Maman: Roman

Buchseite und Rezensionen zu 'Maman: Roman' von Sylvie Schenk
4.5
4.5 von 5 (2 Bewertungen)

Inhaltsangabe zu "Maman: Roman"

Eine Annäherung an die eigene Mutter und eine schmerzhafte Abrechnung: 1916 wird Sylvie Schenks Mutter geboren, die Großmutter stirbt bei der Geburt. Angeblich war diese eine Seidenarbeiterin, wie schon die Urgroßmutter. Aber stimmt das? Und welche Geschichte wird den Nachkommenden mit auf den Weg gegeben? Als Kind leidet Sylvie Schenk unter dieser Unklarheit, als Schriftstellerin ist sie deshalb noch immer von großer Unruhe geprägt. Mit poetischer Präzision spürt sie den Fragen nach, die die eigene Familiengeschichte offenlässt. „Maman“ ist waghalsiges Unterfangen und explosive Literatur zugleich. Nach „Schnell, dein Leben“ hat die Autorin erneut einen Text voll Schönheit und Temperament geschrieben.

Format:Gebundene Ausgabe
Seiten:176
EAN:9783446276239

Rezensionen zu "Maman: Roman"

  1. 4
    18. Okt 2023 

    Wer war die eigene Mutter?

    Dies war mein erster Roman von Sylvie Schenk, aber voraussichtlich nicht mein letzter. Die gebürtige Französin schreibt seit 1992 Romane und Kurzgeschichten auf Deutsch, obschon sie 22 Jahre lang in Frankreich aufwuchs. Alleine schon die Tatsache, dass sie nicht in ihrer Muttersprache schreibt, löst bei mir Bewunderung aus. Sylvie Schenk formuliert hier in diesem Roman präzise und schnörkellos, durchsetzt mit poetischen Passagen, und nähert sich so dem Leben ihrer eigenen Mutter Renée an.

    Wie viel weiß man eigentlich von den eigenen Eltern - abseits ihrer Elternrolle? Diese Gedanken gingen mir beim Lesen immer wieder durch den Kopf, und tatsächlich gibt es auch in meiner Familie Leerstellen, die heute nicht mehr gefüllt werden können. Aber die Mutter Sylvie Schenks war zeitlebens im Grunde eine Persona non grata - unerwünscht, ungeliebt, ungewollt. Sie war die Tochter einer Seidenarbeiterin, die bei ihrer Geburt 1916 verstarb - eine unverheiratete Frau, die vermutlich durch ihren zum Überleben zwingend notwendigen Nebenjob als Prostituierte während des Ersten Weltkriegs schwanger wurde. Vater unbekannt.

    "Ich werde nie erfahren, woher meine Mutter stammt. Meine Geschwister und ich können nur das trockene, bürgerliche Vatererbe dokumentieren. Die Mutter, die Großmutter, die Urgroßmutter, die Textilarbeiterinnen und Wäscherinnen sind zu einem weißen Elefanten unserer Fantasie geworden, ein Tier, das uns immer noch weiter in ausgefranste Gebiete zieht."

    Als Bastard, als Waise, als Frühgeborenes hat Renée weder gute Überlebenschancen noch Zukunftsaussichten. Sieben Monate in der Obhut der Fürsorge, dann als Pflegekind auf einem abgelegenen Bauernhof, wo traumatisierende Erlebenisse erduldet werden mussten, die zeitlebens Spuren hinterließen. Mit fünf Jahren dann die Adoption durch ein gutsituiertes, elternloses Paar, wo Renée endlich sprechen lernte und Liebe erfuhr, und dennoch stets das Gefühl hatte, nicht wirklich dazuzugehören. Später die arrangierte Ehe mit einem Zahnarzt, durch die Renée fünf Kinder zur Welt brachte - vier Töchter und einen Sohn. Eines davon war Sylvie.

    Eine Mutter, die unnahbar war für ihre Kinder - nur den Babys gegenüber konnte sie ihre Liebe zeigen. Eine Mutter ohne Zärtlichkeiten und ohne Lächeln, für die es die größte Schande war, wenn eine der Töchter mit einem unehelichen Kind schwanger war. Eine Mutter, die früh verstarb und die offene Fragen hinterließ. Sylvie Schenk versucht sich hier an Antworten.

    Einfühlsam folgt die Autorin dabei den Spuren: durchforstete Dokumente, gesammelte Erinnerungen, Gespräche mit Familienmitgliedern - und die Lücken gefüllt mit fantasievollen Möglichkeiten. Lose aneinandergereihte, nicht chronologisch gehaltene, kurze Kapitel folgen der Frau, die zeitlebens eine Fassade blieb, kaum einmal etwas von sich preisgab, Fragen auswich und sich in Schweigen hüllte. Der Roman ein Versuch zu verstehen, eine Annäherung - keine Liebeserklärung.

    "Meine Mutter darf mir nicht ins Nichts oder ausschließlich in ihren Frust und Hass abdriften, mein Text darf auch kein "luftiger Sarg aus Worten" werden, er ist meine erste und letzte Umarmung. Schreiben. Streicheln. Festhalten."

    Dieser Roman stand auf der Shortlist des diesjährigen Buchpreises - mich hat er beeindruckt.

    © Parden

  1. Spurensuche und familiäre Verstrickungen

    Ich mag die Romane von Sylvie Schenk, habe ihre letzten drei sehr begeistert gelesen. Insofern war es ein Muss für mich, mir auch dieses neue Werk vorzunehmen, in dem die Autorin sich autofiktional auf Spurensuche nach der Geschichte ihrer bereits 1957 verstorbenen Mutter begibt: „Ich habe früh gespürt, dass das Rätsel um ihre Herkunft das Leben meiner Mutter ausgehöhlt hat. Unruhe breitete sich auch in Hirn und Herz ihrer Kinder aus. Nun, da keine Frage sich selbst beantworten kann, muss ich nach Antworten suchen.“ (S. 10)

    Renée Gagnieux kommt am 29.12.1916 zur Welt, nur eine Stunde später stirbt ihre Mutter Cécile. Der Vater des Babys ist unbekannt. Die Mutter arbeitete in einer Wäscherei, das Einkommen reichte nicht zum Überleben. Wie viele Frauen damals hat sie sich von Zeit zu Zeit mit gut situierten Freiern eingelassen, um über die Runden zu kommen. Die Fürsorge kümmert sich zunächst sieben Monate lang um das Kind, das als Bankert gilt, bis es an ein Bauernehepaar in der Ardèche vermittelt wird – gegen Entgelt versteht sich. Die dort verbrachten Jahre werden im negativen Sinne prägend sein. Renée lernt dort wenig, ist kränklich und wird vernachlässigt: „Das Leben ist hart, da muss auch der Mensch hart sein, wo die Härte aufhört, wird das Leben rutschig wie ein Kuhfladen.“ (S. 37)

    Kurz vor Renées sechstem Geburtstag wendet sich das Blatt: Das kinderlose Ehepaar Charles und Marguerite Legendre nehmen das Mädchen auf und adoptieren es schließlich. Insbesondere der liebevollen Zuwendung Marguerites ist es zu verdanken, dass Renée sprechen lernt und das Erlebte äußerlich einigermaßen unbeschadet hinter sich lassen kann. Auch in dieser Familie ist nicht alles Gold, was glänzt. Doch die neuen Eltern kümmern sich um Renées Zukunft. Sie arrangieren letztlich sogar eine gutbürgerliche Ehe mit dem Zahnarzt Jean Cardin. Dessen Eltern lassen die Schwiegertochter zwar Zeit ihres Lebens spüren, dass sie als Adoptivkind ihrer Familie keineswegs würdig ist, aber Renée arrangiert sich, indem sie sich in die Hausfrauen- und Mutterrolle einfügt. Sie gebärt fünf Kinder, eines davon ist Sylvie Schenk.

    Die Autorin fühlt sich höchst sensibel in ihre Ahnengeschichte ein. Sie hat recherchiert, Gespräche mit der Mutter und den Geschwistern geführt, um Erinnerungen zu sammeln und zusammenzufügen. Wo eine Lücke blieb, hat sie diese mit Annahmen aufgefüllt und ergänzt. Sie geht auch familiären Geheimnissen auf die Spur. Es wird nicht chronologisch erzählt. Die Kapitel sind kurz. Sie beinhalten meist Szenen aus dem Leben der Protagonistinnen, die Tragweite und Bedeutung besitzen. Dabei wird stets versucht, der Person der Mutter näher zu kommen und Verständnis für ihr ungewöhnliches Verhalten zu finden. Was nicht leicht ist, denn Renée war keineswegs eine liebevolle oder zärtliche Mutter. Sie knuddelte stets nur das jüngste Kind, solange es ein Baby war. Sie redete wenig und beschäftigte sich kaum mit ihrem Nachwuchs. „Maman war eine Unglückliche, die ihr Unglück nicht reflektieren konnte.“ (S. 14)

    Sylvie Schenk wandelt nicht nur auf den Spuren ihrer Mutter, sondern schreibt sich selbst ins Geschehen hinein. Sie flüstert, informiert, beobachtet oder reicht ein Taschentuch zum Trocknen der Tränen. Ein aus meiner Sicht sehr gelungener Kunstgriff, weil er das Geschehen viel unmittelbarer und persönlicher erscheinen lässt, ohne larmoyant zu wirken. Mit dem Chalet, dem Ferienhaus in den Südalpen, verbindet die ganze Familie viele schöne Erlebnisse. Ob die Mutter dort als junge Frau wirklich einmal die Liebe mit Arnaud kennengelernt hat und unmittelbar vor dem Ausbruch aus der lieblosen Ehe stand?

    Neben der Annäherung an die Mutter geht es zentral um die Frage der unbekannten Herkunft mütterlicherseits, um daraus resultierende Verstrickungen und um die im Laufe der Zeit unerwünscht geborenen Kinder der Familie. Inwiefern lassen sich Ursachen dafür in der Familiengeschichte suchen?

    „Maman“ hat mich von der ersten bis zur letzten Seite gefesselt. Ich liebe Schenks klaren, präzisen Schreibstil, ihre klugen Formulierungen, die viel Lebensweisheit offenbaren. Mich fasziniert, dass die Autorin seit 1992 auf Deutsch schreibt, obwohl sie erst mit 22 Jahren nach Deutschland übersiedelte. Man spürt ihre Liebe zur Sprache und auch zur Poesie in vielen Sätzen. Jedes Kapitel liest sich fesselnd, jedem gebührt Raum zum Nachdenken, jedes hat Tiefe. Die Zusammenhänge erschließen sich im Zuge der Lektüre. Ich habe den Text sehr langsam gelesen und auf mich wirken lassen.

    Für mich ist der Roman ein positives Beispiel für Autofiktionalität, das eindrücklich das Schicksal von Frauen aus einfachen Verhältnissen nachzeichnet und belegt, dass erlittene Traumata starke Auswirkungen über die nächste Generation hinaus haben können: „Mamans Leben und mein Leben sind miteinander verflochten wie zwei unterschiedlich gefärbte Wollfäden im schlecht gestrickten Pullover einer Penelope, die auf sich selbst wartet.“ (S. 44)

    „Maman“ ist ein Buch, das gewiss auch die zweite Lektüre lohnt. Unbedingte Leseempfehlung!