktischen Absicht befreit sind und trotzdem recht leichtfüßig daher kommen, denn der Roman ist einfach gut geschrieben: er zeichnet sich durch einen flüssigen und lesbaren Stil aus, der sich jeweils der Hauptfigur des Kapitels anzupassen scheint.
„Die Hochstapler“ ist ein überaus intelligenter, sehr innovativer Text, der für Leser, die Freude an Metafiktion, dem Literaturbetrieb, treffender Gesellschaftskritik und ausgereifter Figurenzeichnung finden, sehr viel zu bieten hat. Die einzelnen Zusammenhänge und Versatzstücke zu erkennen und zu verbinden, bietet dazu auch noch ein wenig Rätselfreude. Für Leser, die es nach einer durchgehenden Story verlangt, halte ich den Roman jedoch für weniger geeignet.
Der 73-jährigen Schriftstellerin Dora Frenhofer ist im Laufe ihres Lebens kein großer literarischer Wurf gelungen. Am besten verkauften sich vor Jahren ihre Memoiren – Sex sells. Nun will sie es noch einmal wissen und einen letzten bedeutenden Roman schreiben. Dora lebt sehr zurückgezogen, ihre beginnende Demenz lässt ihre Gedanken in die Vergangenheit treiben. Sie trifft dort ehemalige Weggefährten wieder, verarbeitet eigene Erfahrungen in und um die Literaturwelt, vermischt Reales mit Fiktivem. Die genaue Zusammensetzung bleibt dem Leser lange verborgen. Erst am Ende erhält er Klarheit über den besonderen Coup: Ja, Dora hat wahrhaftig ein wunderbares Buch geschrieben!
Der Roman gliedert sich in neun Kapitel, in denen meist eine mit Dora in Zusammenhang stehende Figur in den Fokus gestellt wird. Quasi als Ein- und Überleitung liest man dazu einen datierten Tagebucheintrag, in dem eine Begebenheit beschrieben wird, die für das nachfolgende Kapitel die Inspiration liefert. Es fällt z.B. ein Stichwort, eine Zeitungsschlagzeile wird gelesen oder ein Erlebnis, eine Erinnerung ploppt auf - und später taucht genau dieses im Romangeschehen auf. Das Wiedererkennen erfreut den aufmerksamen Leser.
Zunächst fühlen sich die einzelnen Kapitel wie voneinander losgelöste Erzählungen an. Das Großartige: Jede kann tatsächlich für sich alleine stehen, hat alles, was einen guten Text ausmacht. Die Verbindungen zur Autorin Dora erscheinen anfangs lose. Erst mit zunehmender Lektüre tun sich die Zusammenhänge auf. Es werden dabei verschiedene Erzählebenen auf unterhaltsame Weise vermischt, Figuren tauchen erneut auf. Kapitel 1 und 9 (beide lautend „Die Autorin“) bilden dabei einen bewegenden Erzählrahmen.
Thematisch gestalten sich die Kapitel sehr vielseitig. Es geht um persönliche Tragödien, um ungelebte Sehnsüchte, um Liebe, Einsamkeit, Alter und Sterben sowie um eine facettenreiche Betrachtung des Literatur- und Kunstbetriebs, der einer kritischen Betrachtung nicht standhält. Auch die Corona-Pandemie wird thematisiert, ohne zu dominieren. Weitere gesellschaftsrelevante Themen bieten Reflexionsfläche. Freilich hat Tom Rachman, seit Jahrzehnten Journalist und Autor, hier seinen reichen persönlichen Erfahrungsschatz einbinden können. Das Motiv des Hochstaplers taucht in unterschiedlichen Auslegungen auf und regt zum Nachdenken an.
Komische, tragische und tragikomische Momente lösen sich ab, das Lachen bleibt oft im Hals stecken, langweilig wird es nie. Beeindruckend sind die vielschichtigen Charaktere, die innerhalb jedes Kapitels ausgearbeitet werden und sich entwickeln dürfen. Rachman muss ein exzellenter Beobachter menschlichen Verhaltens sein. Der famose Geschichtenerzähler gestaltet seine Figuren und seinen Plot wie aus dem Leben gegriffen. Es könnte tatsächlich alles so gewesen sein. Nebenbei wird der Schreibprozess veranschaulicht: wie der Autor seine Inspirationen aus dem echten Leben zieht, verändert, ergänzt, streicht, verfremdet und völlig neu zusammenstrickt. Wohl dem, der dieses Metier so gut beherrscht wie Tom Rachman!
Das raffinierte Ende rundet den Roman perfekt ab und macht ihn für mich zu einem Lese-Highlight, das Denkprozesse in Gang bringt, dabei unterhaltsam, aber niemals flach ist. Kompliment an die kongeniale Übersetzung von Bernhard Robben.
Riesige Lese-Empfehlung!
Dora Frenhofer (73), eine Autorin mit niederländischen Wurzeln, ist lebensmüde. Ihre fortschreitende Vergesslichkeit bereitet ihr Sorge. Auf ihren Abgang bereitet sie schon vor. Doch einen allerletzten Roman möchte die zuletzt erfolglose und alleinstehende Schriftstellerin noch vor ihrem Tod schreiben…
„Die Hochstapler“ ist ein Episodenroman von Tom Rachman.
Die Struktur des Romans ist gut überschaubar, jedoch geschickt komponiert. Erzählt wird im Präsens aus wechselnden Perspektiven: zweimal aus der Sicht der Autorin, nämlich zu Beginn und am Schluss, sowie jeweils aus der von sieben weiteren Figuren. Zwischen den neun Kapiteln sind Tagebucheinträge eingefügt. Die Handlung spielt an unterschiedlichen Orten auf der Welt und in verschiedenen Jahren.
In sprachlicher Hinsicht hat mich der Roman ebenfalls überzeugt. Rachman gelingt es, unterschiedliche Erzählstimmen zu schaffen und dabei jedes Mal seine schriftstellerische Kunstfertigkeit und sprachliche Raffinesse zu beweisen.
Die Figuren sind allesamt originell, interessant, lebensnah und mit psychologischer Tiefe ausgestaltet. Neben der Protagonistin Dora sind die übrigen Hauptcharaktere mehrere Personen, denen die Autorin begegnet ist oder die mit ihr in Beziehung stehen: beispielsweise ihr verschollener Bruder Theo und ihre Tochter Beck. Mit Vergnügen habe ich die Verbindungen untereinander entdeckt.
Auf inhaltlicher Ebene geht es vor allem um das Schreiben und die Arbeit von Autoren. Wie entsteht aus Fakten Fiktion? Wie wird erzählt? Wie funktioniert der Literaturbetrieb? Welche Aufgaben haben Schriftsteller außer dem Schreiben an sich? Wie ticken solche Menschen? Mit teils zynischem, teils humorvollen Blick werden die Branche und ihre Vertreter beleuchtet. Auf vielseitige Weise illustriert die Geschichte das literarische Schaffen. Dabei wird klar: Sie alle sind Schwindler, Betrüger oder Wahrheitsverdreher, sowohl in ihrer Selbstdarstellung als auch in ihren Werken. Dieses Hauptthema greift das auffällige Cover auf. Auch aktuelle Themen und Aspekte wie die Pandemie und Diversität greift der Roman auf.
Auf den rund 400 Seiten sind die einzelnen Episoden sehr abwechslungsreich und unterhaltsam. Sie wühlen auf und schockieren, sie berühren emotional, sie überraschen, sie machen nachdenklich und geben ungewöhnliche Einblicke. Kurzum: Sie bieten all das, was gute Literatur leisten kann.
Nur ein kleines Manko weist die deutsche Ausgabe für mich auf: Die zu wörtliche Übersetzung des Originaltitels („The imposters“) ist nach meiner Ansicht nicht ganz glücklich, da es falsche Assoziationen weckt.
Mein Fazit:
Mit seinem neuen, raffinierten Roman hat Tom Rachman wieder einmal meine hohen Erwartungen erfüllt. „Die Hochstapler“ gehört nicht nur zu meinen Lieblingsromanen des aktuellen Lesejahrs, sondern auch darüber hinaus. Unbedingt lesenswert!
Tom Rachman stellt in diesem Roman "Die Hochstapler" die Schriftstellerin Dora Frenhofer in den Mittelpunkt, sie ist der Dreh und Angelpunkt, denn sie will mit etwas über 70 Jahren ihren letzten Roman schreiben. Hatte man am Anfang vielleicht noch den Eindruck, dass diese Tätigkeit sie Zeit ihres Lebens erfüllte, hat man im weiteren Verlauf immer mehr das Gefühl, dass dies schon lange nicht mehr der Fall war. Im Gegenteil, sie hat mit Zweifeln zu kämpfen, und mit Einsamkeit, und all dies vereint sie in ihrem Versuch ein neues Buch zu schreiben, kompensiert sie in diesem Werk, an dem wir als Leser teilhaben dürfen.
Die Einzelschicksale wirkten auf mich zu Beginn fiktiv, doch es kristallisierte sich schnell heraus, dass fast alle Charaktere Vorbilder in ihrem echten Leben haben. Einige spielen nur eine untergeordnete Rolle, ein Bote zum Beispiel, aber auch ihr Geliebter, eine Freundin, der verschollene Bruder, und auch ihre Tochter Beck, finden Raum.
Spaß gemacht haben mir vor allem die Verknüpfungen zwischen den einzelnen Kapiteln, es sind oft nur winzige Details, aber man findet sie.
Die beschriebenen Personen und deren Erlebnisse sind oft an die schriftstellerische Tätigkeit angelehnt, was mich oft vermuten ließ, ob nicht hier der Autor und nicht Dora uns von seinen Ängsten erzählt. Sei es drum, die Handlung nimmt dadurch keinen Schaden, denn Rachman kann schreiben.
Außerdem nimmt sich Tom Rachman nebenbei vieler Themen an, die wichtig im Leben sind, wie zum Beispiel wie Menschen im Alter zurecht kommen sollen, auch die Einsamkeit, die durch Corona ausgelöst wurde, findet man. Eingebettet, ohne erhobenen Zeigefinger, schmiegen diese Aspekte sich in die Handlung mit ein.
Der Roman konnte mich fesseln, und ich habe ihn sehr gern gelesen, auch wenn man sich, gerade zu Anfang, erstmal zurecht finden muss. Von mir gibt es auf jeden Fall eine klare Leseempfehlung!
In der Story begegnen wir Dora, einer alten Frau, die sich sowohl am Ende ihres Lebens wähnt, als auch das Ende ihrer schriftstellerischen Karriere kommen sieht. Einmal noch möchte sie alle Kräfte bündeln, um einen nennenswerten Erfolg Auf dem
Buchmarkt einzufahren.Die Episoden, die Dora den Plot dazu liefern sollen, versammelt der Autor Tom Rachmann in seinem Roman „Die Hochstapler“. Wir begegnen im Verlauf der Geschichte mehreren Gestalten - nicht immer ist klar, ob die von Dora zu Papier gebrachte Geschichte sich so oder auch nur so ähnlich angespielt hat: Dora ist eine eher unzuverlässige Erzählerin - und das nicht nur ihres Alters wegen. Sie tut, was sie immer getan hat, sie biegt sich die Realität zurecht, spielt mit dem Leser, schafft Fiktion. Ihr Halbbruder Theo - ist er wirklich in Indien zu Tode gekommen? Ihren Ehemann Barry, existiert er überhaupt? Die Erzählungen, die hier aneinander gefügt werden, sind manchmal genial, manchmal aber auch schwer zu verdauen. Es geht darin nicht nur um Doras Einsamkeit, ihr scheinbar nicht überzeugendes Verhalten als Mutter oder die Probleme während der Corona Pandemie - es geht auch um sehr grausame Themen wie zum Beispiel Folter oder Abtreibung. Der Roman ist gut geschrieben, dennoch habe ich den Text aufgrund der detailreichen Schilderung einiger Grausamkeiten nicht immer genossen.
„Ein Roman ist, was man selbst geschaffen hat, Memoiren sind, was einen geschaffen hat.“
Mit dieser Lebensweisheit umreißt Dora Frenhofer, die Titelheldin in Tom Rachmans Roman „Die Hochstapler“, nicht nur ihr Dasein, sondern auch die Arbeitshypothese für ihr Bücherschreiben. Einer Welt voller Begegnungen und Einsamkeit, Versuchen und Misserfolgen, blutfrischen Menschen und Hirngespinsten. Mal schwarzhumorig, mal lakonisch, oft in einer klugen, aber düsteren Stimmung. Das Buch erzählt in scheinbar voneinander gelösten Episoden von den Schicksalen illustrer Außenseiter. Autoren, Politiker, Gewaltopfer, Sternchen aus dem Schowbiz, aber allesamt Hochstapler. Erst nach und nach entwickeln sich Zusammenhänge, bilden ein immer dichteres Netz zwischen diesen Figuren, die gleichsam auf unterschiedlichen Erzählebenen aufeinandertreffen. Aber zu viel sei nicht verraten – auch nicht, was es mit der Hochstapelei auf sich hat –, denn nicht zuletzt steht die Schriftstellerin Dora im Mittelpunkt dieses Episodenromans. Eine starke Frau mit festen Vorsätzen und ohne Illusionen. Sie verfügt über einen klaren Willen, ihr Leben in die Hand zu nehmen und als gealterte Künstlerin zu reflektieren, wie ihre Memoiren nun aussehen.
Für mich ein empfehlenswertes Buch für nachdenkliche Stunden über ein raffiniert und meisterhaft geschriebenes Werk. Alle, die Daniel Kehlmanns „Ruhm“ mögen, dürften auch hier auf ihre Kosten kommen.
Dora Frenhofer blickt auf eine durchwachsene Schriftstellerkarriere zurück. Noch ein letztes Mal will sie sich an einem Roman versuchen und dem Literaturbetrieb ihre Fähigkeit beweisen. Sie beginnt mit dem Schreiben, das ihr ziemlich schwer fällt und, versunken und verloren in Momenten und flüchtigen Begegnungen Geschichten, imaginiert sie Geschichten der Gegenwart, denen sie ihre eigene persönliche Note verleiht.
Meine persönlichen Leseeindrücke
"Die Hochstapler" ist ein Roman, unter dem ich mir eigentlich etwas anderes vorgestellt habe. Anstelle von Schwindlern zu lesen, entdeckte ich ein Buch, in dem die Protagonistin Dora Frenhofer am Ende ihrer künstlerischen Laufbahn ein letztes Werk schaffen will und dafür Momentaufnahmen und Bekanntschaften aus ihrem Leben in Kurzgeschichten verpackt, ganz nach dem Vorbild der großen russischen Schriftsteller. Jede einzelne Geschichte zeichnet ein Schicksal, wie es im Leben vorkommen kann, mit einer Pointe am Schluss, die mich mehr als einmal perplex zurücklässt.
Obwohl ich es nicht so gerne mag, wenn ein Roman immer wieder mit eingeschobenen Zwischengeschichten unterbrochen wird, finde ich hier den Mix gelungen. Zum einen, weil Rachman die Beziehung zu Dora aufrechthält, und ich sie sozusagen als meinen roten Faden betrachte, zum anderen, weil die Übergänge und die Rückführungen zu Dora handwerklich sauber und klar sind. Zudem weiß ich jetzt, dass nach jedem Kapitel Dora mit ihrem Tagebucheintrag an die Reihe kommt, eine Konstante, die Ruhe in die Handlungen bringt.
Tom Rachman weiß genau, wie er mich durch seine Geschichte führen muss, wie er mein Interesse anspornen kann und wieviel Information ausreicht, um meine Neugierde zu wecken, die ein Weiterlesen unaufschieblich macht. Dabei wählt er stets das richtige Maß an Zuruf, zwingt mich in keine Vorstellungsvorgaben und überrascht mich mehr als einmal mit seinen Entscheidungen. Wie Saunders es in seinem exzellenten Literaturwerk „Bei Regen in einem Teich schwimmen“ formuliert: Wie ein besessener Detektiv interpretiert der lesende Geist (Anm. ICH – die Leserin) jedes neu hinzukommende Stück Text allein in dieser Hinsicht, an viel anderem ist er (Anm. ICH – die Leserin) nicht interessiert.
Und genauso ist es, Rachman wirft mir eine Szene zu, und ich, ganz unbewusst, reagiere darauf. Diese Kunst des Dialogs ist handwerklich meisterlich gearbeitet. Tatsächlich ist der Parkour jeder Kurzgeschichte gespickt mit Stellen, die mich zum Weiterlesen anregen und ich schaffe es mühelos in voller Aufmerksamkeit bis zum Ende jeder Erzählung. Beachtlich wie ich, wenn Rachman kurz vor Ende eine letzte Information einschiebt, die dem Text einen regelrechten Kick versetzt und eine gänzlich unerwartete Wendung gibt, die Fassung verliere und ich das Gelesene in meinem inneren Auge nochmals ablaufen lasse, weil er mir so spät die bedeutendste Anmerkung lieferte. Das macht u.a. die Qualität des Buches aus und das trifft meinen Lesenerv.
Erwähnen möchte ich abschließend die großartige Übersetzung durch Bernhard Robben, durch die es gelungen ist, die Intention des Autors in die deutsche Sprache zu übertragen.
Fazit
„Die Hochstapler“ von Tom Rachman war eine intensive Leseerfahrung und ein literarischer Genuss. Exzellent geschrieben, fesselnd und gleichzeitig erschütternd, blicke ich in den letzten Lebensabschnitt der Dora Frenhofer und bin fasziniert von ihrer Imagination und gleichzeitig ernüchtert traurig über das Ende.
Wie haben einsame Menschen die Corona-Pandemie und die damit verbundenen Lockdowns erlebt?
Wie gehe ich damit um, dass ich im Alter nicht mehr richtig „funktioniere“?
Wie kommen Autoren damit zurecht, dass Bücher schleichend durch andere Medien ersetzt werden?
Mit diesen und anderen Fragen setzt sich Tom Rachman in „Die Hochstapler“ auseinander.
Er lässt die alte Autorin Dora Frenhofer ihr letztes Buch schreiben und darin ihre eigene Geschichte sowie die der Menschen, denen sie begegnet ist oder hätte begegnen können, erzählen.
Dabei werden sowohl die unmenschlichen Verhältnisse in syrischen Gefängnissen als auch die Lebensart der Extinction-Rebellion-Anhänger beleuchtet.
Gekonnt geschildert ist die verzweifelte Einsamkeit während der Pandemie.
Die Figuren werden uns so nah gebracht, dass es beim Lesen nahezu unmöglich ist, zwischen Realität und Fiktion zu unterscheiden. Das macht für mich den besonderen Reiz an diesem Buch aus.
Die Tagebucheinträge der Autorin verbinden die Geschichten der einzelnen Figuren und geben uns einen Rückblick auf ihr Leben, der durchaus selbstkritisch ist.
Ich habe beim Lesen ganz vergessen, dass der Roman von einem Mann geschrieben worden ist, so sehr habe ich Dora Frenhofer als eigentliche Autorin wahrgenommen.
Rachman schafft es mit diesem Roman, in vielen Bereichen des Lebens wachzurütteln, ohne den pädagogischen Zeigefinger zu heben.
Gefühlt wurde dieser Roman für mich immer besser. Volle fünf Sterne und eindeutige Leseempfehlung!
Ein grandioser Roman, der das Schreiben und die Schriftstellerei thematisiert, mit Fiktion und Realität spielt und der nebenbei zeitaktuelle Themen, u.a. die Pandemie, unter die Lupe nimmt.
Zu Beginn - ein Inhaltsverzeichnis, das darauf hindeutet, dass wir mehrere kleinere Geschichten lesen werden. "Die Autorin" macht den Anfang und beendet den Raum, dazwischen finden sich Kapitel über den Bruder, die Tochter, die Freundin der Autorin, aber über Menschen, die ihr zufällig begegnet sind.
Zwischen den einzelnen Kapiteln oder Geschichten stehen Tagebucheinträge der fiktiven Autorin Dora Frenhofer, in denen sie ihren Erfolg als Schriftstellerin, ihren Schreibprozess, ihre zunehmende Demenz und auch die Situation während der Corona-Pandemie reflektiert. Sie nimmt uns beim Erstellen ihres letzten Manuskripts mit und liefert uns einen Einblick in ihr "reales" Leben.
Das erste Kapitel beschreibt die Autorin selbst, bzw. die literarische Figur Dora Frenhofer in ihrer beginnenden Demenz, was an den Schreibfehlern deutlich wird und an dem eingebildeten "Senilitätsassistenten", ihrem Lebensgefährten Barry, der offenkundig nicht wirklich existiert.
"Niemand ist oben oder sonst wo im Haus. Nur Dora, die über eine Romanfigur brütet, diesen Ehemann Barry (...) den sie in eine Geschichte eingebaut hat, die, wie die meisten ihrer Geschichten in letzter Zeit, keinen richtigen Sinn ergeben." (S.18)
Im ersten Tagebuch beleuchtet sie die Frage, ob sie den Schriftstellerinnenberuf aufgeben kann und den Schreibprozess selbst. Der Teil ist aus der Ich-Perspektive geschrieben. Interessant ist die Idee, dass der letzte Satz des Tagebuchs den Beginn des nächsten Kapitels darstellt, in dem es um den Bruder der Autorin geht, der 1974 von der Autorin gedrängt wurde, nach Indien zu reisen, um etwas zu erleben.
Großartig schildert Dora Frenhofer das, was ihrem Bruder in Indien geschehen sein könnte und flicht nebenbei die Problematik der wachsenden Bevölkerung anhand der Geschichte einer weiteren Person ein. Beide treffen aufeinander- gut erzählt und teilweise komisch und tragisch. Genau wie das Kapitel über ihre Tochter Beck Frenhofer, die Texte für Comedians verfasst, ohne dass dies jemand wissen darf. Selbst auf der Bühne gescheitert, ist dies ihr Talent. Für andere Gags zu schreiben.
"Sie hat seit Jahren nicht mehr auf der Bühne gestanden und ist in der Öffentlichkeit unbekannt. Trotzdem ist Beck Frenhofer eine der einflussreichsten Comedians ihrer Generation." (S.87)
In diesem Kapitel werden die Auswirkungen des Lockdowns auf die Künstlerszene aufgezeigt, aber auch aktuelle Themen wie Cancel-Culture, Blackfacing und wie "grottenschlechtes" Material viral gehen kann. Wie eine Reaktion eine Gegenreaktion erzeugt.
Stilistisch unterscheidet sich dieses Kapitel extrem vom vorherigen - vom Vokabular, Satzbau, stilistische Mittel. Rachmann tritt meines Erachtens genau den Ton der Szene. Beck glaubt kurzfristig, sie könne eine eigene Karriere beginnen, endlich auf die Bühne treten, doch sie bleibt Regisseurin im Hintergrund.
"Der Käfig ist offen. Das Tier bleibt, wo es ist." (S.117)
Im Tagebuch erinnert sich Dora daran, wie sie Becky das Lesen beigebracht hat.
Hier taucht der Titel explizit zum ersten Mal auf, da Dora steht Angst hatte, literarisch Gebildete könnten sie als "Hochstaplerin" entlarven. (S.122)
Jedes Kapitel hat seinen eigenen Sound, einen für die Figur passenden Stil. Jede Geschichte für sich wirkt sehr realistisch, alle Protagonisten sind authentisch, glaubwürdig gezeichnet. Die Kritik bzw. die Beobachtungen über gesellschaftliche Phänomene und Probleme werden so in den entsprechenden Kontext, in die Geschichte der einzelnen Figuren eingebettet, dass sie "by the way" daherkommen. Keine Belehrung, kein Pädagogisieren, nur Beobachtungen, so dass wir als Leserinnen und Leser uns selbst eine Meinung dazu bilden können.
Hat man das letzte Kapitel gelesen, stellen sich folgende Fragen:
Welcher Teil ist Fiktion der Autorin Frenhof, wo begegnet uns die wahre Dora Frenhofer? In den Tagebucheinträgen, im letzten Kapitel? Welche Figuren sind fiktiv, welche haben als Freunde der Autorin wirklich existiert?
Das Grandiose ist jedoch, dass diese Fragen letztlich nicht wichtig sind, sondern zeigen, welche Wirkung Fiktion entfalten kann. Wie gebannt wir die Geschichten der herausragend gestalteten, authentischen Figuren verfolgen. Jede einzelne Figur und das, was ihr widerfahren ist, könnte es real sein und ist doch fiktiv - im doppelten Sinne ;)
Ein brillanter, intelligenter Roman, ein Lesehighlight in diesem Jahr!
Episodenroman über das Schreiben und die Einsamkeit, in meisterhaft miteinander verwobenen, an bestimmte Personen gebundene Geschichten
Was für ein Buch! Dabei fand ich es zuerst lediglich 'gut', aber mit jeder weiteren Geschichte hat es mich mehr und mehr gefangengenommen. Es ist ein Episodenroman, dessen Teile bzw. Personen aber eng miteinander verflochten sind - was nach und nach immer klarer wird - und das nicht nur durch das alle verbindende Thema 'Schreiben, sondern auch durch persönliche Begegnungen untereinander.
Dora Frenhofer, eine über 70-jährige, nicht sehr erfolgreiche Schriftstellerin, will ihr letztes Buch schreiben, dieses hier, über Menschen, die einmal ihr Leben bestimmt haben, ihr etwas bedeutet haben, aber auch zufällige Begegnungen, die sie besonders während der Isolation in der Coronazeit hatte.
Dazu denkt sie sich für jeden eine Geschichte aus, so realistisch, dass der Leser sich immer wieder fragen muss: Ist das noch Fiktion oder Wirklichkeit? Dabei webt sie Beobachtungen ein, die sie im Alltag macht und schiebt jeweils einen Tagebucheintrag von sich dazwischen, also ein streng durchkomponierter, sehr konstruierter Roman, in dem Rachman seine ganze Erzählkunst vor dem Leser ausbreitet, unterschiedliche Techniken und Erzählstimmen wählt und den Leser jeweils in eine bestimmte Welt mitnimmt, die der Comedy, in die grausame Wirklichkeit eines Folterstaates u.a., vor allem aber die des Literaturbetriebs, in dem sie selber steckt.
Da ist der 'Senilitätsassistent', der ihr helfen soll, den richtigen Zeitpunkt nicht zu verpassen, wenn sie die Kontrolle verliert, ihr in Indien verschollener Bruder, ihre in den USA lebende Tochter, zu der sie wenig Kontakt hat, ein zufällig bei ihr arbeitender Entrümpler, ein Essenslieferant, ein erfolgloser Autor, den sie auf einem Festival trifft, eine Frau, deren Kinder ermordet wurden, ein Sohn, den sie hat oder hätte haben können. Für Leser, die Klarheit brauchen: ja, die gibt es am Ende mehr oder weniger und es klärt sich für die meisten Geschichten auf, ob sie erfunden sind oder ob es die Personen real gibt.
Rachman zeigt die Welt so wie sie ist, in all' ihrer Hässlichkeit und den Unzulänglichkeiten, was aber so organisch eingefügt ist, dass es nicht überladen erscheint: Tomatenplantagen in Südspanien, Produzenten von Fake-News, Botox, die 'Unsichtbaren', die die Arbeit machen, die 'wir' nicht mehr tun wollen, übertriebene Political Correctness.
Auch wenn viele Themen angesprochen werden, sind für mich jedoch zwei Hauptthemen erkennbar: der Literaturbetrieb mit all seinen Facetten und die Einsamkeit des Menschen. Dora Frenhofer ist von beidem betroffen und zieht die für sie sinnvoll erscheinende Konsequenz.
Es ist ein meisterhaft konstruiertes Buch mit tiefgründiger Personenzeichnung und 'flächendeckender' Gesellschaftskritik, aber klar erkennbaren Hauptthemen. Rachman zieht alle Register der Erzählkunst in gehobener Sprache mit innovativ-kreativen Sprachbildern - 'Laut ausgesprochen scheinen die Worte nahtlos ineinanderzukrachen. … linguistischer Auffahrunfall...' (173) – und vielen bedeutsamen Sätzen zum Anstreichen und als Anregung, weiter darüber nachzudenken. Ein großartiges, aber anspruchsvolles Buch, das ich gerne empfehle.
Alec und Betsy gehören der gehobenen Mittelschicht an. Alec hat seine Beamtenexistenz hinter sich gelassen, um sich seinen künstlerischen Neigungen zuzuwenden. Er arbeitet nun äußerst erfolgreich als Librettist und genießt die Welt des Theaters nebst seiner amourösen Versuchungen. Die drei Kinder sind aus dem Gröbsten heraus und in Internaten untergebracht, so dass Betsy sich als Hausfrau vernachlässigt fühlt und ihr Leben zu überdenken beginnt. Sie beschließt nahezu aus einer Laune heraus, sich von ihrem Mann zu trennen. Da die Ehe keineswegs zerrüttet ist, hätte es gewiss alternative Möglichkeiten gegeben, tatsächlich hatten sich die Eheleute bereits auf ein gemeinsames Wochenende zwecks Aussprache geeinigt, doch dann schalten sich mit Macht die Schwiegermütter ein, die in vermeintlich guter Absicht Öl ins Feuer gießen und nicht revidierbare Fakten schaffen.
Was wie eine Komödie beginnt, nimmt schnell tragische Züge an. Die Autorin versteht es, den Blick nicht nur auf die Eheleute, sondern auch auf die Mitbetroffenen zu richten. Allen voran auf die drei Kinder, die jedes auf seine Weise durch die Scheidung aus der Bahn geworfen werden. Kinder lieben in der Regel beide Elternteile. Sie geraten in Loyalitätskonflikte, fühlen sich im Stich gelassen und aus dem Nest geworfen. Erschwerend kommt hinzu, dass Vater Alec sich schnell einer deutlich jüngeren Partnerin zuwendet und auch Mutter Betsy Sehnsucht nach einer gesellschaftlich höheren Verbindung hegt. Sehr sorgfältig schildert Kennedy die Dynamiken, die eine solch schmerzhafte Trennung für alle Beteiligten nach sich zieht. Sie begleitet die Familie über Jahre mit großer Hin- und Beobachtungsgabe, betreibt dezidierte Charakterstudien, die immense Menschenkenntnis beweisen. Die Autorin zeigt sich als Sprachvirtuosin, die unterschiedliche Textgattungen verwendet, Perspektiven wechselt oder auch mittelbar betroffene Figuren aus Familien- und Freundeskreis zu Wort kommen lässt. Man darf sich über zahlreiche lebenskluge Sentenzen freuen. Zwischendrin gibt es zwar dem Handlungsverlauf geschuldete Entwicklungen, die ich nicht durchgängig nachvollziehen kann, mit dem gekonnt konzipierten Ende, das durch eine dramatische Wendung Raum für Reflektionen einräumt, sowie einer meisterhaft gestalteten Abschlussszene bin ich aber wieder völlig mit dem Buch im Reinen.
Margaret Kennedys (1896 – 1967) Roman erschien bereits 1936, als eine Scheidung wohl noch eine Seltenheit war. Es ist erstaunlich, wie passgenau sie die Emotionen und Seelenzustände der einzelnen Familienmitglieder einfängt. Die Empfindungen dürften in der Gegenwart des 21. Jahrhunderts fast dieselben sein, in dem Scheidungen fast zur gesellschaftlichen Routine gehören.
Nach „Das Fest“ war „Die englische Scheidung“ ein weiteres Leseerlebnis dieser fast vergessenen Autorin. Herzlichen Dank an den Verlag fürs Wiederentdecken und Kompliment an die Übersetzerinnen Petra Post und Andrea von Struve.
Betsy Canning möchte frei sein, sie will die Scheidung von ihrem Mann Alec. Die Affären kann sie ihm verzeihen, zumindest waren sie vorher nie Grund genug sich zu trennen. Doch nun möchte Betsy diesen Schritt gehen, und zwar ohne Zwist und Streit einfach getrennte Wege gehen, frei sein.
An diesem Beispiel zeigt die Autorin dem Leser was es für Konsequenzen hat, und wie sehr das Umfeld mit solch einem Entschluss zu kämpfen hat. Natürlich spaltet sich auch das Freundeslager, und die Gerüchteküche brodelt.
Die Tatsache, dass Alec quasi mit dem Kindermädchen durchbrennt und nun mit ihm zusammenlebt, und das Betsy gewillt ist, einen reichen Verwandten zu ehelichen, befeuert es natürlich obendrein ungemein.
Die drei Kinder, Kenneth, Eliza und die jüngste Daphne, gehen auf sehr unterschiedliche Art und Weise damit um, man kann aber sagen, dass auch sie großen Veränderungen unterworfen sind. Allein schon die Frage wohin gehe ich, gerade bei den älteren Geschwistern stellt sich diese Frage. Wenn dann noch Mutter oder Vater versuchen die Kinder gegen den anderen auszuspielen ist das Chaos natürlich komplett.
Ich halte mich nicht ohne Grund sehr bedeckt, denn ich glaube man muss diesen Roman einfach unvoreingenommen erleben. Meine eigenen Eindrücke schwankten zum Beispiel hier und da, was daran liegt, dass die Figuren natürlich eine gewisse Entwicklung durchlaufen, bei der es mir schwer fiel, immer bei dem ersten gewonnen Eindruck zu bleiben.
Die Autorin hat hier ein fantastisches Bild einer Familie gezeichnet, die eine Scheidung durchläuft. Sie beleuchtet die Umstände aus allen Blickwinkeln und schafft es ganz tolle Lebensweisheiten einzustreuen. Kennedys Roman ist zwar schon in die Jahre gekommen, was man an einigen Situationen durchaus merkt, dennoch wirkt er vom Stil her doch recht zeitlos, und ist nicht mit einigen schwer lesbaren Werken zu vergleichen.
Ich halte auf jeden Fall meine Augen offen nach neuen Veröffentlichungen!
In England in den 1930er Jahren des vorherigen Jahrhunderts spielt dieser Roman (erschienen erstmals 1936), und er betrachtet die Geschehnisse innerhalb der Familie Canning. Die Eltern Betsy und Alec haben sich auseinandergelebt, und doch ist Alec überrascht von dem Vorschlag seiner Ehefrau, sich scheiden zu lassen. Diese Absicht tut Betsy auch in einem Brief an ihre Mutter kund, und von da an nehmen die Ereignisse ihren Lauf. Betsys Mutter, die die Trennung unbedingt verhindern will, nimmt Kontakt zu Alecs Mutter auf, die, von Natur aus dominant und überaus überzeugt von ihrer eigenen Person, gleich zu den Cannings fährt, um in ihrer wenig subtilen Art dafür zu sorgen, dass es nicht zu einer Scheidung kommt. Doch dieses Vorhaben läuft dann letztlich unter dem Motto "verschlimmbessern", und obschon Betsy zwischenzeitlich ein wenig ins Grübeln kam, ob eine Trennung wirklich der richtige Schritt ist, lässt sich die Scheidung nun gar nicht mehr verhindern. Was in aller Ruhe vonstatten gehen sollte, endet in einem Rosenkrieg, und alles verändert sich.
Leidtragende sind dabei auch die drei Kinder, Kenneth, Eliza und Nesthäkchen Daphne. Durch die entstehenden Gerüchte und das allgegenwärtige Gerede von Bekannten und Verwandten über die Eltern sehen sich die Jugendlichen Kenneth und Eliza zudem gezwungen, sich für ein Elternteil zu entscheiden. Dadurch gerät auch das Verhältnis unter den Geschwistern in eine gehörige Schieflage. Während Eliza sich bemüht, in ihrem Umfeld für Ordnung und Struktur zu sorgen und die Zügel in der Hand zu behalten, wendet sich Kenneth von der Familie ab und gerät in schlechte Gesellschaft, aus der er sich nicht mehr zu befreien vermag.
Der Aufbau des Romans gleicht der Methode des szenischen Schreibens (Margaret Kennedy schrieb u.a. auch für das Theater). In den einzelnen Szenen wird jeweils ein bestimmter Ausschnitt der Ereignisse beleuchtet, wobei jede Szene wechselnd aus der Perspektive eines der beteiligten Charaktere geschildert wird und damit jede:r seinen Auftritt hat. In der ersten Hälfte des Romans liegen die Szenen inhaltlich und zeitlich dichter aneinander, was eher wie aus einem Guss wirkt. In der zweiten Hälfte dagegen gibt es größere Zeitsprünge, und auch räumlich sind die Figuren, die zu Beginn alle in einem Haus wohnen, nun getrennt - und alles entwickelt sich auseinander. Im Grunde entspricht das ja auch der Entwicklung im realen Leben, nur dass das "Geschmeidige" im Lesefluss hier etwas fehlt und Brüche entstehen.
Der Autorin gelingt es, sowohl die Sitten und Gebräuche der damaligen Zeit einzufangen (und damit ein glaubhaftes Gesellschaftsportrait der gehobenen Mittelschicht Englands zu liefern) als auch die Gefühlslage der betroffenen Personen zu verdeutlichen und dabei alle Altersguppen gleich treffend zu charakterisieren . Das wirkte auf mich alles sehr authentisch.
Meiner Meinung nach zeigt der Roman einmal mehr, dass es sich lohnt, vergangene und womöglich oftmals schon in Vergessenheit geratene Autor:innen wieder ans Tageslicht zu zerren und ihre Bücher neu aufzulegen. Der Sprachstil wirkt keineswegs altmodisch, und auch wenn eine Scheidung damals sicher noch durch die gesellschaftliche Wirkung verstärkt ein einschneidendes Erlebnis war, so stellt dies auch heute noch oftmals eine Krise im Leben der Beteiligten dar. Vieles ist im Kontext der damaligen Zeit zu sehen, die Gefühle und Gedanken der handelnden Personen jedoch weisen auch allgemeingültige Aspekte auf. Die offenkundige Gesellschaftskritik, die Ironie sowie der immer wieder aufblitzende Humor haben mir gut gefallen, ebenso wie die eingestreuten lebensklugen Sätze, die stets treffend und keineswegs aufgesetzt wirken.
Ein ungewöhnlich aufgebauter, stilistisch ansprechender Roman, ohne überbordenede Spannung, aber durch die Allgemeingültigkeit vieler Aspekte auch heute noch aktuell. Ein Stück gehobener tragikomischer Unterhaltungsliteratur, durchaus empfehlenswert.
© Parden
Erfreulicherweise machen es sich immer mehr Verlage zur Aufgabe, unbekannte oder zu Unrecht vergessene Schätze zu heben. So auch der Schöffling- Verlag, der nach „ Das Fest“ nun einen weiteren Roman der englischen Schriftstellerin Margaret Kennedy veröffentlicht hat. Zur Freude des Lesers.
Die 1896 in London geborene und 1967 verstorbene Autorin war zu ihrer Zeit äußerst erfolgreich mit zahlreichen Romanen,
Theaterstücken und Drehbüchern.
Alec und Betsy sind ein gut situiertes Ehepaar im England Mitte der 1930er Jahre. Sie haben drei Kinder und Alec, ein ehemaliger Beamter, nun erfolgreicher Autor von Libretti, hat es zu Ruhm und Geld gebracht. Eigentlich könnte alles bestens sein. Doch Betsy fühlt sich nach siebzehn Ehejahren gelangweilt und unzufrieden. Sie möchte die Scheidung. Alec dagegen wünscht keine Veränderung und kurz scheint es so, als könne er seine Frau nochmals umstimmen. Aber zu spät! Die Schwiegermütter, von Betsy über ihr Vorhaben informiert, eilen herbei, um die Katastrophale aufzuhalten.
Deren Einmischung bewirkt allerdings das Gegenteil. Plötzlich scheinen die Fronten klar und es entwickelt sich ein Rosenkrieg, den ursprünglich keiner wollte.
Margaret Kennedy beginnt ihren Roman wie eine typisch englische Komödie, mit Sommerfrische am See, mit Dienstboten und Kindermädchen usw. Vor allem die beiden Schwiegermütter mit ihren Macken und Allüren werden vortrefflich gezeichnet.
Doch dann wird aus der Komödie eine Tragödie. Alec stürzt sich aus gekränkter Eitelkeit in eine Affäre mit dem Kindermädchen, das unglückseligerweise sofort schwanger wird. Betsy weiß garnicht mehr, was sie sich eigentlich von einer Trennung versprochen hat.
Auch der Freundes- und Bekanntenkreis äußert seine Meinung ( „ Du kannst keine Frau in Betsys Alter verlassen. Das ist nicht gerade ermutigend für uns, die wir die Zähne zusammenbeißen und bei der Stange bleiben.“) und ergreift Partei für die eine oder andere Seite.
Aber vor allem die Kinder leiden unter der neuen Situation. Langsam beginnen sie zu begreifen, dass damit das vertraute Familiengefüge zusammenbricht. „ Ihre gemeinsame behütete Kindheit war vorbei.“ An ihnen zeigt die Autorin exemplarisch, wie unterschiedlich Kinder auf eine Scheidung reagieren können.
Das alles gestaltet Margaret Kennedy souverän, mit sehr viel Witz und auch mit Seitenhieben auf diese englische Gesellschaft. Dabei stellt sie keinen Protagonisten bloß, sondern begegnet allen mit sehr viel Verständnis für ihre Schwächen und Eigenheiten.
Die Autorin versteht ihr Metier. Sie verwendet gekonnt verschiedene Textsorten, baut eine leise Spannung auf und überrascht mit unerwarteten Wendungen. Ihre Erfahrung als Schreiberin von Theaterstücken und Drehbüchern zeigt sich in pointierten Dialogen und prägnanten Szenen.
Der auktoriale Erzählstil wird heute nur noch selten verwendet, doch hier passt er bestens. Damit erlaubt uns die Autorin einen Blick in die Gedanken- und Gefühlswelt aller Charaktere. Dadurch ist der Leser oft schlauer als die Akteure, was für zusätzliche Komik sorgt.
Der englische Titel „ Together and apart“ ist weitaus passender als „ Die englische Scheidung“. Denn das Leben geht für alle Beteiligten auch nach der Scheidung weiter, möglicherweise nicht ganz so, wie anfangs gedacht und geplant, doch mit Bedingungen, mit denen man sich arrangieren kann.
Es ist nicht nur das Paar, das sich trennt. Es gibt auch andere Konstellationen, die sich voneinander entfernen und wieder annähern, so z.B. die Freunde des Paares, die Beziehungen der Kinder untereinander, die Beziehung zwischen Eltern und Kinder, das Verhältnis Schwiegertochter und Schwiegermutter. Alle durchlaufen einen Prozess der Veränderung. Alle wachsen an den Herausforderungen, nicht sofort, aber mit der Zeit. Dass dabei die einzelnen Figuren unterschiedlich gestärkt hervorgehen, ist nur realistisch. Von einer Scheidung sind immer mehr als zwei Menschen betroffen und das fängt die Autorin sehr gut ein.
Neben dieser klugen Betrachtung über Ehe, Familie und Trennung finden sich zahlreiche allgemein gültige Lebensweisheiten, wie z.B. folgende Sentenz: „ Menschen wurden nicht über Nacht netter. Oft steckte eine bittere Erfahrung dahinter. Es war mühsam und kostete viel Kraft, sich zu verändern. Trotzdem war es besser, sich auf schmerzenden Füßen auf einen Berg hinaufzuquälen, als ein Leben lang im Morast aus Apathie und Selbstmitleid festzustecken.“
Der Roman bietet kein Happy-End ( das hätte auch nicht gepasst ), aber ein Ende, das den Leser zufrieden zurücklässt.
Für mich war „ Die englische Scheidung“ ein perfektes Lesevergnügen, klug und unterhaltsam. Und es ist zu wünschen, dass der Schöffling- Verlag noch weitere Romane der Autorin folgen lässt.
Das Verdienst vom Verlag Schöffling & Co ist es, die Romane von Margaret Kennedy neu übersetzt und so die Werke der Autorin vor dem Vergessen ihrer Erzählkunst bewahrt zu haben. Letztes Jahr las ich "Das Fest", nun den Roman "Die englische Scheidung"., welcher mir alles in allem besser gefiel.
Der Titel ist Programm: Es geht um eine Scheidung im England der 1930er Jahre. Betsy ist eigentlich die Einzige, die die Scheidung will. Sie möchte ein neues Leben führen, einen Neustart wagen. Zur Zeit, in der die Geschichte spielt, gleicht dies fast einem Skandal. Tatsächlich heißt keiner die von Betsy angestoßene Scheidung gut: Ihr Noch-Ehemann Alec hat sich viel zu sehr auf die bequeme Arbeitsatmosphäre im funktionierenden Heim eingestellt, die drei heranwachsenden Kinder scheuen ohnehin jegliche Veränderung, die Schwiegermütter sind entsetzt und starten eine Gegenoffensive, und im Freundeskreis dominiert Klatsch und Tratsch über das Ehedesaster. Inhaltlich ist das eine Art neuer Wein in alten Schläuchen, doch Kennedy versteht es, ihre Charaktere und deren Entwicklung minituös nachzuzeichnen. Sie mischt die Umsicht einer Autorin mit den inneren Stimmen der einzelnen Protagonisten und zeichnet so sehr authentisch Veränderungs- und Entwicklungsprozesse nach. Dabei wechselt der Erzählton vom Satirischen ins Tragische und wieder ins Normale. Alles wirkt gleichermaßen authentisch.
Am Besten gefallen hat mir persönlich die Wende vom Zeitpunkt als alles zu zerbrechen droht und die Schreidung auf Gegenwehr stößt hin zur Einrichtung in einem neuen Leben mit einhergehender Akzeptanz des Geschehenen: Betsy heiratet eineneinflussreichen Cousin, Alec erkennt nun, dass das Kindermädchen, das ihn lange bereits anhimmelte, ihm eine neue Zukunft bietet, die heranwachsenden Kinder konzentrieren sich zunehmend auf die eigene Entwicklung und auch die moralisierenden Freunde geben Ruhe. Nichts wird im Endeffekt so heiß gegessen, wie es gekocht wird, und eine Scheidung mag zwar unkoventionell und ein EInschnitt sein, aber sie ist längst nicht das Ende von allem. Das Leben geht weiter.
Insgesamt habe ich das Buch gerne gelesen, wenngleich es für mich kein persönliches Highlight darstellt.
Frei nach dem Motto "man kann aus einer Ehe zwar ohne Koffer verschwinden, aber nicht ohne seelisches Gepäck" erzählt Margaret Kennedy in "Die englische Scheidung", übersetzt von Petra Post vom Ende einer Ehe - und dem weiteren Weg "danach". Betty und Alec leben zusammen mit ihren drei Kindern Kenneth, Eliza und Daphne ein recht wohlsituiertes, stabiles Leben in England Mitte der 1930er Jahre. Doch auch wenn Zeit und Gesellschaftsschicht differieren, ist es eine Geschichte, die man letztlich genauso heute erzählen könnte.
Alec, der seinem Beamtenjob den Rücken gekehrt hat und nun erfolgreich Libretti schreibt, hat sich in seinem Leben gut eingerichtet. Doch Betsy, chronisch unzufrieden und gelangweilt, wünscht sich nun mit 37 Jahren mehr vom Leben. Die Kinder sind aus dem Gröbsten rausgewachsen, werden überwiegend von Personal und Internaten erzogen und gehen ihren eigenen Weg. Und so beschließt Betsy, dass sie und Alec sich scheiden lassen sollten, sie seien ja nicht mehr glücklich miteinander. Letztlich zum Wohle aller, ganz freundschaftlich und einvernehmlich, ein Neuanfang für beide, so schreibt sie es ihrer Mutter. Doch nicht nur die findet diese Entscheidung grundverkehrt, auch Alecs Mutter hält gar nichts von einer Scheidung und plant, diese unter allem Umständen zu verhindern. Was folgt ist ein Einflussnahme, die letztlich wie Brandbeschleuniger wirkt und dazu führt, dass aus der geplanten einvernehmlichen Trennung ein Rosenkrieg mit weitreichenden Folgen wird.
Durch fehlende Kommunikation, Gerüchte und viel verletzten Stolz kommt es schließlich zur Trennung von Alec und Betsy. Auch Kenneth und Eliza werden durch das Gerede und die Gerüchte beeinflusst und sehen sich bemüßigt, eine Seite zu wählen. Letztlich zerbricht die Familie, alle sind verwundet und müssen jetzt irgendwie weitermachen.
Die Autorin schafft es, dass man beim Lesen einen tiefen Einblick in den Charakter der Familienmitglieder bekommt. Unsentimental und ehrlich lernt man die Familie kennen und ihre Entscheidungen nachzuvollziehen. Ohne über sie zu urteilen beschreibt Kennedy die nicht immer sympathischen Charaktereigenschaften und teils unklugen Entscheidungen der Cannings.
So wendet sich Alec, enttäuscht von Betsys heimlichen Plan, ihren adeligen Cousin zu heiraten, dem Kindermädchen Joy zu, die rettungslos in ihn verliebt ist. Bald schon findet er sich ohne Job und mit überschaubaren finanziellen Mitteln in einer möblierten Wohnung mit seiner überforderten Ehefrau und einem Neugeborenen wieder. Betsy, der die Freiheit so wichtig war, wendet sich trotz fehlender Gefühle dem Cousin zu und findet dann ihre Bestimmung in der Einrichtung von dessen Landsitz. Doch nicht nur durch die Kinder bleiben die Geschiedenen weiter verbunden. Das seelisches Gepäck bleibt und so zweifelt am Sterbebett der Schwiegermutter die einst so entschlossene Betsy an ihrer Entscheidung. Wunderbar hat Margret Kennedy hier Alecs Entwicklung gezeigt: Trotz aller Widrigkeiten und entgegen seiner früheren Art bekräftigt er seine Entscheidung für seine neue Gattin.
Auch die Kinder entwickeln sich, Kenneth und Eliza, die initial "ihre Seite" gewählt hatten, gehen auf ihrd Eltern zu.
Besonders eine Bedrohung von außen erfordert wieder eine gemeinsame Kraftanstrengung der Familie.
Und so erzählt das Buch realitätsnah, mit großer Präzision vom Ende einer Liebe, dem Zerbrechen einer Familie und dem Neuanfang. Fasziniert hat mich die feine Beobachtungsgabe der Autorin, die zu intensiven Charakterstudie führt, die immer wieder eingestreuten sprachlichen Perlen und der diffizile kritische Blick auf die Gesellschaft ihrer Zeit. Es ist ein wunderbares Buch, thematisch immer aktuell, unterhaltsam, klug und für mich persönlich ohne Längen. Für alle, die gerne komplexe Familiengeschichten und entsprechende Dynamiken lesen, sehr zu empfehlen!
Nach vielen Jahren Ehe ist Betsy der Ansicht, dass sie und ihr Mann nicht mehr zusammenpassen und sich trennen müssen. Es ist eine für sie anscheinend wohlüberlegte Entscheidung, hat sich doch ihr Ehemann von einem „normalen“ Beamten mit erhofften Karriereaussichten zu einem Künstler entwickelt, der recht erfolgreich Texte für Operetten schreibt. Sein Freundes- und Bekanntenkreis hat sich damit deutlich verändert und entspricht nicht mehr Betsys Vorstellungen, die sehr viel traditioneller sind und die in diesen Kreisen vor allem Zweitklassigkeit vertreten sieht.
Der Roman „Die englische Scheidung“, den Margaret Kennedy schon vor vielen Jahrzehnten geschrieben hat, setzt sich eindrücklich mit den Folgen dieser Entscheidung für alle Beteiligten auseinander. Die Autorin und auch das Buch war in Vergessenheit geraten und wurde für den deutschen Leser nun neu im Schöffling Verlag in einer sehr schönen Ausgabe aufgelegt.
Betsy berichtet zu Beginn des Romans ihrer Mutter in einem Brief von ihrem Entschluss zur Scheidung und setzt damit einen Prozess in Gang, den sie zuvor wohl vollkommen unterschätzt hatte. Die Mutter versucht vieles, um die Scheidung noch zu verhindern, wird daran aber durch eine Krankheit gehindert. Als ihr Ersatz tritt dafür die Schwiegermutter auf den Plan, die gleiches im Sinne hat.
Margaret Kennedy greift mit dem Thema Scheidung eine Situation auf, die zu ihrer Zeit noch wesentlich weniger angesehen und etabliert war, die aber genau wie heute das Leben aller Beteiligten auf den Kopf stellt. Bei der Lektüre erhält der Leser/die Leserin dann einen Einblick in die Reaktionen möglicher neuer Partner, der Kinder und des gesellschaftlichen Umfelds allgemein. Kennedy nutzt dafür mehrfach wechselnde Erzählperspektiven oder auch die Briefform, was die Lektüre sehr kurzweilig und interessant macht, zumal da sie immer wieder mit „spitzer Feder“ die englische Gesellschaft mit ihrem Klassendenken demaskiert und ihr mit einer Prise Humor immer wieder den gnadenlosen Spiegel vorhält. Zwischendurch wird der Leser immer wieder an den Rand des Zweifels gebracht zu der Frage, ob die Entscheidung zur Scheidung und letztlich die Scheidung selbst wirklich Bestand haben wird. Die Beteiligten gehen durch viele Stadien der Neuorientierung, in denen sie manchmal deutlich schlechter dran sind als zuvor, in denen sie aber letztlich auch ankommen und eine Neuorientierung und ein Wandel gelingt.
In Teilen des Romans erschien die Story als Appell gegen die Scheidung, und doch geht daraus am Ende ein neues Familiengeflecht hervor, das so große Zukunftsperspektiven hat wie zuvor die erlahmte Ehe der Cannings.
Diese Vielschichtigkeit möglicher Wertungen und Haltungen zum Geschehen war für mich die große Stärke des Romans. Zusammen mit einer treffend gewählten Sprache und einer sehr einnehmenden Personenbeschreibung schafft der Roman Bilder, die filmreif sind und den Leser in die Situationen sehr intensiv mitnehmen. Ich gebe für diese kleine, aber feine Perle gern 5 Sterne.
Die Ehe von Betsy und Alec ist am Ende - findet Betsy, die Ehefrau. Zeit, dass man sich trennt. Sie informiert ihre gerade im Ausland weilenden Eltern und setzt damit eine Kaskade von Ereignissen in Gang, die nun tatsächlich direkt in die Krise führen - zumal Joy, das Kindermädchen, mit Blick auf dennEhemann Alec bereits eigene Pläne hat. Was als turbulente und sehr britische Komödie beginnt, kippt im zweiten Teil der Geschichte ins Drama, denn die Folgen der Ehekrise sind für alle Beteiligten nicht ohne. Insbesondere gilt das natürlich für die Kinder, deren junges Leben unerwarteten Belastungsproben ausgesetzt ist. Während Tochter Eliza versucht, energisch dem Schicksal Paroli zu bieten, wirkt ihr Bruder eher Kenneth eher hilflos und überfordert. Seine Verstrickungen in einen Autounfall sind es, aus denen sich am Ende neue Wege und Lösungen entwickeln. Der Roman entwirft ein gesellschaftliches Panorama der dreißiger Jahre in Großbritannien. Die bürgerliche Oberschicht eifert dem Adel nach und strebt nach einer vergleichbaren Lebensweise voller Annehmlichkeiten und Müßiggang. Insbesondere Betsy ist es extrem wichtig, dazu zu gehören und einen Titel zu tragen. Die Autorin arbeitet die Charaktere der Story sehr präzise heraus. Sympathieträger allerdings ist hier niemand auf Dauer. Das Buch liest sich sehr flüssig, spart auch nicht an humoristischen Einlagen. Insgesamt eine unterhaltsame Lektüre mit kleinen Schwächen, wenn es um die Entwicklung der Figuren und ihre Stringenz geht.
Es beginnt fast wie eine Komödie, aber es wächst sich zu einem Drama aus, mehr oder weniger. Wie könnte es auch anders sein, wenn ein Ehepaar mit drei noch nicht erwachsenen Kindern Trennungsabsichten hat, wobei es scheint, als ob dies von der notorisch unzufriedenen Betsy ausginge, die nur diffuse Vorstellungen hat, was sie danach machen will. Freiheit schwebt ihr vor, aber was genau sie darunter versteht, weiß sie selber nicht. Ihr Ehemann Alec, anfangs ein 'braver Ministerialbeamter', der aber ziemlich willenschwach gezeichnet wird, hatte sich zum künstlerisch erfolgreichen Librettisten entwickelt, der auch einem Seitensprung nicht abgeneigt war. Doch erstaunlicherweise war es nicht das, was Betsy gestört hat. Was aber dann?
Fast scheint es so, als ob sie sich doch noch einmal zusammenraufen würden, doch dann nimmt das Unheil in Person einer intriganten Schwiegermutter, vermeintlichen Freunden und einer gestörten Kommunikation, ein Aneinander-Vorbei-Reden seinen Lauf. Und dann ist da noch das Kindermädchen Joy, das ein Auge auf den doch ziemlich willenschwach erscheinenden Alec geworfen hat. Was soll mit den Kindern werden, der noch kleinen Daphne, die das alles nicht so sehr zu berühren scheint, der älteren Eliza, die zwischen Mutter und Vater hin- und hergerissen ist und dem Lieblingskind von Betsy, Kenneth, der es sehr missbilligt, dass seine Mutter nach der Scheidung eine erneute Heirat mit ihrem adligen Cousin Max ins Auge fasst?
Irrungen und Wirrungen und ein unvorhergesehenes Ereignis lassen Alec und Betsy in diese Scheidung hineinrutschen. Bis hierhin passt der deutsche Titel 'Die englische Scheidung', danach wäre der vom englischen Original 'Together and Apart' besser gewesen, denn es beginnt eine Zeit der Neuorientierung für alle.
Wie wird es enden? Werden sie alle doch noch ihren Platz im Leben finden? Das erzählt uns Margret Kennedy (Geburtsjahr 1896, also mit Fug und Recht eine Klassikerin zu nennen) in verschiedenen Textsorten, so auch in fiktiven Klatsch-Briefen der Freunde, aber auch auktorial in langen Passagen. Die Personen werden in all ihrer Ambivalenz, ihren Schwächen und Stärken gezeichnet, wobei manche Wandlung ein klein wenig unglaubwürdig erscheint. Die hin und wieder leicht schwülstigen Formulierungen sind der Zeit geschuldet und werden durch viele zitierenswerte Lebensweisheiten wett gemacht.
Alles in allem habe ich den Roman sehr gerne gelesen und ordne ihn der gehobenen Unterhaltungsliteratur zu. Margret Kennedy versteht ihr Handwerk, beherrscht unterschiedliche erzählerische Techniken und besticht mit ausgefeilter Personenzeichnung, die manchmal – wie schon erwähnt – ein wenig übertrieben daherkommt. Dennoch: ein lesenswerter neu entdeckter Klassiker, den man empfehlen kann.
Betsy eröffnet ihren Eltern in einem Brief ihren Entschluss, dass sie und ihr Mann getrennte Wege gehen wollen. Dass sie es ist, die die Ehe mit Alec beenden möchte und er nicht wirklich mit ihrer Entscheidung einverstanden scheint, zumal 3 minderjährige Kinder zur Familie zählen, macht die Sache nicht unbedingt einfacher. Doch Betsy lässt sich von ihrem Vorhaben nicht abbringen. Schnell überschlagen sich die Ereignisse und alles verläuft ganz anders als gedacht.
Meine persönlichen Leseeindrücke
Der Beginn ist fulminant und ich genieße es, diese in sich schlüssige, mit Nuancen ausgeschmückte Familiengeschichte zu lesen. Die Darstellung einer Trennung und der sich daraus ergebenden Dynamiken, die vollkommen aus dem Ruder laufen, ist extrem aktuell. Margaret Kennedy hat ein unglaubliches Gespür, eine spannende Konstellation und interessante Figuren in einem Plot zu vereinen. Dabei spielt sie mit Textsorten, verändert die Perspektiven und präsentiert eine Reihe von Figuren, von denen ich mir kaum vorstellen kann, was sie mit ihnen alles "anstellen" wird. Die alles wird durch den angenehmen, sorgfältig ausgewählten Sprachstil und der herausragenden deutschen Übersetzung, die die Stimmung, die das Buch von Anfang an bestimmt, sehr gut ins Deutsche und in unsere Literaturgegenwart transportieren kann, noch unterstrichen.
Diesen Teil des Romans habe ich mit Begeisterung gelesen.
Dann jedoch ändert die Autorin Struktur und Geschehen der Geschichte. Die Scheidung ist durch und die einzelnen Protagonisten erleben auf unterschiedliche Weise das Leben "danach". Es folgen zu ausführliche Beschreibungen, in einem nacheinander Erzählendem, einzelner Familienmitglieder, was für mich sehr ermüdend war. Es interessierte mich nicht so stark, welchen Wandel einzelne Romanfiguren durchlebten. Dazu gesellte sich ein Gefühl, dass Margaret Kennedy vieles angerissen und vieles schnell abgefertigt hatte, so als wäre sie in Eile geraten. Ich hätte mir gewünscht, sie wäre mit der Intensität und der Fulminanz der ersten Romanhälfte weitergefahren! Man muss doch nicht immer alles über alle erzählen. Da gab es eine Stelle bei Saunders (Bei Regen in einem Teich schwimmen) wo Tschechow schreibt: „Wenn man die Leute langweilen will, liegt das Geheimnis darin, ihnen alles zu erzählen.“ Das ist bei mir passiert, irgendwann war meine Leseenergie zu Ende.
Für mich gibt es deshalb einen Bruch zwischen der ersten Hälfte, die sich mit der Scheidung beschäftigt und die ich fulminant geschrieben fand, und der 2. Hälfte, die das Leben einzelner Familienmitglieder in den Jahren danach beleuchtet. Damit kam ich nicht zurecht.
Fazit
„Die englische Scheidung“ ist ein niveauvoller Roman über die feine englische Gesellschaft, in der ein zur damaligen Zeit ungewöhnliches gesellschaftliches Ereignis einige Personen aus ihrem gewohnten Trott wirft. Unterhaltend, weise und mit einer feinen Spur von Humor erzählt Margaret Kennedy von der Familie Canning, dem Wirbel der Scheidung und den damit einhergehenden Veränderungen.
Betsy und Alec ‚schlittern‘ mehr oder weniger nach 17 Jahren Ehe in eine Scheidung. Ja, ‚schlittern‘, denn ohne die überflüssige Mitwirkung ihrer Mütter, Freunde und Bekannte wäre es vielleicht gar nicht so weit gekommen. (Herrlich zu verfolgen in ‚Teil zwei‘, der in Form eines regen Schriftverkehrs vom Fortgang der Geschichte erzählt.)
Und diese Scheidung wirbelt das Leben aller 5 Familienmitglieder gewaltig durcheinander. Die englische Autorin, die selbst aus einer großbürgerlichen Londoner Familie stammt und schon 1967 verstorben ist, lässt uns dann am unterschiedlichen Umgang mit diesen Veränderungen teilhaben. Mir fiel dazu der Spruch ‚Es ist nicht schlimm, in ein Loch zu fallen, schlimm wird es erst, wenn man anfängt, dieses Loch zu tapezieren‘ ein.
Außerdem katapultiert sie uns damit in die 30er Jahre der englischen feinen Gesellschaft, in der Landhäuser und Dienstpersonal zum Standard gehörten. Die Aktualität mancher Aussagen war jedoch erschreckend!
Begeistern konnten mich wunderschöne Sätze voller Lebensweisheiten, wie z.B.: ‚Menschen wurden nicht über Nacht netter. Oft steckte eine bittere Erfahrung dahinter. Es war mühsam und kostete viel Kraft, sich zu verändern. Trotzdem war es besser, sich auf schmerzenden Füßen einen Berg hinaufzuquälen, als ein Leben lang im Morast aus Apathie und Selbstmitleid festzustecken.' Oder: 'Die beste Waffe gegen Unehrlichkeit und Eigennutz ist, die anderen durch die eigene Großmut zu beschämen.' Oder auch: 'Denn Mitgefühl ist wie eine Heilsalbe, Sie muss auf die richtige Stelle aufgetragen werden, damit sie wirkt.'
Mir hat dieser Roman sehr gut gefallen, er hat mich bestens unterhalten, auch das Ende - kein kitschiges happy-end, aber das jedoch für jeden Hoffnung bedeutete. Tiefe Einblicke in die Charaktere und Seelen der Protagonisten krönten für mich diesen Roman, so dass ich vollkommen begeistert 5 Sterne vergebe und ihn wärmstens empfehle.
Betsy ist in ihrer Ehe mit Alec unglücklich und will ihn zur Scheidung überreden, weil sie von der großen Freiheit träumt. Ihre Mutter und Schwiegermutter wollen diese Scheidung verhindern, machen damit aber alles noch viel schlimmer.
Margaret Kennedy lässt und in ihrem Roman „Die englische Scheidung“ eindrucksvoll miterleben, wie eine ganze Familie durch Einmischungen, Intrigen, Klatsch und Tratsch, gutgemeinte Ratschläge und Missverständnisse zerstört wird.
Hierbei gelingt es Kennedy, die Gefühle und Gedanken aller handelnden Personen greifbar werden zu lassen. Wir können sowohl mit der unzufriedenen Ehefrau, ihrem untreuen Ehemann, ihrer intriganten Schwiegermutter, als auch den verstörten Kindern mitempfinden, welche Lawine ausgelöst wird, die schon sehr bald niemand mehr unter Kontrolle hat.
Auch wenn der Roman schon 1936 erschienen ist, erscheint er an vielen Stellen erschreckend aktuell.
Durch die gelungene deutsche Übersetzung lässt sich der Roman sehr angenehm lesen, obwohl die anfangs locker leicht anmutende Komödie im Laufe der Handlung immer mehr zum Drama wird, weil es hier letztendlich keine Gewinner geben kann.
Margaret Kennedy ist eine Wiederentdeckung für den deutschen Buchmarkt. Die 1967 verstorbene Britin zeichnete sich durch dramaturgische Gesellschaftsromane aus. „Die englische Scheidung“ ist eine zunächst heitere Komödie, die sich zu einem Drama mit einem versöhnlichen Ausgang entwickelt.
Im Zentrum der Handlung steht das wohlsituierte Ehepaar Alec und Betsy Canning, das sich aufgrund ihrer unglücklichen Partnerschaft zu einer Scheidung entschließt. In den 1930 haftet einer ehelichen Trennung etwas Anrüchiges an. Hinzu kommen die drei Kinder im Jugendalter, die auf dem Weg ins Erwachsenenleben eigene Ziele anstreben und sich zwischen einen der beiden Elternteile entscheiden müssen. Wie von selbst drängen sich Familienangehörige und Freunde in diese Affäre, allen voran die intrigierenden Schwiegermütter. Doch selbst eine Scheidung bedeutet nicht, dass eine der beiden Ex-Eheleute auf Rosen gebettet ist. Sie geben ihrem Leben eine neue Richtung und müssen lernen, mit den Konsequenzen zu leben.
Der Roman ist hervorragend von Petra Post und Andrea von Struve in die heutige Alltagssprache übersetzt worden. Dem Verlag Schöffling und Co. ist es zu verdanken, dass solche Perlen wieder aus dem Strom des Vergessens auftauchen. Kennedy versteht es, zeitlose Themen und Metaphern zu schaffen, die auch heute einen erstaunlichen und manchmal auch besorgniserregenden Wiedererkennungswert haben (insbesondere in Sachen Frauenfeindlichkeit und die Ängste vor einer Welt am Abgrund). Wer jedoch einen Spannungsroman oder eine durchweg verdrehte, heitere Komödie erwartet, wird vermutlich enttäuscht werden. Die Geschichte ist eine Achterbahnfahrt der familiären und gesellschaftlichen Verquickungen und dürfte vor allem Klassikfans, deren Herz für Jane Austen oder Henrik Ibsen schlägt, begeistern. Der allwissende Erzähler lässt uns in alle Köpfe schauen und mit querfeldein laufenden Gedankensprüngen durch ein England vor etwa hundert Jahren hopsen. Wer das mag, ist hier gut aufgehoben. Die Schlüsse, die sich aus den Entwicklungen und Schicksalen der Figuren ergeben, sind auch heute noch lehrreich (und bleiben wohl auch zeitlos). Für meinen Geschmack hätte es eine stärkere Fokussierung auf die eigentlichen Schwerpunkte geben dürfen. So werden immer wieder ausschmückende Nebenhandlungen und Figuren angeführt, die den eigentlichen Plot manchmal verstellen, als diesen voranzubringen. Daher von mir 4 von 5 Sternen.
Davon träumt wahrscheinlich kein Bankangestellter. Charlie Colquitt, der sein Studiengeld mit einem Bankjob aufbessert, gerät an einem sowieso schon schlechten Morgen in einen Banküberfall. Nachdem der Räuber Charlies Chefin erschossen hat, sieht Charlie sein letztes Stündlein gekommen. Warum der Gangster ihn als Geisel mitnimmt, ist ihm schleierhaft, aber Charlie hängt am Leben. Sheriff Tommy Lang hat auch schon bessere Zeiten gesehen. Seine Ehe ist kaputt, nur noch zu seiner Tochter hat er manchmal Kontakt. Seine Depressionen ertränkt er im Alkohol. Und die Ermittlungen in diesem Banküberfall wird auf die Staatspolizei oder die Bundespolizei übernehmen.
Dieser Roman scheint wirklich wie ein letzter Aufruf zu sein. Es fängt schon damit an, dass sich der Gangster nicht an die Regeln hält und meint, er kommt damit durch. Er weiß aber, dass ihm nicht nur die Polizei auf die Spur kommen wird. Charlie Colquitt, die Geisel, ist in seinem normalen Leben eine eigenartige Persönlichkeit. Richtigen Kontakt hat er nur zu seiner Mutter Lucy, Freunde sind nicht zu finden, dafür interessiert er sich für Raketen und er möchte nach seinem Studium als Ingenieur für die Nasa arbeiten. Mit seiner Chefin Niesha hat er sich eigentlich ganz gut verstanden. Sie hatte sich gerade verlobt und nun ist sie tot.
Dass in diesem Roman ein Weihnachtswunder beschworen wird, lässt sich wahrlich nicht behaupten. Sehr hard boiled kommt die Handlung daher und es fängt schon am Anfang mit dem sinnlosen Sterben an. Nach fragt sich gleich, wieso Charlie den Überfall zunächst mal überlebt. Der Polizist Lang ist auch ein gebrochener Mensch, jedoch ein gewiefter, seinen Instinkten folgender Ermittler. Seiner Ortskenntnis und dem Gefühl für die Menschen im Süden der USA, hat die überörtliche Behörde zwar ihre Technik entgegenzusetzen, aber manchmal reicht das nicht. Es wird etwas viel gestorben und auf grausame und brutale Art. Einzig für Charlie erhofft man ein gewisses gutes Ende. Der Autor schont die Leser und Leserinnen nicht, irgendwie muss man das Buch ertragen. Dennoch fesselt die Geschichte mit ihren präzisen Charakterzeichnungen und der ausgeklügelten Handlung.
3,5 Sterne
Tödlicher Stammbaum
"Ich weiß nicht, was du gewonnen hast, aber ich hoffe, es hat sich gelohnt für das, was du verloren hast." (Pinterest)
Nach den Vorkommnissen ihres letzten Falls wird Anne Kirsch aus dem Morddezernat Dortmund nach Bontkirchen ins Sauerland versetzt. Was für Annes Partner Heiko eine Freude ist, wirkt für Anne eher als Strafe. Das lässt sie Heiko mit ihrer schlechten Laune oft genug spüren, den außer kleineren Verbrechen ist hier kaum etwas zu erwarten. Dazu muss sie nun obendrein mit Anton Hellmann zusammenarbeiten, der sowieso schon ein Stein im Brett bei ihrem Ex-Chef Thorsten hat. Kein Wunder, das Anne gefrustet ist, als aus dem hiesigen Museum zwölf alte Nägel gestohlen werden. Dass ein historischer Nagel allerdings bei einem brutalen Mord eine Rolle spielt, ahnt sie da noch nicht. Wer hatte einen Grund, das Opfer zu töten und welche Rolle spielt der Nagel in seiner Brust? Dieser Mord entpuppt sich als Auftakt zu einer weiteren Mordserie, die bis in die Vergangenheit Bontkirchens reicht. Von Anne Kirsch und Anton Hellmann wird dabei alles abverlangt werden.
Meine Meinung:
Ich habe mich extremst gefreut über den vierten Regionalkrimi von Kommissarin Anne Kirsch. Bisher konnten mich alle Krimis dieser Autorin überzeugen. Nicht nur ihr unterhaltsamer Schreibstil gefällt mir, sondern die ganz spezielle Anne Kirsch als Kommissarin. Schon der Prolog dieses Regionalkrimis aus dem Sauerland beginnt durchaus spannend. In einfachen Worten mir war schnell klar, dieser Mord wird etwas mit der Vergangenheit zu tun haben. Doch ich konnte obendrein viele weitere spannende Momente erleben. Was natürlich vor allem mit den Ermittlungen und dem Mut von Anne und Hellmann zu tun hat. Den der kleine Dorfpolizist wächst hier im Laufe des Geschehens über sich hinaus und wird nicht nur zum guten Teampartner, sondern außerdem zum grandiosen Mordermittler. Bemerkenswert insbesondere ist sein Ehrgeiz so wie sein zunehmender Fleiß. Darüber hinaus fand ich das Setting mit dem Naturmonument Bruchhauser Steinen genauso wie Bontkirchen gut gewählt. Hier merkt man natürlich sofort, dass die Autorin ihre Heimat beschreibt und sich bestens auskennt. Gut ausgedacht ist, das sich diese Mordserie als Familienfehde entwickelt. Doch diesmal konnte mich vor allem Hellmann überzeugen. Der sonst eher ruhige und bequeme Polizist wird zum fleißigen Ermittler und Teampartner, der am Ende wirklich profiliert und sogar noch Leben rettet. Annes Charakter hat sich nur unmerklich verändert. Sie ist und bleibt eine toughe Frau, die nach vorne prescht zur Not auch alleine ohne Rücksicht auf ihre eigene Gesundheit. Allerdings hatte ich den Eindruck, dass dazugelernt hat und sie diesmal des Öfteren im Team mit Hellmann agiert. Von Thorsten und Olivia bin ich menschlich sehr enttäuscht. Nicht nur das sie Anne spüren lassen, das sie nicht mehr mit ihr zusammenarbeiten, scheinen sie ihr obendrein die Freundschaft gänzlich zu verwehren. So finde ich, geht man nicht mit Kollegen um. Mich konnte dieser Sauerlandkrimi nicht nur an Spannung überzeugen, sondern insbesondere wegen des sagenhaften Plots und den gut durchdachten Charakteren. Bitte weiter so von mir gibt es 5 von 5 Sterne.