All die ungesagten Dinge

Buchseite und Rezensionen zu 'All die ungesagten Dinge' von Tracey Lien
4.65
4.7 von 5 (3 Bewertungen)

Inhaltsangabe zu "All die ungesagten Dinge"

Autor:
Format:Gebundene Ausgabe
Seiten:336
Verlag: Piper
EAN:9783492071628

Rezensionen zu "All die ungesagten Dinge"

  1. 4
    14. Jan 2024 

    Cabramatta

    Die junge Ky Tran arbeitet nach ihrem Studium in Melbourne. Ende der 1990er hat sie gerade als Journalistin angefangen. Nach Cabramatta, einen Vorort von Sydney, will sie eigentlich nicht mehr. Dort hat sie immer mit ihren Eltern und ihrem kleinen Bruder Denny gelebt. Als vietnamesische Einwanderer leben sie eher zurückgezogen. Doch die Eltern wollen unbedingt das Beste für ihre Kinder. Sie sollen in der Schule zu den Besten gehören und auch später im Beruf. Doch nun haben die Eltern versucht, Ky zu erreichen. Denny ist tot. Nach der Schulabschlussfeier sind er und ein paar Mitschüler essen gegangen. Nur er wurde zu Tode geprügelt.

    Nicht einfach ist es für die vietnamesischen Einwanderer in Australien. Niemand hat auf sie gewartet. Und sie haben sich in Cabramatta gesammelt, wo so viele von ihnen leben, dass sie nicht unbedingt Englisch lernen müssen. Die Kinder empfinden es als etwas nervig, wenn sie für ihre Eltern übersetzen müssen. Obwohl sie die Sprache meist gut beherrschen, müssen damit leben, dass sie nicht richtig dazu gehören. Ky ist als Streberin verschrieen und ihre beste und einzige Freundin, die Rebellin, bricht die Schule ab. Denny war immer der gute Junge, der beste Schüler. Nun ist er tot.

    Wie muss es sein für Einwanderer und Flüchtlinge? Wahrscheinlich müssen wenige lange in ihrer Umgebung suchen, um Menschen zu finden, die davon erzählen können. Dieses Gefühl des nicht gewollt seins, diese Wurzellosigkeit. Und die nächsten Generationen, die sich einfügen wollen, die den Druck haben, die sich auf eine Art einleben, aber doch nicht so richtig. Und dann passiert in einer Familie so eine Tragödie und keiner kann oder will sagen warum. Ky macht sich auf die Suche nach der Wahrheit. Doch sie und andere Beteiligte reflektieren darüber, wie es überhaupt dazu kommen konnte. In Teilen liest es fast wie ein Kriminalroman. Wichtiger sind jedoch die Gedanken und Gefühle der verschlossenen Elterngeneration und die der Kindergeneration, die den Druck aushalten muss, sich auflehnt oder fügt. Eine packende Familiengeschichte, die viel Verständnis weckt.

  1. "...die werden dich nie als eine von ihnen sehen!"

    Mein Lese-Eindruck;

    Vietnamesische Flüchtlinge in Australien: die Autorin weiß aus ihrer eigenen Biografie, wovon sie erzählt. Ein schwieriges, von vielerlei Problemen beschattetes Leben öffnet sich dem Leser.

    Ky, die Protagonistin, hat die Flucht Ende der 70er Jahre mit ihren Eltern erlebt. Ihr Bruder Denny kam schon in Australien zur Welt, und die Familie setzt, wie die anderen Flüchtlingsfamilien auch, ihre ganze Hoffnung auf die Kinder. Der Druck auf die Kinder ist daher enorm: sie sollen sich anpassen und durch schulischen Erfolg glänzen. Auf der anderen Seite leiden die Kinder unter den traumatisierten, oft gewalttätigen Eltern. Die Eltern haben nicht nur ihre Heimat und ihre Ahnen verloren, sondern auch ihre „Zugehörigkeit und ihr Selbstvertrauen“. Eine Assimilation scheint weit entfernt zu sein:

    „Ganz egal. Wie clever du bist oder wie hart du arbeitest oder wie viele Koalas du streichelst, die werden dich nie als eine von ihnen sehen. Nie im Leben.“

    Umgekehrt schotten sich auch die Flüchtlinge gegenüber den Weißen ab und begegnen ihnen voller Misstrauen. Dass dieses Misstrauen berechtigt ist, zeigt sich nach der Ermordung von Denny, einem fleißigen und begabten Kind, freundlich und unauffällig. Die Polizei trifft auf eine Mauer des Schweigens und ermittelt eher uninteressiert, sodass Ky, die ältere Schwester, aktiv wird und Zeugen sucht.
    Diese Suche nach Zeugen nutzt die Autorin, um den Leser in einige andere Leben in „Little Saigon“ hineinschauen zu lassen; ein schöner Kunstgriff, der den Blick des Lesers weitet.

    Der Roman wird zwar aus der Perspektive Kys erzählt, aber die eigentliche Hauptfigur ist Minnie, ihre Freundin aus Kindertagen, die sich dem allgemeinen Zwang zur Anpassung entzieht. An ihrem Beispiel zeigt die Autorin, welchen gewalttätigen Übergriffen die Kinder traumatisierter Eltern ausgesetzt sein können und welcher Sumpf an Drogen und Kriminalität sich in einer Generation auftun kann, die gesellschaftlich isoliert wird.

    Die Autorin legt ihren Roman als Kriminalroman an. Das ist ihr weniger gut gelungen, da sie den Spannungsbogen nicht bis zum Schluss aufrechterhalten kann. Liest man den Roman aber als Familiengeschichte, als Migrationsroman oder noch besser als Milieuschilderung, dann entfaltet der Roman durch seine Verdichtung eine große Aussagekraft.

    4,5/5*

  1. Die Suche nach der Wahrheit

    Ja, ich kenne auch durch unsere halbjapanischen Enkelkinder den Alltagsrassismus gegenüber Asiaten: z.B. ‚Ching Chang Chong‘ oder das Andeuten von Schlitzaugen (wie auch im Buch beschrieben) - ob es in der Schule ist oder bei gemeinsamen Ausflügen mit uns. Leider gibt es nämlich immer wieder Menschen, die, obwohl der Grund dafür nicht erkennbar ist, sich anderen, besonders aus anderen Ländern / Kontinenten, überlegen fühlen.

    Dieses Roman-Debüt, das in den 90er Jahren in einem Einwanderer-Vorort von Sidney spielt und von der Kinder-Generation der Vietnamflüchtlinge handelt, bewegte mich somit sehr!

    Es führt uns die Probleme dieser Kinder/Jugendlichen vor Augen, deren Eltern nie heimisch geworden sind in ihrem neuen Zuhause, auch die neue Sprache oft nur teilweise beherrschen und sich oft von den Kindern alles übersetzen lassen müssen. Wir können den Druck und die hohen Erwartungen verspüren, der auf diesen Kindern lastet: gut in der Schule zu sein, sich im Land anzupassen, aber sich auch respektvoll gegenüber den Eltern zu verhalten und die Traditionen zu pflegen. Es zeigt aber auch die Probleme der Eltern auf, also der Vietnamflüchtlinge, die Schlimmes erlebt haben, für ihre Kinder immer nur das Beste wollen und dabei an ihre Grenzen stoßen.

    Auslöser ist die Tötung von Denny, einem fleißigen und liebenswerten 17-Jährigen, dem Bruder von Ky, mitten in einem voll besetzten Lokal und keiner will etwas gesehen haben. Wir begleiten die 22-jährige Ky, die schon vor ein paar Jahren den Absprung geschafft hat und allein in Melbourne lebt, auf ihrer Suche nach dem Mörder und den Hintergründen dieser Tat.

    Zusammen mit den interessanten Themen ‚Mutter-Tochter-Konflikt‘, ‚Abnabelung‘ und ‚unterschiedliche Persönlichkeitsentwicklungen ‘ hatte mich dieser Roman von der 1. Seite an gepackt und berührte mich tief. 5 Sterne vergebe ich dafür und habe mit dieser mitreißenden Lektüre auch schon ein Geschenk für den nahenden Geburtstag unserer Teenager-Enkeltochter.