Das Philosophenschiff: Roman

Buchseite und Rezensionen zu 'Das Philosophenschiff: Roman' von Michael Köhlmeier
4.45
4.5 von 5 (7 Bewertungen)

Inhaltsangabe zu "Das Philosophenschiff: Roman"

Mit Lenin auf dem Sonnendeck – eine beinahe wahre Geschichte vom "erstklassigen Erzähler Michael Köhlmeier." Denis Scheck, ARD Druckfrisch Mit diesem großen Werk schließt Michael Köhlmeier an seinen Bestseller „Zwei Herren am Strand“ an. Zu ihrem 100. Geburtstag lädt die Architektin Anouk Perleman-Jacob einen Schriftsteller ein und bittet ihn darum, ihr Leben als Roman zu erzählen. In Sankt Petersburg geboren, erlebt sie den bolschewistischen Terror. Zusammen mit anderen Intellektuellen wird sie als junges Mädchen mit ihrer Familie auf einem der sogenannten „Philosophenschiffe“ auf Lenins Befehl ins Exil deportiert. Nachdem das Schiff fünf Tage und Nächte lang auf dem Finnischen Meerbusen treibt, wird ein letzter Passagier an Bord gebracht und in die Verbannung geschickt: Es ist Lenin selbst.

Format:Gebundene Ausgabe
Seiten:224
EAN:9783446279421

Rezensionen zu "Das Philosophenschiff: Roman"

  1. 4
    08. Sep 2024 

    Eine alte Dame erzählt

    Die hundertjährige Architektin Anouk Perleman-Jacob hat vor einiger Zeit mit dem Rauchen begonnen. Sie will es dem Tod, der sicher bald kommt, etwas leichter machen. Weil der Schriftsteller dafür bekannt, nicht immer ganz bei der Wahrheit zu bleiben, ist genau der Richtige, um einen Teil ihrer Lebensgeschichte zu erzählen. Und tatsächlich nimmt der Autor sich der Aufgabe an. Manchmal ist es leichter sich unter Fremden zu unterhalten und seine Geschichte zu erzählen. Als junges Mädchen wurde sie gemeinsam mit ihren Eltern im Jahr 1922 aus Petersburg verbannt. Auf einem Passagierschiff müssen sie Russland mit unbekanntem Ziel verlassen.

    Anouk Perleman-Jacob hat ihren Weg gemacht. Über Deutschland und Amerika hat sie ihr Weg nach Österreich geführt. Doch von ihrer Karriere, ihrem Privatleben will sie nur am Rande erzählen. Nein, ihr geht es um die Ausweisung von ihrer eigenen Regierung aus ihrem Heimatland, aus ihrer Heimatstadt. Was hat ihrer Meinung nach dazu geführt? Und wieso verliert das Schiff plötzlich an Fahrt? Geht es ihnen nun allen an den Kragen? Offensichtlich nicht, denn dann wäre Anouk nicht mehr da, um zu berichten. Ein anderes Boot geht längsseits und ein geheimnisvoller Reisender wird an Bord gebracht.

    Wenn ein Roman zum Nachforschen animiert, was Fiktion ist und was Wahrheit, dann ist der Ansatz gelungen. Wie auch in den Informationen zu lesen, handelt es sich tatsächlich teilweise um geschichtlich belegte Ereignisse. Anouk und ihre Lebensgeschichte in diesen Kontext hineinzuschreiben hat etwas Besonderes. Man fragt sich selbst, wie wäre es, wenn das Land einen als unliebsam abstempelt und einen ausweist. Keine schöne Vorstellung. Das macht etwas mit einem, das Weltbild wird verrückt. Vielleicht wird man auch selbst verrückt. Anouks Resilienz ist spektakulär und auch wie pfiffig sie mit dem Autor spielt. Da muss der Autor fast schon kriminalistische entwickeln, um zu kontern. Einzig der Sinn mancher Nebensätze erschließt sich nicht immer. Anouks Geschichte dagegen berührt, der geheimnisvolle Fremde gibt Rätsel auf und die Nominierung dieses Romans sowohl für den deutschen als auch für den österreichischen Buchpreis erscheint mehr als gerechtfertigt.

    Das Titelbild mit dem in der Ferne sichtbaren Dampfschiff in der ein wenig diesig und trostlos wirkenden Küstenlandschaft passt gut zu der Stimmung, die einen wohl überfällt, wenn man vom eigenen Land den Stuhl vor die Tür gestellt bekommt.

  1. 4
    24. Mär 2024 

    Se non è vero, è molto ben trovato...

    Ein Kammerspiel präsentiert Michael Köhlmeier hier als Rahmenhandlung der Erzählung. Ein Autor, eine Hundertjährige, viele Gespräche. Anouk Perleman-Jacob möchte vor ihrem Tod noch von Erlebnissen berichten, die bisher in keine der beiden bereits erschienenen Biografien über die berühmte Architektin eingeflossen sind. Der eingeladene Schriftsteller, der unschwer als Alter Ego von Köhlmeier selbst zu erkennen ist, erscheint regelmäßig zu den angesetzten Terminen und lauscht den Erinnerungen der Hundertjährigen.

    Der Roman fordert seine Zeit. Zahlreiche Themen werden angerissen, die Erinnerungen von Anouk sind sprunghaft und verlieren sich immer wieder in (scheinbar) nebensächlichen Details. Eine ernsthafte Lektüre erfordert ein Nachforschen im Internet, nahezu genauso zeitintensiv wie das Lesen selbst. So erfährt man beispielsweise zum Titel des Romans: "Philosophenschiff wird eine Aktion der bolschewistischen Regierung Sowjetrusslands genannt, bei der missliebige Intellektuelle im September und November 1922 außer Landes gebracht wurden. Der Urheber der Ausweisung, Lenin, hat dies als «Langzeitige Säuberung Rußlands» bezeichnet." (Quelle: Wikipedia)

    Anouk berichtet von einem Stück russischer Geschichte, die wie so oft von Gewalt geprägt war, von Hunger, Armut, Unterdrückung, Denunziation, Willkür, Eliminierung, Misstrauen und Angst. Was gerade noch als opportun galt, konnte im nächsten Moment schon ein Grund für eine Hinrichtung sein. Die Hundertjährige erzählt von ihrer Kindheit, aber auch von dem, was sie später als Erwachsene in Erfahrung bringen konnte. Sie war 14 Jahre alt, als sie mit ihren Eltern auf eines der Philosophenschiffe verbracht wurde. Auf ein Schiff, das für viele hundert Passagiere konzipiert wurde, nun aber nur wenige Ausgewiesene an Bord hatte. Eine beängstigende Situation, vor allem als sie für mehrere Tage mitten auf dem Meer halt machten.

    „Ich habe mich über Sie erkundigt. Sie haben einen guten Ruf als Schriftsteller, aber auch einen etwas windigen. Ich weiß, dass Sie Dinge erfinden und dann behaupten, sie seien wahr. Jeder wisse das, hat man mir gesagt, aber immer wieder gelinge es Ihnen, Ihre Leser und Zuhörer hinters Licht zu führen. Deshalb glaube man ihnen oft nicht, wenn Sie die Wahrheit schreiben, und glaube Ihnen, wenn Sie schummeln. Das habe ich mir sagen lassen. Stimmt das?“ (S.11)

    Se non è vero, è molto ben trovato. - Wenn es nicht wahr ist, ist es doch gut erfunden. Das finde ich hier unbedingt. Das Spiel mit Wahrheit und Fiktion betreibt Köhlmeier auf verschiedenen Ebenen: Anouk legt die Wahrheit ganz individuell aus und ändert sie auch schon mal während des Erzählens, und Köhlmeier selbst ist ein Meister des Verwebens von realen Fakten und Erdachtem. Dabei gelingt es ihm jedoch trotz (oder gerade wegen?) der distanzierten Erzählweise Anouks gerade die negativen Gefühle wie Entsetzen, Todesangst, grundlegendes Misstrauen gegenüber allen und jedem in kurzen bedrohlichen und entsetzlichen Szenen glaubhaft spürbar zu machen, was mich beeindruckt hat.

    Lose Enden, grob skizzierte Charaktere, ständige Zeitsprüngen, das verwirrende Spiel mit der Wahrheit - das fordert. Aber passt dieses Erzählknäuel denn nicht gerade zu den undurchsichtigen politischen Verhältnissen seinerzeit? Hier gibt es zahllose Möglichkeiten der Interpretation, der Gegenwartsbezüge, des Übertrags auf Diktaturen und totalitäre Grundhaltungen allgemein. Deshalb womöglich auch Köhlmeiers Anspielungen auf Gruppierungen wie die RAF oder den Weather Report. Allerdings sehe ich hier einen kleinen Kritikpunkt, da der Autor hier nur linksgerichtete Gruppierungen ins Spiel bringt. Dabei ließe sich das m.E. mindestens ebenso gut auf rechtsgerichtete Elemente ausweiten. Terror ist Terror, Diktatur ist Diktatur - und egal, wer im Namen des "Guten" den Tod von Menschen auf dem Gewissen hat (und sei es nur einer), der missbraucht das vermeintlich gute Ziel. Die Wahl der Mittel von totalitären Staaten oder politisch extrem ausgerichteten Gruppierungen ähnelt sich frappierend, egal für was sie stehen. Dies aber nur mal als kleiner Exkurs meinerseits.

    Alles in allem jedoch ein kunstvoll arrangierter Roman, der verwoben mit einem individuellen Schicksal und der Erzählung einer vermeintlichen Zeitzeugin in aller Kürze eine wichtige Epoche Russlands beleuchtet ("Die Revolution frisst ihre eigenen Kinder"), der zum eigenen Nachforschen und Nachdenken anregt, und der aus verschiedenen Gründen ein eher unbequemer Roman ist. Je länger ich die Erzählung sacken lasse, desto beeindruckter bin ich.

    © Parden

  1. Begegnung mit Lenin und anderen Zeitgenossen

    Eine hundertjährige Architekturprofessorin will eine besondere Art ihrer Memoiren verfassen lassen. Sie sucht sich dazu einen besonderen Schriftsteller aus, einen, bei dem sich der Leser nicht sicher sein kann, ob er ihm glauben soll, oder nicht.
    Als Anouk Perleman-Jacob ein junges Mädchen von vierzehn Jahren ist, gehört sie mit ihren Eltern zu der großen Gruppe der Intelligenzija, die von den damaligen Machthabern Russlands, den Bolschewiken, des Landes verwiesen werden. Sie werden mit den sogenannten Philisophenschiffen außer Landes gebracht.
    Anouk, die nachts, in aller Heimlichkeit auf dem Luxusdampfer heraumstreunt, trifft zufällig auf den einzigen Passagier der ersten Klasse.
    Er gibt sich ihr als Lenin zu erkennen. Eine kranke Gestalt. aus Haut und Knochen, lesend im Rollstuhl. Sie beginnen eine Unterhaltung, die sie jeden Abend fortsetzen, bis zu einem gewissen Abend, an dem Anouk eine andere Gestalt bei ihm entdeckt. Ein Mann mit einem Schnauzbart, schwarzen Zähnen und feinen weißen Händen. Sie belauscht heimlich die Rede des Mannes aus Georgien und wird Zeugin eines "historischen" Geschehens.

    Der Autor entrollt in seinem Buch ein Bild, rund um die Geschehnisse während der Machtergreifung der Bolschewiken in Russland.
    Er schreibt von der Angst der Menschen, den Grausamkeiten, von innen- und
    außenpolitischen Machtspielen, von dem "Konzert der Intrigen".
    Der historisch nicht bewanderten Leser, liest mit ungläubigem Staunen.

  1. Nachdenkliches über Macht, zu allen Zeiten aktuell

    Die Irrtümer der Menschen über Lenin, Stalin und die Macht, auf dem Hintergrund des bolschewistischen Russland, immer noch aktuell

    100 Jahre ist sie alt, die ehemalige Star-Architektin Anouk Perleman-Jacob. Sie hört und sieht schlecht, ist aber geistig 'voll auf der Höhe'. Zwei Biografien gibt es über sie und ihr interessantes Leben, denn sie ist in St. Petersburg geboren und bis zum 14. Lebensjahr dort aufgewachsen, wurde aber auf Befehl Lenins mit ihren Eltern ausgewiesen.

    Sie hat längst nicht alles erzählt und das will sie jetzt am Ende ihres Lebens nachholen. Besonders eine bestimmte Episode aus ihrem Leben möchte sie veröffentlicht haben. Dazu wählt sie einen bekannten Autor aus – es ist wohl Köhlmeier selbst – der im Ruf steht, dass er Erfundenes als wahr wiedergibt und dass man ihm deshalb Wahres oft nicht glaubt.

    Hier spielt die alte Dame und mit ihr der Autor mit dem Phänomen Wahrheit, Erfindung, Erinnerung, ein geschickter erzählerischer Kniff von Köhlmeier, weil ich mich jetzt als Leserin ständig frage, ob etwas wahr ist oder nicht. Die Hauptperson Anouk ist erfunden, während die Anderen reale Personen der russisch-sowjetischen Geschichte sind.

    Das ist also die Rahmen- bzw. Binnenerzählung; die eigentliche Geschichte wird von Anouk erzählt und vom Autor per Handy aufgenommen. So klingt es dann auch stilistisch: mündliche Sprache, geprägt von Wiederholungen, kurze Sätze, oft nur ein Wort und vor allem Gedankensprünge, wie das bei Erinnerungen so ist.

    Anouk berichtet, wie sie und ihre Eltern (Intellektuelle, also der Intelligenzija zugehörend) deportiert werden, zum Glück nicht nach Sibirien, wie es das Schicksal vieler ist, sondern auf ein Schiff, das sie über die Ostsee bringen wird.

    Dabei erfahren wir allerdings in erinnerten Rückblicken einiges über die Zustände in St. Petersburg/Petrograd: Wohnungsnot, Hunger, viele Tote in den Straßen und abgestumpfte Gleichgültigkeit, weil man es wahrscheinlich anders nicht ertragen kann. Ebenfalls schockierend die Paranoia, die sichtbar wird, das Verdächtigen um hundert Ecken herum, was immer wieder thematisiert wird. Da kommt leicht der Gedanke auf, dass Köhlmeier ein Buch über die aktuelle Situation schreiben wollte und das geschickt in eine Geschichte von früher verpackt hat. Denn wen haben wir z.B. vor Augen, wenn vom langen Tisch des Zaren Pavel berichtet wird? Ich sehe in vielem die heutige Situation gespiegelt.

    Die später so genannten Philosophenschiffe hat es tatsächlich gegeben. Mit ihnen wurden auf Befehl Lenins im Jahre 1922 viele Intellektuelle, Künstler u.a. aus der Sowjetunion deportiert. Dieses erzählte Schiff ist jedoch erfunden und auch das, was darauf passiert sein soll. Es war ein großes Luxusschiff mit nur wenigen Passagieren an Bord, was ebenso verdächtig erschien wie der plötzliche Halt und das tagelange Herumdümpeln auf See. Da wird auch wieder die schon erwähnte 'russische Paranoia' sichtbar. Die Passagiere reden nicht miteinander, misstrauen einander, fragen sich, wer ein Spion ist und was wohl Schlimmes passieren mag.

    Vielleicht wurde jemand abgeholt oder gebracht? Genau das ist es, was Anouk erzählen will. Bei ihren heimlichen nächtlichen Streifzügen trifft sie auf einen einsamen Mann im Rollstuhl und – es darf ruhig verraten werden, weil es im Klappentext steht – es ist Lenin, der für die Erschießungen und Deportationen verantwortlich ist. Doch jetzt ist er ein kranker Mann, abgeschoben von einem Mächtigeren, der ihn nach einem erneuten Stopp des Schiffes nachts heimlich aufsucht und ihm 'eine Rede hält', vielmehr abliest. Die halte ich für das Kernstück des Romans, eine Art philosophische Abhandlung über das Wesen der Macht. Schon in Gesprächen der jungen Anouk mit Lenin wurde über Gründe und Motive gesprochen. Also tatsächlich ein Philosophenschiff?!

    Das klingt alles gut und dann 'nur' 4 Sterne? Es hätte tatsächlich ein 5-Sterne-Buch werden können: aktuelles Thema, kreative Idee. Aber ich finde, dass Köhlmeier die Chance vertan hat, das Buch so zu schreiben, dass es mehr Leser erreicht anstatt einige am Ende ratlos zurückzulassen. Bei einigen Episoden fragt man nach ihrer Funktion, z.B. ein Telefongespräch mit einem ehemaligen Freund; anderes ist langweilig, wie der trockene Exkurs in die russisch-sowjetische Geschichte. Die kargen, teils einsilbigen Dialoge stehen in krassem Gegensatz zum philosophisch anmutenden Vortrag, den sich Lenin anhören muss. Ganz klar ist am Ende nicht, was Köhlmeier mit diesem Buch sagen will.

    Fazit

    Eins aber muss ich dem Buch zugute halten: es hat mich zum Nachdenken gebracht und dazu, einige Stellen mehrfach zu lesen, weil sie allgemeingültige bzw. aktuelle Gedanken enthalten, die auch nach dem Lesen noch nachwirken.

  1. Eine Reise durch Raum und Zeit

    Eine sehr alte Dame erzählt einem Schriftsteller ihr Leben, damit er ihre erstaunliche Biografie der Nachwelt überliefert: Neu ist das Muster nicht, nach dem der Autor hier seinen Roman konstruiert, aber es gelingt ihm dennoch, Funken aus dieser Konstellation zu schlagen. Eine Frau, die mit Lenin ihre Heimat verlassen muss, die unvorhersehbar und unverdient an der Seite des Revolutionsführers des Landes verwiesen wird, das ist ein hervorragendes Motiv für einen Roman. Köhlmeier erzählt sachlich, aber souverän und mit Bedacht: Sein Buch wirkt dadurch verlässlich und glaubwürdig. Mit der Hauptfigur Anouk kreiert er zudem einen interessanten Charakter, dem man als Leser gerne durch die Wirren des Jahrhunderts folgt. Die Wechselfälle dieses Lebens sind spannendes Lesefutter und das nicht nur, weil Herr Lenin darin eine- untergeordnete- Rolle spielt. Sankt Petersburg, Paris, Berlin sind immer eine Reise wert - auch wenn Anouk sie unfreiwillig angetreten hat, habe ich ihre Geschichte begeistert begleitet.

  1. Wo liegt die Wahrheit?

    Frau Professor Anouk Perlemann - Jakob, Architektin, lädt zu ihrem 100. Geburtstag einen Schriftsteller ein. Diesen bittet sie, ihr Leben als Roman zu erzählen. Sie wächst in St. Petersburg auf. Mit 14 Jahren wird sie mit ihren Eltern und anderen Intellektuellen auf Lenins Befehl ins Exil geschickt. Dazu geht sie an Bord eines sogenannten "Philosophenschiffes". Doch das Schiff stoppt auf einmal mitten im Meer und ein unerwarteter Passagier geht an Bord. Lenin selbst.

    Das Buch hat sich sehr gut gelesen. Die betagte Dame füttert den Schriftsteller nämlich immer nur mit kleinen Häppchen aus ihrer Lebensgeschichte. So wartet man mit ihm, wie die Geschichte am nächsten Tag wohl weiter geht und dadurch wird ein konstanter Spannungsbogen erzeugt. Die Schrecken, die sie als Mädchen erlebt hat und nun zum ersten Mal jemanden anvertraut, lässt einen schon manchmal den Atem stocken.

    "Rückblickend war das große Grauen nur ein Anfang, ein zögerndes Tasten."

    Was mich an dem Buch etwas gestört hat war, dass ich irgendwann nicht mehr so ganz wusste, ob man der alten Dame alles wirklich so glauben kann. Aber das war wahrscheinlich auch so beabsichtigt.

    "Gesagt werden soll es. Und wenn es keiner glaubt, umso besser."

    Im Großen und Ganzen fand ich die Lektüre sehr spannend und teilweise auch erschüttern. Ein klein wenig mehr konnte ich auch mein Geschichtswissen wieder komplettieren.

    Eine Leseemfehlung für Freunde von Biografien und Romanen mit historischem Bezug.

  1. 5
    16. Jan 2024 

    Ein literarisches Spiel

    Michael Köhlmeier greift in seinem neuesten Roman eine historische Begebenheit auf und verknüpft diese mit einer fiktiven Biographie.
    Die titelgebenden Philosophenschiffe gab es tatsächlich. Bei dieser Aktion der bolschewistischen Regierung wurden im September und November 1922 missliebige Intellektuelle außer Landes gebracht. Lenin war der Urheber dieser Ausweisung und Trotzki verteidigte die Maßnahme als Akt „ vorausschauender Humanität“.
    Auf einem dieser Schiffe befindet sich in Köhlmeiers Roman die vierzehnjährige Anouk mit ihren Eltern. Der Vater, ein Professor der Universität Sankt Petersburg und die Mutter, eine Ornithologin, gehören beide der sog. Intelligenzija an und sympathisieren mit den Bolschewiken. Doch leider verkehrten sie mit Personen, die verdächtig waren und das machte sie gleichermaßen verdächtig.
    Das Mädchen macht nun auf dem Schiff die Bekanntschaft eines Passagiers, der Tage später heimlich an Bord gebracht wird: Lenin selbst. Aber er ist nicht mehr der große Held des Volkes, sondern ein gebrechlicher, kranker Mann im Rollstuhl. Die beiden ungleichen Passagiere treffen sich öfter und unterhalten sich und eines Tages belauscht Anouk ein Gespräch zwischen Lenin und und einem Fremden. Ein sehr aufschlussreiches Gespräch, das für Lenin ein tragisches Ende nimmt.
    Köhlmeier selbst, das will er uns zumindest glauben machen, hat die Geschichte von Anouk höchstpersönlich. Die ist mittlerweile eine hochbetagte Dame und war eine der bedeutendsten Architektinnen des 20. Jahrhunderts. Und sie wünscht sich den bekannten Autor als Biographen. Er soll ihre Lebensgeschichte niederschreiben, denn er steht in dem Ruf, ein Schriftsteller zu sein, „ dem man nicht glaubt, was er schreibt.“
    Anhand der Vita dieser faszinierenden Frau entwirft Köhlmeier ein plastisches Bild russisch- sowjetischer Geschichte. Er schreibt von Hunger und Verfolgung, von Ermordung und Exil. Zahlreiche reale Figuren tauchen im Roman auf, ihre Lebensgeschichte und ihr oft gewaltsames Ende erzählt Köhlmeier.
    Dabei geht er zurück bis in die Zarenzeit und zeigt eine Kontinuität innerhalb der russischen Geschichte. Despoten unterschiedlicher Coleur wechseln sich ab; mögen sich auch ihre Weltanschauungen unterscheiden, so bleiben ihre Methoden doch dieselben.
    Anspielungen auf heutige Verhältnisse und Personen sind sicherlich beabsichtigt. So z.B. wenn Köhlmeier von Zar Pawel I. schreibt, „ Er ließ sich einen Tisch zimmern, gut acht Meter lang, an dem empfing er seine Gäste, immer nur einen, er auf der einen Seite des Tisches, der Gast auf der anderen. Zunächst habe er den benachbarten Staatsmännern geschmeichelt und so getan, als sei er einer von ihnen, aber dann habe er Kriegspläne erstellen lassen, zuerst gegen die Ukraine, die er Kleinrussland genannt haben wollte.“
    Und auch mit solchen Sätzen entlarvt Köhlmeier den Typus des Autokraten: „ Einer zerstört ein ganzes Land, richtet Millionen Menschen zugrunde, lässt Millionen umbringen, schafft eine neue Gesellschaft - man denkt, solche Männer handeln aus ebenso großen Motiven, weltumfassenden Motiven, Gerechtigkeit, Freiheit, Friede, Ordnung, Ruhe. Und dann stellt sich heraus, es ist gar nicht so. Er ist gekränkt worden, persönlich gekränkt.“
    Köhlmeier mischt hier sehr gekonnt und sprachlich versiert Fiktion und Realität. Seine fiktive Hauptfigur gibt ihm schriftstellerische Freiheiten, die er mit einer historisch verbürgten Figur nicht gehabt hätte. Sie und ihre Familie stehen exemplarisch für das Schicksal vieler Exilanten.
    Dadurch, dass er sich selbst in den Roman schreibt, gewinnt dieser noch zusätzlich an Authentizität.
    Ein literarisches Spiel und eine anspruchsvolle Lektüre!