Kleine Monster: Roman

Buchseite und Rezensionen zu 'Kleine Monster: Roman' von Jessica Lind
4.2
4.2 von 5 (18 Bewertungen)

Inhaltsangabe zu "Kleine Monster: Roman"

Autor:
Format:Gebundene Ausgabe
Seiten:256
Verlag: Hanser Berlin
EAN:9783446281448

Rezensionen zu "Kleine Monster: Roman"

  1. 5
    24. Sep 2024 

    Wie uns die Vergangenheit prägt

    Pia und Jakob werden zu einem Gespräch in die Schule gebeten. Ihr siebenjähriger Sohn Luca soll ein gleichaltriges Mädchen sexuell belästigt haben. Die Lehrerin beschränkt sich auf Andeutungen. Es wird also nicht klar, um welche Art Grenzüberschreitung es sich gehandelt hat. Und Luca schweigt zu den Vorwürfen. Aus Angst? Aus Trotz? Aus schlechtem Gewissen ? Der Vorfall hat Folgen. Pia und Jakob werden sofort aus der WhatsApp - Elterngruppe ausgeschlossen, man geht ihnen aus dem Weg.
    Während Jakob seinem Sohn vertraut und das Ganze als kindliches Spiel abtut, nagen in Pia die Zweifel. Misstrauisch beginnt sie ihren Sohn zu beobachten, versucht sein Verhalten zu interpretieren. Sind Kinder so unschuldig, wie es Eltern gerne glauben mögen? Oder stecken in ihnen nicht doch „ kleine Monster“? „ Jakob sieht nicht, was ich sehe. Weil er das Dunkle nicht kennt. Aber ich kenne es, und wenn Luca auch so ist, dann ist er es wegen mir.“.
    Bald wird klar, dass Pias Zweifel viel mit ihr selber zu tun haben, mit ihrer Sicht auf sich selbst. „ Ich bin die, mit der etwas nicht stimmt.“
    Der Vorfall löst Erinnerungen aus an in ihre eigene Kindheit. Aufgewachsen ist sie mit zwei Schwestern, mit der adoptieren Romi und dem Nachzügler Linda, in einem idyllischen Haus am Waldrand. Die Eltern haben sich aus altruistischen Gründen für ein Adoptionskind entschieden, sie wollten „ einem Kind eine Chance geben, mit dem es die Welt nicht so gut meint“ . Nach außen hin entsprachen sie so dem Bild einer glücklichen Familie. Aber stimmte dieser Eindruck? Wie soll man sich sonst den wütenden Vorwurf der Mutter erklären, den Pia nie vergessen kann? „ Dich habe ich geboren, aber Romi habe ich mir ausgesucht. Sie ist unser Wunschkind.“ Die Schwestern schwanken zwischen inniger Verbundenheit und Eifersüchteleien und Rivalitäten.
    Aber erst ein tragischer Unfall, der nie ganz aufgeklärt wird, führt zum Bruch in der Familie. „ Wir drei sind eins. Drei Schwestern. Eine glückliche Familie. Bis wir es nicht mehr sind.“
    Das Gefüge zerbricht. Ein großes Schweigen legt sich über alles. Doch darunter gärt es. Unausgesprochene Vorwürfe wirken sich im Umgang miteinander aus. Die Eltern werden hart; der Vater entzieht sich, die Mutter ist mal liebevoll, mal grausam. „ Ich hatte drei Mütter.“ heißt es im Roman. „ Die erste war gut und lieb, streng, aber gerecht. Die zweite war kalt und verschlossen. Die dritte lächelt immerzu und backt Apfelkuchen“
    Romi wird zum Sündenbock in der Familie, bis diese auszieht und den Kontakt abbricht.
    In diesem Roman wird deutlich vorgeführt, wie Traumata weiterwirken. Unverarbeitetes aus der Vergangenheit hat Folgen bis in die Gegenwart hinein.
    Pia kennt die Fragilität von Familienbeziehungen und die Unwägbarkeit von Menschen; ihre Erfahrungen haben zu einem grundsätzlichen Misstrauen und zu großen Verlustängsten geführt. Dabei traut sie auch ihrer Sicht auf die Wirklichkeit nicht.
    Die Autorin hält auf beiden Zeitebenen die Spannung aufrecht bis zum Schluss. Nicht nur, weil man sich fragt, was denn nun in beiden Fällen genau geschehen ist, sondern auch weil sich Pia immer mehr in ihren Argwohn Luca gegenüber hineinsteigert. Dabei greift sie zu Methoden, die sich nicht entschuldigen lassen. Man kann nur hoffen, dass ihr Verhalten keine langfristigen Folgen für den sensiblen Jungen hat.
    Pia ist die Ich- Erzählerin, aus ihrer Sicht erfahren wir alles. Sie ist keineswegs zuverlässig und auch nicht unbedingt sympathisch. Erzählt wird in kurzen Kapiteln, das verwendete Präsens schafft eine Unmittelbarkeit. Die Autorin hat ein gutes Gespür für prägnante Szenen und aussagekräftige Dialoge. Die Stimmung wirkt oftmals bedrohlich und unheimlich. Cliffhanger und vage Andeutungen machen das Buch zu einem echten Pageturner. Nur das Ende kommt etwas zu abrupt daher.
    Pia kann sich in weiten Teilen mit ihrer Vergangenheit aussöhnen. Klärende Gespräche mit Mutter und Schwester haben ihr dabei geholfen. Dass nicht alle Fragen beantwortet werden, ist hier kein Manko.
    Jessica Lind greift die Themen Mutterschaft, Eltern-Kind-Beziehungen und Familie in verschiedenen Konstellationen auf. So bekommen wir auch einen Einblick in Jakobs Familie. Hier gab es keine einschneidenden Geschehnisse, trotzdem ist das Verhältnis nicht ungetrübt.
    Hervorzuheben sind noch der eher doppeldeutige Titel und das surrealistische Cover, das perfekt zum Inhalt passt.
    „Kleine Monster“ ist der zweite Roman der österreichischen Autorin und er steht zu Recht auf der Liste für den diesjährigen österreichischen Buchpreis. Man darf gespannt sein auf weitere Bücher von ihr.
    Der Roman ist ein packendes Familiendrama, das sich mit seinen psychologisch spannenden Fragestellungen wunderbar für Lesekreise eignet.

  1. Keine bequeme Geschichte

    Luca ist ein kluger, sensibler siebenjähriger. Seine Klassenlehrerin Frau Bohle ist in Sorge. Alena, Lucas Mitschülerin, befand sich mit Luca allein im Klassenzimmer, als die anderen Kinder auf dem Schulhof waren. Sie hat erzählt, dass Luca sie … Lucas Eltern Pia und Jakob fehlt die Vorstellung, schließlich ist er ihr Kind und sie kennen ihn.

    In der WhatsApp – Elterngruppe werden sie ausgeschlossen. Es macht Pia nervös, dass man sie ausgrenzt, es fühlt sich an, als werde Luca verdächtigt, eine Straftat begangen zu haben, aber er ist doch noch ein Kind. Der Vorfall katapultiert Pia in die eigene Kindheit. Wie ihre ältere Schwester Romi von ihrer jüngeren Schwester Linda bewundert wurde, weil sie auf Bäume kletterte und sich nichts sagen ließ. Der Vater war den ganzen Tag weg und wollte am Abend seine Ruhe. Die Mutter war mit Romi überfordert, als die begann an der Mutter zu klammern. Eigentlich sollte Romi das einzige Kind sein. Sie hatten sie adoptiert, als sie ein kleines hospitalisiertes Kind mit schweren Entwicklungsstörungen war. Allen Unkenrufen zum Trotz brachte die Mutter Romi das Laufen bei. Mit Pia hatte die Mutter nicht mehr gerechnet und dann wurde sie doch schwanger.

    Pia will, dass Luca sich ihr anvertraut. Niemand wollte ihnen Genaueres zu dem Vorfall sagen, also soll er seine Sicht schildern, aber Luca schweigt verbohrt. Pia fährt ihn zu ihren Eltern, sie möchte ihn nicht zur Schule bringen, weil sie befürchtet, dass er sanktioniert wird. Als sie ihn wieder abholen will, ist Pias Vater gerade mit Luca im Wald und eigentlich will sie das nicht. Ihre Mutter nennt Luca Luci und auch das gefällt ihr nicht. In ihrem alten Kinderzimmer drängen sich ihr wieder Kindheitserlebnisse mit Romi auf, wie sie sich im Stall versteckte, obwohl die Eltern fahren wollten. Pia fand sie und versuchte sie zu überreden mitzukommen, doch Romi wollte, dass Pia zuerst den Hund streichelte, der an einer Kette lag. Pias Oberlippe musste mit drei Stichen genäht werden.

    Fazit: Ich mag die Technik von Jessica Lind, wie sie ihre Protagonistin gedanklich von der Gegenwart in die Vergangenheit springen lässt. Durch die Erinnerung an die ältere Schwester und den schrecklichen Vorfall im Elternhaus gerät die nötige Loyalität zu ihrem eigenen Kind erheblich ins Wanken. Die längst überfällige Analyse ihrer eigenen Familiengeschichte erzeugt vehementes Misstrauen in ihren Sohn. Aus dem klugen, sensiblen Kind wird in Pias Kopf ein unberechenbares Wesen. Sie reagiert mit Manipulation, Druck und Gewalt. Die Geschichte schmerzt richtig. Selten bin ich von den Ereignissen in einem Buch so unangenehm berührt worden. Im wirklichen Leben wäre die Aufarbeitung der eigenen Kindheit dringen zu anzuraten gewesen, das allerdings setzt voraus, dass die Betroffenen wissen, dass sie ein Problem haben. Kleine Monster ist eine gut gemachte, unbequeme Geschichte, die nachwirkt.

  1. 4
    14. Sep 2024 

    Das Unausgesprochene

    Als Pia und Jakob von der Klassenlehrerin in die Schule gebeten werden, können sie sich nicht vorstellen, was da passiert sein soll. Es habe einen Vorfall mit einem Mädchen gegeben, viel genauer drückt sich die Lehrerin nicht aus. Die Eltern können sich nicht vorstellen, dass ihr siebenjähriger Sohn Luca überhaupt zu irgendetwas fähig wäre, was dieses Treffen notwendig machen würde. Die Eltern können die Situation nicht richtig einschätzen. Das Beste wird es sein, sie fragen Luca, wie er die Sache sieht. Doch der Junge schweigt oder gibt nur einsilbige Antworten. Dann bemerkt Pia, dass sie aus der Elternchatgruppe herausgeflogen sind.

    Das Gedankenkarussell beginnt sich zu drehen. Was ist vorgefallen? Wieso sagt Luca nichts? Besonders Pis kann sich nicht gegen ihre Befürchtungen wehren. Was, wenn doch was war? Jakob vertraut seinem Sohn mehr und er versucht möglichst normal mit ihm umzugehen. Eher wundert er sich über das Misstrauen von Pia. Diese allerdings hat eines Tages beschlossen, nicht so viel über die Ereignisse aus ihrer Kindheit zu sprechen. Luca soll ein Einzelkind bleiben. Pia hat zwei Schwestern. Eine ist schon als kleines Kind gestorben, mit der anderen hat Pia keinen Kontakt mehr. Aus ihren Herzen sind die Beiden aber nicht verschwunden.

    In diesem Roman wird vieles nicht ausgesprochen. Das beginnt mit Luca, der nicht preisgibt, was mit dem Mädchen vorgefallen ist beziehungsweise ob überhaupt etwas vorgefallen ist. Weiter geht es mit Pia, die über ihre Schwestern nicht groß redet, aber häufig an sie denkt. Gerade das Unausgesprochene führt zu immer bedrohlicheren Vorstellungen, die Pia fast dazu führen, ihr Heim in Gefahr zu bringen. Das zu lesen ist eine echte Tour de Force, ein Pfad, den man nicht verlassen kann, bis man ihn zu Ende gegangen ist. Immer mehr vermischen sich die äußeren Ereignisse mit den Erinnerungen. Man ist gefesselt und erschüttert. Nicht unbedingt nur von der eigentlichen Geschichte, sondern insbesondere von der subtilen Schilderung der Autorin, die es versteht, einen Schauer nach dem anderen zu erzeugen.

    Die Bangigkeit und die Vermischung von Vergangenheit und Gegenwart wird durch das Cover hervorragend ausgedrückt. Das erschließt sich allerdings erst, wenn man die Erzählung kennt.

    Der Roman ist für den österreichischen Buchpreis 2024 nominiert und das spricht dann auch für sich.

    4,5 Sterne

  1. Ein atemraubender, psychisch herausfordernder Roman

    [TW: Kindstod, Gewalt gegen Kinder, Tierquälerei (kurz)]

    „Kleine Monster“ fordert seine Leser*innen. Er erwartet von ihnen, dass sie Leerstellen und extrem ambivalente Charaktere aushalten können.

    Der Roman beginnt mit einem Aufhänger, der fairerweise auch nur genau das ist: ein Aufhänger für ein viel tieferliegendes Problem. Am Anfang steht ein Vorfall an der Schule, in den der siebenjährige Luca verwickelt ist. Was genau hat er getan und warum? Seine Mutter Pia möchte es herausfinden und beginnt, das Vertrauen zwischen ihr und ihrem Sohn sowie ihr Kind selbst zunehmend infrage zu stellen. Im Laufe der Handlung taucht die Autorin in ganz kurzen Kapiteln, die stets aus der Sicht von Pia erzählt werden, immer mehr in die Hintergrundgeschichte der Protagonistin ein. Diese ist geprägt von dem furchtbaren Verlust der kleinen Schwester, dem mangelnden Umgang der Eltern mit diesem und einer großen Schuldfrage. Hat Adoptivschwester Romi etwas mit dem Tod zu tun? Inwieweit täuschen die Erinnerungen an ihre Kindheit? Und an welchen Stellen geht es gar nicht um Lucas Verhalten, sondern um Romi?

    Jessica Lind spielt in einem extremen Ausmaß mit Leerstellen und Subtext. Auf halbem Wege war ich mir unsicher, ob es mir zu viel Ungesagtes ist. Das letzte Drittel war dann aber wie ein Rausch und mir persönlich hat Pias Entwicklung hier sehr gut gefallen. Sie befindet sich in einem dauerhaften Spannungsfeld zwischen ihrem eigenen unbearbeiteten transgenerationalen Trauma und gesellschaftlichen Erwartungen an Eltern- bzw. konkret Mutterschaft.

    Die Vorfälle werden nicht bis ins letzte Detail geklärt und waren für mich doch abgeschlossen. Wahrscheinlich kommt es darauf an, inwieweit mensch den Figuren am Ende Glauben schenkt. Pia zeigt an einigen Stellen ein teilweise gewaltvolles, übergriffiges Verhalten ihrem Sohn gegenüber. Das ist wirklich hart, wird aber auch nicht beschönigt. Ich finde es so erschreckend wie spannend, dass Traumata generationsübergreifend so weitergegeben werden können und habe Pia gern zu Beginn ihrer Aufarbeitung begleitet.

    Der Roman ist voller Tempo und hat teils thrillerhafte Züge, die mich mit angehaltenem Atem haben lesen lassen. Ein Buch, das sich gut in einem Zug lesen lässt, welches Aufmerksamkeit fordert und für mich im Ganzen herausfordernd war, aber trotzdem rund.

  1. Wenn das Vertrauen fehlt

    Pia und Jakob, die Eltern des siebenjährigen Luca, müssen zu einem Elterngespräch in die Schule. Es hat einen Vorfall mit einer Mitschülerin gegeben, und selbstverständlich glaube man dem Mädchen. Jakob reagiert relativ entspannt, Pia hingegen ist eher aggressiv und abwehrend. Von ihrem Sohn bekommen sie auch keine weiteren Informationen, denn Luca schweigt beharrlich. Während Jakob sich darauf verlässt, dass Luca irgendwann schon von alleine kommt, wird Pias Misstrauen ihrem Sohn gegenüber immer größer und ihr Verhalten immer grenzwertiger.

    Im Vordergrund des Romans steht die Ich-Erzählerin Pia und die fragile Beziehung zu ihrem Sohn. Sie möchte ihm gerne bedingungslos vertrauen, aber ihre eigene Geschichte mit unverarbeiteten Traumata stehen ihr im Weg. Während Pias Gedankenkarussell in der Gegenwart immer abstrusere Handlungen zur Folge hat, erklärt sich in Rückblicken auf ihre Kindheit ihre Reaktion auf Lucas Verhalten.

    Der zweite Roman von Jessica Lind entwickelt einen Sog, dem man sich nur schwer entziehen kann. Obwohl nicht so klassifiziert, liest er sich wie ein Psychothriller, der auch sprachlich überzeugen kann. Besonders gelungen sind die glaubwürdigen Charakterisierungen, insbesondere der Kinder. Aber auch Pia ist überzeugend dargestellt und trotz ihrer teilweise nur schwer zu ertragenden Verhaltensweisen manchmal schon fast sympathisch.

    Mich hat „Kleine Monster“ nachhaltig beeindruckt, auch weil ich die beschriebene Familiendynamik stellenweise nur schwer zu ertragen fand. Klare Leseempfehlung, wenn man sich auf das Thema einlassen mag!

  1. Wer ist hier ein Monster?

    Der Roman beginnt mit einer Episode, die man als Leser nur schwer einschätzen kann. Die Eltern des siebenjährigen Luca werden in die Schule gebeten, weil es einen Vorfall gegeben hat. Luca soll etwas mit einer Mitschülerin gemacht haben, was genau bleibt allerdings unklar. Die Schule würde solche Dinge aber sehr ernst nehmen, teilt die Lehrerin mit.
    Da die Eltern Klarheit möchten, vor allem Lucas Mutter Pia, die den Leser durch die Geschichte führt, versucht sie Antworten von ihrem Sohn zu bekommen. Doch auch er schweigt sich aus, was zu größeren Problemen führt.
    Jakob, Lucas Vater scheint alles gelassener zu sehen als seine Frau, sieht in der Tatsache, dass die Eltern sie aus der gemeinsamen Klassengruppe entfernt haben, erstmal kein großes Problem. Er steht hinter Luca, kann sich überhaupt nicht vorstellen, dass er boshaft ist.
    Pia hingegen ist fortan misstrauisch, sieht im Verhalten des Kindes ständig manipulative Tendenzen. Sie weiß, dass in Kinder manchmal kleine Monster stecken. Und nach kurzer Zeit wird einem bewusst, dass dieser Argwohn mit ihrer Vergangenheit begründet werden kann. Die kleine Schwester starb bei einem schrecklichen Unfall, und eine Mitschuld der anderen Schwester schwebt im Raum. Pia erinnert sich nach und nach an vieles, was bereits vor dem schlimmen Ereignis schief lief und auch an das meiste was hinterher geschah.

    Die Ausgangssituation ließ mich zu Beginn an eine ganz andere Handlung denken. Doch die Autorin nahm sie nur zum Anlass, um Raum für Pias Kindheit und die daraus resultierenden Probleme zu liefern.
    Teilweise konnte ich mit Pias Verhalten nicht viel anfangen, doch je mehr man erfährt umso klarer wird einem alles.
    Erst war ich enttäuscht, dass die Eingangsgeschichte mehr oder weniger im Sande verläuft, nur noch untergeordnet wichtig ist. Doch am Ende hatte ich das Gefühl, es brauchte diesen Auslöser um bei Pia diese Spirale in Gang zu setzen.
    Klar wird auf jeden Fall, dass Traumata in der eigenen Kindheit auch problematisch für die weitere Generation werden können. Ein wichtiges Thema, was vielleicht auch zur Aufarbeitung solcher Schrecken anregen kann

  1. Über die Abgründe in Familien

    Wenn man die Beschreibung von "Kleine Monster" liest, wird man verleitet, zu glauben, es gehe in dem Buch hauptsächlich um einen 7-jährigen Volksschüler, dem ein "Vorfall mit einem Mädchen" vorgeworfen wird, und um den Umgang der Eltern und der Gesellschaft damit. Darum geht es schon auch, aber nur zu einem kleinen Teil. Einen viel größeren Teil nimmt eine andere Geschichte ein, und zwar die von Pia, der Mutter des Buben, ihrer Kindheit und wie sie zu der Persönlichkeit geworden ist, die sie heute ist - was auch ihre Beziehung zu ihrem Sohn stark beeinflusst.

    Kunstvoll und sprachlich eloquent, dabei spannend und in kurzen Kapiteln, führt uns Jessica Lind in die psychologischen Abgründe von Familiendynamiken ein... es geht um Unausgesprochenes, Tragisches, Schuld, Abweisung und Gewalt.

    Dabei zeigt die Autorin sehr gut auf, wie auch scheinbar erwachsene Menschen speziell im Umgang mit den eigenen Kindern stark von ihren eigenen Kindheitserfahrungen geprägt sind und wie diese die Beziehung beeinträchtigen können. Was diese Aspekte angeht, ist es also ein tolles Buch.

    Dennoch gibt es andere Aspekte, die mich das Buch eher unzufrieden zuklappen haben lassen. Es werden viele offene Fragen gestellt und auch die wichtigsten davon, auf die das ganze Buch hingeführt hat, am Ende in keiner klaren und für mich zufriedenstellenden Form beantwortet.

    Das Buch endet auch an einer eher ungewöhnlichen Stelle, an der man sich wünschte, die Autorin hätte noch ein paar Seiten weiter geschrieben. Das mag stilistisch so geplant sein und passt wiederum zum Thema des Ungesagten - auch uns als Lesende lässt die Autorin mit dem Ungesagten zurück. Einerseits kann uns das die Erfahrung verschaffen, selbst zu spüren, wie es einem damit geht. Andererseits ist es etwas, was ich bei Büchern dennoch nicht sehr schätze, und wofür ich einen Stern abziehe.

    Insgesamt ist es aber auf jeden Fall ein spannendes und psychologisch vielschichtiges Buch, das viele interessante Denk- und Diskussionsanregungen zu den Themen Kindheit, Erziehung, Eltern-Kind-Beziehung, Ehrlichkeit vs. Verschweigen, transgenerationale Weitergabe von Themen und Traumata und vielem mehr anregt.

  1. 5
    28. Aug 2024 

    Die Traumata einer Mutter

    Pia und Jakob, in ihren Dreißigern und Eltern von Luca, werden zum Gespräch ins Lehrerzimmer bestellt: Luca soll eine Mitschülerin belästigt haben, sich übergriffig verhalten haben. Was genau passiert ist, ist unklar. Weder das Mädchen, noch Luca äußern sich dazu. Pia ist empört, besonders, als sie und Jakob aus dem Elternchat entfernt werden. Und doch beginnt sie, ihren Sohn genau zu beobachten. Steckt da doch ein kleiner Teufel hinter der engelsgleichen Fassade?
    Pia beginnt an ihrem Kind zu zweifeln und öffnet dadurch eine Tür in ihren eigenen inneren Abgründen. Schicht für Schicht dringt man beim Lesen tiefer in Pias Vergangenheit und ihre Psyche vor. Wir steigen ab in ihre eigene Kindheit, ihr zurückgezogenes Leben zusammen mit ihren Eltern und ihren beiden Schwestern Romi und Linda. Ohne relevante weiteren sozialen Kontakte bestimmte die Dynamik unter den Geschwistern und zwischen Eltern und Kinder den Alltag. Romi, die das von der Mutter adoptierte Wunschkind zu sein schien, tut sich durch mehr Wagemut, Wildheit und Unangepasstheit hervor, befeuert auch die (normale) Konkurrenz unter Geschwistern. Als jedoch die vierjährige Linda aus ungeklärten Gründen im See ertrinkt ist nicht klar, war passiert ist. Sie war alleine mit Romi im Winter am Wasser. Wollte Romi sie retten und konnte es nicht? Nach Lindas Tod verändert sich alles, bis schließlich Romi die Familie nach einem größeren Streit verlässt. Pia erinnert sich mit zunehmendem Argwohn an Romi. Durch ihre alleinige Sicht der Dinge geführt wird uns als Lesern nicht klar, was hier Realität ist und was Pias Phantasie entspringt. Ist Romi das „böse Mädchen“? Gar in Lindas Tod verwickelt? Oder spielt Pias Erinnerung ihr und uns einen Streich? Und welche Rolle spielt die Mutter der drei Mädchen, die alles Negative im Leben ausblendet und ganz andere Erinnerungen an damals zu haben scheint?
    In Erinnerung an die unüberwundenen Traumata ihrer Kindheit beargwöhnt Pia nun ihren Sohn. So wie sie glaubt, sich bei Romi an unsoziales und gemeines Verhalten zu erinnern, so vermutet sie auch bei Luca eine bösartige Ader. Sie misstraut ihrem Kind, glaubt, dass er sie anlügt und beobachtet ihn sehr genau. Nässt er ins Bett? Quält er Tiere? Pia befindet sich in einer Spirale, in der sie ihre eigenen Erfahrungen, ihre Vergangenheit mit der Realität vermischt. Als wieder etwas passiert, eskaliert die Situation.
    Für mich ist es ist ein sehr lesenswerter, spannender und intensiver Roman. Statt eines Zwischenfalls unter Grundschulkindern geht es jedoch um ganz andere Themen. Für mich nimmt das Thema Mutterschaft eine zentrale Rolle ein. Es geht darum, wie die Erfahrungen der Kindheit, mit der eigenen Mutter und deren Verhalten später den Umgang mit dem Kind und der Mutterrolle beeinflussen können. Hier wird aus der Schuld des Kindes die Schuld der Mutter und schließlich die Schuld der Großmutter. Aus unserer Warte als Leser erkennen wir die Fehler, die die Protagonisten selbst nicht reflektieren können und bedauern ihre Entscheidungen. Somit zeigt das Buch ganz anschaulich, wie Traumata sich in die nächste Generation weitergeben lassen und was für verheerende Ausmaße es annehmen kann, wenn man solche traumatuschen Erfahrungen nicht therapeutisch aufarbeitet. Was zunächst so einfach und klar war – ein Zwischenfall zwischen Kindern in der Schule – wird zunehmend düsterer, spannend und unscharf. Was ist gut und was ist böse? Und welche Erinnerung ist die richtige?
    Der Roman ist spannend, zugänglich und kurzweilig. Was mir außerdem gut gefallen hat, war der Stil, der leicht und flüssig ist, mit vielen Dialogen, knappen, klaren Sätzen und kurzen Kapiteln. Das hat dem schweren und ernsten Thema einen leichteren, angenehmen Rahmen verpasst. Definitiv lesenswert!

  1. Kinder sind nicht nur kleine Engel

    "Es gibt Dinge, die werden nicht mehr gut. Schon gar nicht, wenn man sie ans Licht bringt. Ich halte inne. Vielleicht ist Lucas Schweigen ja so gemeint, Er will uns vor der Wahrheit beschützen." (Buchauszug)
    Ein Vorfall in der Schule stellt das Leben von Pia und Jakob auf den Kopf. Luca soll etwas angestellt haben, als er mit Alena allein im Klassenzimmer war. Mädchen, so sagt die Lehrerin, denken sich so etwas nicht aus. Während ihr Sohn Luca schweigt, gräbt seine Mutter Pia in ihrer eigenen Vergangenheit. Pia weiß, dass durchaus eine andere Seite in Kindern schlummert. Durch das Misstrauen der anderen Eltern wird sie an ihre eigene Kindheit zurückerinnert. Sie lässt Luca nicht mehr aus den Augen und sieht, wie sie sich immer fremder werden. Pia kommen erste Zweifel, ob sie wirklich eine gute Mutter ist.

    Meine Meinung:
    In diesem Buch soll der 7-jährige Luca etwas mit seiner Mitschülerin Alena getan haben. Weshalb die Eltern ein Lehrergespräch führen. Doch was genau ist wirklich zwischen den beiden Kindern geschehen? Das versuchen die Eltern von Luca herauszufinden, doch dieser schweigt vehement. Sagt er nichts aus Angst, wegen eines schlechten Gewissens, Trotz oder zu Unrecht, weil er gar nichts getan hat? Man ahnt nichts Gutes, doch die Autorin lässt den Leser im Unklaren darüber. Während es für Vater Jakob alles nicht so schlimm ist, wachsen in Pia immer stärkere Zweifel gegen ihr eigenes Kind. Verschweigt Luca etwas vor Ihnen? Jessica Lind beschreibt in diesem Buch die schleichende Veränderung der Icherzählerin Pia durch ihre eigene Kindheit. Sie erinnert sich an ihre Schwester Romi, um die es immer ein Geheimnis gab. Sie hat Romi im Grunde selbst nie wirklich verstanden, auch wenn sie sich am Anfang gut verstanden haben. Weshalb der Kontakt dann irgendwann abbrach. Die zwei Handlungsstränge befassen sich mit der Gegenwart, während der zweite sich mit Pias Vergangenheit beschäftigt. Sie erzählt von ihrer Kindheit, dem Verhältnis zu ihren Eltern und von ihren beiden Schwestern Romi und Linda. Romi kam als Adoptivkind in die Familie und war immer schon etwas sonderbar. Linda, deren Luca ähnelt, ist mit 4 Jahren in einem See ertrunken. Was damals wirklich geschah, hat die krank im Bett liegende Pia nie wirklich erfahren. Man munkelt nur, dass Romi versucht hat, Linda zu retten. Dieses unausgesprochene Trauma war eigentlich nie mehr Thema. Allerdings nach den Problemen mit Luca kommt es wieder zum Vorschein. Sie erinnert sich daran, wie sich ihre Eltern nach Lindas Tod verändert haben. Selbst wenn dieses Schicksal bisher kaum eine Rolle in Pias Beziehung gespielt hat, spürt man doch unterschwellig, wie sehr sie die Vergangenheit belastet und geprägt hat. Ich glaube, damals hätte Pias Familie dringend eine Aufarbeitung dieses Traumas gebraucht. Stattdessen haben sie alles unter den Teppich gekehrt bzw. sie finden in Romi eine Schuldige. Oder entdecken wir als Erwachsene, was in unserer Kindheit alles falsch gelaufen ist? Pias Sicht hat durchaus sogar finstere, zerstörerische Tendenzen. So übt sie z. B. vor dem Spiegel das Lächeln, denn wenn sie lächelt, so sagt sie, sehe man ihr ihre Gedanken nicht an. Der Neid auf Jakob mit seiner schönen Bullerbü-Kindheit bekommt bei Pia allmählich sogar Wut und Gewaltfantasien. Der Roman zeigt außerdem, unter welchem Druck selbst heute noch Mütter stehen, die immer noch als Vorbild für ihre Kinder herhalten müssen. Mir hat Luca sehr leidgetan, ich war über Pia oft fassungslos. Ob er alles wirklich so einfach wegsteckt, bleibt fraglich. Allerdings ist sicher, die ganze Familie braucht dringend Hilfe. Am Ende bleiben Fragen offen, Fragen wie: Hat Romi wirklich was mit dem Geschehen zu tun? Und wenn ja, war Linda für Romi eine Konkurrenz und sie hat sie deshalb ertrinken lassen? Hat Pias Mutter damals Romi misshandelt und aus dem Haus getrieben? Weil es mich nicht ganz überzeugt hat, gebe dem Buch 4 Sterne.

  1. 3
    21. Aug 2024 

    Generationale Traumata

    Im Buch geht es um Pia, Mutter eines kleinen bezaubernden Jungen. Und doch werden Pia und ihr Mann Jakob von der Lehrerin von Luca zu einem Elterngespräch eingeladen, weil etwas geschehen ist. Luca habe einem Mädchen in seiner Klasse etwas angetan. Was, ist unklar. Zumindest für Pia und Jakob. Während Jakob an die Unschuld ihres Kindes glauben will, sieht Pia immer und immer mehr Abgründe im Verhalten ihres Sohnes.

    Ich arbeite mit Kindern und weiß daher selbst, dass Kinder gelegentlich Dinge machen, mit denen man absolut nicht gerechnet hat und die einen im ersten Moment fassungslos zurücklassen. Und doch bin ich nicht in der furchtbar schwierigen Situation der Eltern, die ihrem Kind viel, viel näher stehen.
    Mich hat sehr interessiert, wie dieses Buch das Thema behandelt, aber um ehrlich zu sein, war es etwas enttäuschend, da der Vorfall verhältnismäßig wenig Raum einnimmt. Stattdessen lesen wir bald von einer Mutter, die ihre eigene Kindheit auf ihren Sohn projiziert und ihrem Kind dabei zum Teil schockierende Dinge zutraut und antut.
    Auch das war soweit gut geschrieben, aber nicht so wirklich das, was ich mir von dem Buch erhofft hatte. Wir sehen die Abwärtsspirale von Pia und wie sie sich mit ihrer eigenen Kindheit auseinandersetzt, die von Dunkelheit geprägt war. Letztendlich geht es um generationale Traumata.

    Das Buch ist nicht schlecht, aber nicht das, was ich mir erwartet hatte. Leute, die eher nach einem Buch darüber suchen, wie sich ein Trauma durch mehrere Generationen ziehen kann, werden hier bedient.

  1. Eltern werden ist (meist) nicht schwer, Elternsein dagegen sehr

    Kurzmeinung: Thematisch kein Leichtgewicht und doch so federleicht geschrieben. Hat mir Spaß gemacht!

    Pia Reiserer führt eine glückliche Ehe mit dem entspannten Musiker Jakob. Beide leben in St. Pölten, das ist charmant, denn auch die Autorin lebt an diesem Ort. Die beiden müssen sich dort wohl getroffen haben! Pia und Jakob lieben ihren siebenjährigen Sohn, Luka, wie gute Eltern ihren Sohn lieben, beide mussten in die Elternrolle jedoch erst hineinwachsen. Als er klein war, las Jakob Elternratgeber und drängte diese Bücher auch Pia auf. Aber Pia wurde durch diese Art von Literatur eher verunsichert. Schließlich beschloss sie, sich auf ihre Intuition zu verlassen.

    Als Pia in die Schule gerufen wird, weil sich Luka „unangemessen“ gegenüber einem anderen kleinen Mädchen verhalten hätte, gerät Pia in einen Konflikt.

    Der Kommentar und das Leseerlebnis:
    Es wird schnell klar, dass die Autorin sich nicht auf Luka, sondern auf Pia konzentriert und dass es eigentlich völlig egal ist, was und ob überhaupt etwas in der Schule passiert ist, denn Zeugen gibt es keine und Luka sagt nichts. Hat das kleine Mädchen geflunkert, was könnte der 7jährige Luka gemacht haben, verletzt ist niemand.
    Das Vorkommnis reicht jedoch aus, um Pia in ihre eigene Kindheit zurückzukatapultieren. Während sie im Folgenden Luka beobachtet, tauchen immer wieder Kindheitserinnerungen auf. Waren Pias Eltern wirklich liebevoll, war sie wirklich „das gute Kind“ und ihre Adoptivschwester Romi „das böse Kind“? Wie ist ihre kleine Schwester Linda als Vierjährige gestorben? Nur Romi war dabei. Aber Romi ist nicht mehr befragbar. Sie hat ihre Adoptiv-Familie im Streit verlassen. Was hat Romi getan, hat Romi etwas getan und warum hat sich nach Lindas Tod alles verzerrt und verändert? Pia stellt sich nach und nach ihren Erinnerungen und allmählich wird ihr klar, dass sie ihre Verunsicherungen nicht auf Luka projizieren darf. Aber das ist ein langer Weg.
    Den Leser erwartet ein versöhnliches, offenes Ende. Es wird nicht alles geklärt, aber die wesentlichen Dinge kommen auf den Tisch und Pia versöhnt sich mit den Unwägbarkeiten in ihrem Leben und kommt sich selbst auf die Spur.

    Der Roman ist flott geschrieben, erzeugt unterschwellige Spannung und macht Spaß. Muttersein fällt nicht jedem in den Schoß und es gibt keinen Führerschein dafür. So siehts aus.

    Fazit: Schöner Roman über die Schwierigkeiten, Eltern zu sein.

    Kategorie. Gute Unterhaltung mit Anspruch
    Hanser Berlin 2024

  1. 3
    20. Aug 2024 

    Das Scheitern der Mütter

    „Die Liebe ist keine Selbstverständlichkeit für mich. Die Mutterhaut, die ich trage, passt nicht wie angegossen.“
    Die Familiengeschichte „Kleine Monster“ ist der zweite Roman von Jessica Lind und er beschäftigt sich erneut mit dem Thema der Mutterschaft.
    Im Zentrum stehen Pia und ihre Familie, Ehemann Jakob und Sohn Luca. Auslöser für eine Krise im anscheinend glücklichen Familienalltag ist ein ungeklärter Vorfall im Klassenraum zwischen Luca und seiner Klassenkameradin Alena. Dem 7-Jährigen werden Vorwürfe seitens der Lehrer- und Elternschaft gemacht, weder wehrt noch verteidigt er sich und ab diesem Moment vergiftet das Misstrauen zwischen Pia und ihrem Sohn das Verhältnis der beiden. Die Eltern werden in die Schule bestellt, sind entsetzt und eine kontinuierliche Entfremdung zu Luca findet statt.
    In einem zweiten Erzählstrang folgen wir Pia in ihre Vergangenheit, als ihre geliebte 4-jährige Schwester Lina im See ertrinkt und das Geheimnis um diesen Tod zieht sich durch den Roman. Es geht um eine mögliche Schuld der Adoptivschwester Romi, die während des unerklärlichen Unglücks mit Lina alleine am See war. Der Leser bleibt mit der Protagonistin im Ungewissen, wird durch Andeutungen in seiner Perspektive und Wahrnehmung allerdings gelenkt.
    Diese beiden Schlüsselstellen – der Zwischenfall im Klassenzimmer / eventueller Missbrauch und der Tod im See / möglicherweise Mord oder Totschlag – stehen im Zentrum und beide triggern Pia. In ihr findet ein schleichender Wandel statt und sie beginnt, ihren Sohn mit anderen Augen zu sehen, glaubt, ihre Schwester Romi und deren negativen Charakterzüge in ihm zu erkennen, Unverständnis, Entfremdung, eine gestörte Beziehung werden deutlich.
    Der tragische Unfall ist das Trauma Pias, das den gesamten Roman durchzieht. Ihre Herkunftsfamilie ist zerbrochen, die ehemals glückliche Kindheit wurde abrupt beendet, die Familienmitglieder gehen auf Distanz, Romi wird verantwortlich gemacht, ein Sündenbock par excellence, und verlässt schließlich die Familie.
    Was für eine schreckliche Familie! Man möchte die Mitglieder schütteln, ihnen eine Familientherapie verordnen, denn einfach so kommen sie sicherlich nicht wieder zueinander und einfach so kann auch keine Annäherung, eine neue Vertrauensbasis oder eine Hoffnung auf Glück entstehen. Mir bleiben die Personen fremd und ich kann diese negativen Verhaltensweisen nicht nachvollziehen. Armer Luca, die einzigen Monster, die ich sehe, sind die beiden Mütter, die es nicht schaffen, ihre geliebten Kinder zu unterstützen, ihnen in schwierigen Situationen zu helfen, ihnen zu vertrauen, ihre Ängste zu nehmen und an das Gute im Menschen zu glauben.

  1. 3
    16. Aug 2024 

    Keine leichte Kost...

    Erwartet habe ich hier einen Roman, der sich um die Frage dreht, was wirklich in dem Klassenzimmer vorgefallen ist - und welche Dynamik sich daraus innerhalb von Lucas' Familie, unter den Eltern der Mitschüler:innen und in der Klasse selbst entwickelt. Zu Beginn orientiert sich der Roman auch tatsächlich an diesem Geschehen. Lucas Eltern werden von seiner Klassenlehrerin zu einem Gespräch gebeten, in dem sie darüber informiert werden, dass ein Mädchen berichtet habe, dass etwas passiert sei, als sie mit Luca alleine im Klassenraum war. Es bleibt bei Andeutungen, die Emotionen der Erwachsenen übernehmen sofort die Regie.

    Erzählt aus der Ich-Perspektive von Lucas Mutter Pia kommt es zunächst zu der erwarteten Dynamik. Der siebenjährige Luca schweigt zu dem Vorfall, wie es so seine Art ist, die Eltern sind auf ihre Fantasie angewiesen. Und während der in sich ruhende Vater geneigt ist, daran zu glauben, dass nichts Schwerwiegendes vorgefallen ist und die Mücke bitte nicht zu einem Elefanten aufgeblasen werden sollte, schlägt Pias Fantasie zunehmend Kapriolen, bis sie das Schlimmste annimmt und der festen Überzeugung ist, ihren Sohn im Grunde gar nicht zu kennen.

    "Jakob liegt falsch, wenn er sagt, dass Schweigen nicht Lügen ist. Schweigen ist noch schlimmer. Ich weiß, wovon ich rede." (S. 94)

    Rasch wird deutlich, dass eher Pia das Problem ist als der kleine Luca. Um die Verhaltensweisen und Reaktionen von Pia zu verstehen, taucht der Roman bald schon ab in ihre eigene Kindheit, in ein Leben mit zwei Schwestern - eine schon lange tot, zu der anderen besteht seit Jahren kein Kontakt mehr. Zahlreiche Details tauchen aus der verdrängten Erinnerung wieder auf, eine bedrückende Atmosphäre auch beim Lesen. Ein Gebot des Schweigens von Seiten der Eltern, als es zu einem traumatischen Ereignis kam - und als danach alles anders wurde. Und die Folgen ihrer Kindheit und insbesondere des Traumas wirken bei Pia bis heute nach, unverarbeitet aber präsent. Bestimmte Ereignisse oder auch Verhaltensweisen von Luca in der Gegenwart triggern Pia offenbar und lösen irrationale Reaktionen aus, die sich wiederum auf das Verhältnis von Pia und ihrem Sohn auswirken.

    Bei allem Verständnis für die Auswirkungen von unverarbeitetn Traumata muss ich leider gestehen, dass ich mit Pia nicht warm wurde. Ihre Gedanken kreisen weniger um Luca sondern eher um sie selbst, um die eigene Vergangenheit - und um das, was andere denken oder sagen könnten. Dabei nimmt sie immer den schlimmsten Fall an und setzt ihn als gegeben voraus, wohl um für alles gewappnet zu sein. Pia geht stets gleich in eine Verteidigunshaltung, in die Vollen, da ist immer gleich Wut, kein Zuhören, kein Austausch - das macht es anderen auch schwer, auf sie zuzugehen. Sie versucht ansonsten stets zu handeln wie sie glaubt dass es ihr Gegenüber möchte - und wenn das nicht gelingt, macht sie zu, wird schnippisch, laut, wendet sich ab. Wie es Luca geht, dafür hat sie dagegen meist gar kein Empfinden. Das war für mich stellenweise schwer auszuhalten.

    "Die Liebe ist keine Selbstverständlichkeit für mich. Die Mutterhaut, die ich trage, passt nicht wie angegossen. Ich bin nicht Aschenputtel, ich bin eine ihrer Schwestern, die sich erst die Ferse abschneiden muss oder den großen Zeh. Und (...) ich weiß, dass Luca etwas Besseres verdient hat." (S. 57)

    Der Roman lässt sich flüssig lesen und entwickelt eine untergründige Spannung - die Frage, was wirklich in der Klasse vorgefallen ist, als der siebenjährige Luca und seine Mitschülerin dort alleine waren, und auch die Frage, was seinerzeit mit einer von Pias Schwestern wirklich geschah und wie es dazu kam, hält einen beim Lesen bei der Stange. Die oftmals düstere Atmosphäre wirkt in der Tat bedrückend, die emotionalen Abgründe v.a. von Pia sind authentisch herausgearbeitet.

    Das Geschehen im Klassenzimmer, das der Klappentext hervorhebt, ist für mich tatsächlich nur der Auslöser des sich verändernden Verhältnisses von Pia zu ihrem Kind. Ich hätte erwartet, dass diese Situation mehr im Vordergrund steht, die doch deutlich andere Entwicklung hat mich gelinde gesagt sehr überrascht. Der Schluss des Romans ließ mich zudem unbefriedigt zurück - nach einem heftigen Vorfall plötzlich dann zu schnell, zu lapidar, zu viele offen bleibende Enden.

    Ein eindringliches, bedrückendes Leseerlebnis, definitiv keine leichte Kost - man möchte Pia dringend eine Therapie ans Herz legen und dem kleinen Luca eine ausreichende Resilienz wünschen...

    © Parden

  1. Familiäre Abgründe

    Für Pia Reiserer ist es ein Schock: Ihr Sohn Luca (7) soll Alena, eine Mitschülerin, sexuell belästigt haben. Das Gespräch mit der Klassenlehrerin wühlt die Mutter sehr auf und bringt die Schatten ihrer eigenen Vergangenheit wieder zum Vorschein. Können Kinder bösartig sein? Was ist ihnen zuzutrauen?

    „Kleine Monster“ ist ein Roman von Jessica Lind.

    Die Struktur ist sehr klar: Drei Teile mit insgesamt 61 kurzen Kapiteln umfasst der Roman. Erzählt wird im Präsens in der Ich-Perspektive aus der Sicht von Pia auf zwei Zeitebenen: einerseits in der Gegenwart, andererseits aus der Kindheit der Protagonistin. Die Handlung findet in und um St. Pölten in Österreich statt.

    Die Sprache ist überwiegend ungekünstelt, gleichzeitig aber atmosphärisch dicht und eindringlich. Neben authentischen Dialogen und anschaulichen Beschreibungen beweist die Autorin vor allem in den emotionsgeladenen Passagen, dass sie vortrefflich mit Worten umgehen kann.

    Protagonistin Pia ist mit großer psychologischer Tiefe angelegt. Ihre Gedanken und Gefühle erhalten viel Raum. Sie offenbaren schon früh, dass Pia ein unverarbeitetes Trauma erlitten hat und nach wie vor darunter leidet. Auch die anderen Figuren wirken lebensnah und vielschichtig, bleiben aber etwas blasser, was der Story geschuldet ist.

    Zu was sind Kinder fähig? Und wie gut kennen wir unsere Söhne und Töchter? Diese zwei interessanten Fragen wirft der Roman immer wieder auf und bietet damit viel Stoff zum Nachdenken. Anders als der Klappentext vermuten lässt, geht es dabei jedoch weniger um den besagten sexuellen Übergriff, sondern um ein Drama, das sich in der Kindheit der Protagonistin ereignet hat. Die Herausforderungen der Mutterschaft und bedenkliche Familiendynamiken werden darüber hinaus ebenfalls beleuchtet. Diese und weitere Themen machen den Roman zu einer gleichsam bewegenden wie beklemmenden Lektüre.

    Das Rätseln darüber, was genau im Klassenzimmer vorgefallen ist und was damals vor vielen Jahren passiert ist, sorgt für Spannung und verstärkt den Lesesog. Wegen einiger Redundanzen zieht sich der Mittelteil dennoch ein wenig. Der dritte Teil hingegen wird für meinen Geschmack zu kurz abgehandelt. Der Schluss ist insgesamt etwas unbefriedigend, da viel im Verborgenen bleibt, und inhaltlich nicht ganz rund.

    Das ungewöhnliche, kreative Cover passt in mehrfacher Hinsicht hervorragend zum Buch. Das gilt ebenso für den Titel, wenn man ihn auch in metaphorischem Sinne versteht.

    Mein Fazit:
    Obwohl mich der Roman nicht in jedem Detail überzeugt hat, ist „Kleine Monster“ von Jessica Lind eine fesselnde und aufwühlende Lektüre, die mich gut unterhalten hat.

  1. Komplexes Psychogramm einer Mutter

    Jakob und Pia werden zur Klassenlehrerin der 2B ihres Sohnes Luca gerufen. Der Vorwurf: Luca soll sich einem Mädchen gegenüber übergriffig verhalten haben. Der Junge selbst schweigt nachhaltig dazu. Der antiautoritäre Vater hält die Affäre für haltlos übertrieben, die Mutter traut ihrem Sohn vieles zu, sie weiß, dass Kinder kleine Monster sein können. Pia wird aus dem Klassenchat ausgeschlossen, man meidet den Kontakt zu ihr, was ihre Fantasie in Bezug auf das Vorgefallene befeuert.

    Pia steht als Mutter und Ehefrau im Zentrum dieses Romans. Sie wird von Selbstzweifeln geplagt, hegt widersprüchliche Gefühle ihrer Mutterschaft gegenüber, hat Angst nicht zu genügen. Der Vorfall rund um Luca konfrontiert sie mit ihren eigenen Kindheitserinnerungen. Ihre Herkunftsfamilie lebte mit drei Kindern zurückgezogen am Waldrand. Pia und die adoptierte Romi waren fast gleichaltrig, Linda einige Jahre jünger. „Wir drei sind eins. Drei Schwestern. Eine glückliche Familie. Bis wir es nicht mehr sind.“ (S. 45)

    Nach und nach erfährt der Leser um die Verluste und schwelenden Konflikte innerhalb dieser Familie. Das Verhältnis der Schwestern schwankte zwischen inniger Dreisamkeit einerseits und Eifersucht um die elterliche Zuwendung andererseits. Ein tragischer Unfall erschüttert das familiäre Gefüge, ungesunde Dynamiken werden in Gang gesetzt. Die Tragödie wird nie richtig aufgearbeitet. Schweigen, Vermutungen, Beschuldigungen sowie Rachegefühle setzen sich in den Köpfen fest, in denen Romi zum Sündenbock degradiert wird. Das vielfach Ungesagte belastet Pias Psyche bis heute. Ihr erlittenes Trauma tritt schichtweise zutage. Die Vergangenheit überlagert stellenweise die Gegenwart. Man fragt sich, inwieweit man Pia und ihren Wahrnehmungen trauen kann.

    Im Verlauf lernt man auch Jakobs Herkunftsfamilie kennen, in der ebenfalls nicht alles zum Besten steht. Fängt man erst einmal an, unter der Oberfläche zu graben, findet man wohl in jeder Familie dunkle Schatten. Diese Begegnungen schärfen den Blick aufs Gesamte, schließlich besteht jeder Mensch auch aus seinen Vorfahren, die ihn vielfältig prägen. Es müssen ja nicht immer Traumata sein. Jessica Lind versteht es, absolut glaubwürdige Szenen und Dialoge zu schreiben, in denen man sich oder andere wiedererkennt.
    Der Roman wird in kurzen Kapiteln allein aus Pias Perspektive erzählt, die Zeitebenen wechseln sich dabei ab. Beide sind gut verzahnt und überaus spannend aufbereitet. Es dauert eine Weile, bis der Leser komplett über das Geschehen in der Vergangenheit informiert ist. Gleichzeitig spitzen sich die Vorgänge in der Gegenwart zu. Pia misstraut ihrem Sohn mehr und mehr, sie kontrolliert und argwöhnt, sucht Beweise und Aufklärung. Dadurch entsteht eine bedrohlich beklemmende Atmosphäre. Als Leser wird man fast permanent in der Schwebe gehalten, denn es gibt Be- und Entlastendes. Pia ist eindeutig bemüht, die Wahrheit ans Licht zu bringen. Diese Verdichtung ist der Autorin hervorragend gelungen. Der Roman besitzt eindeutig Elemente eines Psychothrillers, so dass man ihn schwer aus der Hand legen kann.

    Zum Ende hin wird die Handlung gerafft, bevor sie in einem dramatischen Finale auf den Höhepunkt zusteuert. Hier setzt nun mein Kritikpunkt an. Es muss nicht alles auserzählt werden, ich kann gut mit offenen Fragen umgehen. Aber sie müssen stimmig sein, sie müssen zu Handlung und den Charakteren passen. Bei diesem Ende, das ich nicht näher ausführen will, verlief mir manches im Verhältnis zur vorherigen Dramatik zu einfach, zu optimistisch, zu oberflächlich. Ich kann es schwer in Worte fassen, ohne zu spoilern.

    Ich habe diesen Roman verschlungen. Ich betrachte Jessica Lind als begabte junge Autorin, von der man hoffentlich noch viel lesen wird. Der Text besitzt reichlich Tiefe und Lebenserfahrung.

    Große Leseempfehlung!

  1. Das eigene Kind unter Verdacht

    Welche Mutter gerät da nicht in Panik, wenn die Schule zum Elterngespräch bittet, weil der siebenjährige Sohn Luca bei einer Mitschülerin sexuell übergriffig geworden sein soll. Ein delikates Thema, das die dünne Deckung der Aufsichtspflicht schnell bröckeln lässt.
    Beim abendlichen Gespräch mit dem Kind im trauten Familienkreis, gibt sich dieses verschlossen und so wachsen Mutter Pias Zweifel an der Harmlosigkeit des Vorfalls.Von einem Klassenchat mit den anderen Müttern wird sie ausgeschlossen, ihr Mann Jakob sieht die Situation gelassen und so wächst Pias Verunsicherung. Sie stellt ihre Eignung zur Mutterschaft in Frage und so gelangt sie gedanklich unweigerlich bei ihrer eigenen Kindheit, als große Schwester mit noch zwei Schwestern, als die Welt in ein Davor und ein Danach zerbrach.
    Sie entdeckt Parallelen zwischen Luca und ihrer Adoptivschwester Romi, die damals auch Sachen machte, die sie nicht verstand, gegen die sich bald aber ihre ganze Vorsicht richtete nachdem das große Unglück passierte und sich alles änderte.
    Gefangen im Gedankensumpf merkt Pia nicht, wie sie ihren Sohn immer mehr verdächtigt, schlimme Sachen zu machen. Harmlose Situationnen bauschen sich sofort bei ihr auf und sie reagiert über. Das behütete Elternhaus ihres Mannes bietet da wenig Rückhalt und Verständnis, so kann er sie einfach nicht verstehen und meint auch noch mit einem zweiten Kind Pias Übertreibungen dämpfen zu können.

    Der Knoten scheint endlich zu platzen, als Luca seine "verschollene" Tante Romi kennenlernen möchte.

    Die 1988 geborene, österreichische Drehbuchautorin und Schriftstellerin Jessica Lind beleuchtet in ihrem Roman die Kindheiten aus zwei Generationen. Dem Schweigen geopferte traumatische Ereignisse werden hier unbewusst an die Nachkommen weitergegeben. Das Cover des Buches lässt erahnen, dass es hinter idyllischen Kulissen eine zweite Welt zu entdecken gibt. Der Zwischenfall in Pias Gegenwart, öffnet uns Leser den Einblick in ihre Vergangenheit. Fehler, die schon ihre Mutter begangen hat, können nicht ungeschehen gemacht werden, doch bezweifelt der geneigte Leser, dass Pias Beschädigungen ohne professionelle Hilfe aufgearbeitet werden können. Diese Option aber wird nicht angesprochen. Linds Roman zeigt auf, Schlüsse bleiben ein Versprechen in Andeutungen, Heilungswege aber der Phantasie des Lesers überlassen. Es bleibt zu hoffen, dass Lucas Erinnerungen ihn nicht genauso beschädigen, wie seine Mutter.

    Zweifelsohne war diese Lektüre spannend, respektvoll im Umgang mit dem minderjährigen Sohn, mit kleinen Umwegen in irreführende Richtungen, was aber wohl der Dramturgie geschuldet ist. Verstörende Momente bleiben haften, verlieren aber ihre Schwere in der Distanz zu den Protagonisten.

    Kleine Monster gibt es nicht, wohl aber große Menschen, die ihren Kindern monströses antun.

  1. Von Müttern und Schwestern

    Als Pia und Jakob in die Schule gerufen werden, glauben sie ihren Ohren nicht zu trauen. Ihr siebenjähriger Sohn Luca soll gegenüber einer Klassenkameradin sexuell übergriffig geworden sein. Während Jakob bedingungslos hinter Luca steht, mehren sich in Pia die Zweifel. Ist ihr Sohn wirklich so gut und lieb, wie sie es bisher glaubte? Oder steckt in ihm gar ein "kleines Monster"? Pia erinnert sich an ihre eigene Kindheit, damals, als sie und ihre Schwestern Romi und Linda eine unerschütterliche Einheit bildeten. Bis das Unsagbare geschah...

    "Kleine Monster" ist der zweite Roman der österreichischen Autorin Jessica Lind, der bei Hanser Berlin erschienen ist. Lind gelingt darin ein bemerkenswert spannendes Psychogramm zweier Familien, deren Bindeglied Pia ist - einmal als Mutter, einmal als Schwester bzw. Tochter. Gerade im ersten der drei Teile enden die kurzen Kapitel oftmals mit einem Cliffhanger. Noch größer wird die Spannung dadurch, dass sich in der Regel die Gegenwarts- mit den Kindheitskapiteln Pias abwechseln und somit eine gewisse Zeit verstreicht, ehe man sich der Auflösung des vorangegangenen Spannungsknotens nähert.

    Ein weiteres Plus sind die facettenreichen Figuren, die sich im Verlaufe des Romans überwiegend glaubwürdig entwickeln. Lediglich eine nicht unbeutende Szene gegen Ende des Romans wirkt hier ein wenig übertrieben. Besonders stark - auch atmosphärisch - sind die Rückblicke, die sich mit Pias Kindheit und Familienerinnerungen befassen. Lind stellt durch die Trennung von Gegenwart und Vergangenheit die zentralen Themen Mutterschaft und Schwesternschaft gegenüber. Beiden Themen nähert sich Lind behutsam und intensiviert diese im Laufe des Romans. Angenehm ist zudem, dass "Kleine Monster" trotz der Thematik der sexuellen Übergriffigkeit den klammheimlichen Voyeurismus der Leserschaft überhaupt nicht bedient. So wird die Intimität des jungen Luca gewahrt, was für zusätzliche Spannung sorgt.

    Sprachlich scheint der Roman auf den ersten Blick unauffällig zu sein. Das erzählerische Präsens sorgt für eine große Unmittelbarkeit, "Kleine Monster" liest sich generell äußerst flüssig. Doch dann sind da immer wieder diese Sätze, die eine so große Wucht entfalten, dass sie die Leser:innen bewegt und ungläubig zurücklassen. "Wir drei sind eins. Drei Schwestern. Eine glückliche Familie. Bis wir es nicht mehr sind", heißt es plötzlich am Ende eines Kapitels. An einer anderen Stelle lässt Lind Pias Mutter mit Blick auf die adoptierte Romi zu Pia sagen: "Dich habe ich geboren, aber Romi habe ich mir ausgesucht. Sie ist unser Wunschkind." Eine Kränkung auf Lebenszeit, die Pia nicht mehr loslässt.

    Ohnehin dreht sich das Buch weniger um "kleine Monster" als um Verletzungen und Verletzlichkeit. Um Liebe und Hass, Verfehlungen und Gewalt. Lind strickt daraus auf 250 Seiten einen intensiven Roman, der ständig mit den Erwartungen der Leserschaft spielt. Da er zudem von der ersten bis zur letzten Seite unterhaltsam ist, sollte er eine durchaus breite Leserschaft ansprechen.

  1. 5
    20. Jul 2024 

    Nichts ist so wie es scheint

    Wer Jessica Linds Debütroman „Mama“ kennt, weiß, dass in ihren Romanen nichts ist, wie es zunächst anmutet. In „Kleine Monster“ erleben wir eine Mutter (Pia), die erfahren muss, dass ihr Sohn in der Grundschule einen – für die Lesenden - nicht näher bezeichneten sexuellen Übergriff gegenüber einer Mitschülerin unternommen hat. Das allein scheint für viele schon unvorstellbar und noch viel schwerer vorstellbar zu durchleben. Doch dabei bleibt es nicht, denn durch Rückblicke erfahren wir mehr über die Kindheit von Pia und bekommen ein erschreckendes Bild geliefert.

    Mehr soll inhaltlich gar nicht verraten werden, da der Roman gerade durch die allmähliche Aufdeckung immer mehr Details und das Erkennen von Zusammenhängen gewinnt. Lind flechtet ungemein geschickt die Vergangenheit Pias mit der Gegenwart in ihrer kleinen Familie zusammen. Dabei entsteht ein Eindruck davon, wie stark uns selbst die eigene Kindheit prägt und in der Erziehung der eigenen Kinder einfließt.

    Selten habe ich mit gleichsam so viel Interesse aber auch Furcht die Seiten eines Buches umgeblättert, da man nie vorausahnen konnte, welchen psycho(patho-)logischen Abgrund die Autorin als Nächstes aus dem Hut zaubert. Das passiert bei ihr allerdings immer im Rahmen des Authentischen. Ein ganz leiser Psychothriller ist dieser Roman, der durch seine klare Sprache mehr als besticht. Mich hat er vollkommen in seinen Bann gezogen und ich konnte und wollte das Buch kaum aus der Hand legen.

    Auf nur 250 Seiten fächert Jessica Lind hier gleich zwei Familiendynamiken auf. Die von Pia, ihrem Mann Jakob und ihrem Sohn Luca sowie der Ursprungsfamilie von Pia und wie diese sich von ihre Schwiegerfamilie (Jakobs Eltern und Schwester) unterscheidet. Großen Respekt habe ich davor, wie die Autorin in ihrem Roman verdichtet auf einzelnen Szenen dieses Familiengewebe beschreibt und gleichzeitig in die Psyche der Ich-Erzählerin Pia eintaucht.

    Dafür gibt es von mir ein uneingeschränkte Leseempfehlung! Man braucht übrigens auch keine Trigger-Warnung bezüglich des eingangs erwähnten Vorkommnisses zwischen Luca und der Mitschülerin, da Lind sehr gekonnt um das Ereignis herum schreibt und keinerlei voyeuristischen Tendenzen nachgeht. Das hat mir zusätzlich sehr gut gefallen.

    5/5 Sterne