Absturz

Buchseite und Rezensionen zu 'Absturz' von Tom Kristensen
4.5
4.5 von 5 (8 Bewertungen)

Inhaltsangabe zu "Absturz"

Tom Kristensen (1893–1974) schuf mit seinem bis heute bedrohlich funkelnden »Absturz« eine skandinavische Antwort auf die modernen Monumentalromane der 1920er Jahre, von Proust über Joyce und Céline bis zu Musil. Ole Jastrau, ehemals aufstrebender Lyriker, inzwischen Literaturkritiker bei einer liberalen Kopenhagener Tageszeitung, gerät vor unseren Augen aus dem Tritt. Es ist der Nihilismus seiner Zeit, der an ihm nagt, aber noch viel mehr ist es sein maßloser Alkoholkonsum, der ihn in einem unaufhaltsamen Abwärtsstrudel in die Tiefe zieht. Seine Ehe mit Johanne und sein geliebter Sohn Oluf, seine Anstellung bei der Zeitung und seine bürgerliche Stadtwohnung: Nichts hält dem Absturz stand, alles wird für den Rausch aufs Spiel gesetzt. Bei Erscheinen sah sich »Absturz« wütenden Attacken ausgesetzt. Eine »nahezu unerträgliche Schmähschrift« sei es, in der eine »Orgie arroganter Selbsterniedrigung« geschildert werde – gleichzeitig wurde er von Autorenkollegen und der jüngeren Generation gefeiert. Als Schlüsselroman an Kristensens eigenem Leben entlang geschrieben, entwickelt die schnelle, drastische, hellwache Erzählung, die »wahrhaftig ist, ohne wahrheitsgetreu zu sein« (Tom Kristensen), einen ungeheuren Sog. Ulrich Sonnenberg findet in seiner Übersetzung eine bestechend klare Sprache, die durch Alkoholdunst und Zigarrennebel der Hotelbars und Trinkerkneipen Kopenhagens schneidet und mit bitterem Witz den Blick freilegt auf einen Roman, der sowohl ein hellsichtiges Porträt der dekadenten Kopenhagener Gesellschaft als auch eine universelle Studie menschlicher Abhängigkeit und Selbstzerstörung bietet.

Format:Gebundene Ausgabe
Seiten:550
EAN:9783945370438

Rezensionen zu "Absturz"

  1. Ein im Endeffekt sagenhafter Absturz

    Wie soll man eine Hymne auf ein Buch schreiben, dass einen beim Lesen alles abverlangt hat? Von auf- und abschwellender Langeweile über „Langsam sehe ich klarer.“-Gedanken bis zur totalen Faszination war bei der Lektüre von „Absturz“ von Tom Kristensen (erschienen 2023 im Guggolz Verlag, aus dem Dänischen übersetzt von Ulrich Sonnenberg und abgerundet mit einem beeindruckenden und ausführlichen Nachwort von Sebastian Guggolz) alles vorhanden. Okay, der ein oder die andere wird sich jetzt denken „Wo ist das Problem? Ist doch völlig normal.“ Ja – schon, aber nicht in der Intensität.

    Wir begleiten den Literaturkritiker Ole Jastrau, der in den 1920er Jahren mit Frau und Sohn in Kopenhagen wohnt und beim „Dagbladet“ arbeitet, bei seinem (langsamen) Absturz in die Alkoholsucht, die im Lauf der über 600 Seiten (natürlich) einige Verluste nach sich zieht – teils verständlich, teils kopfschüttelnd akzeptierend.

    Bei seinen Streifzügen durch die Kopenhagener Kneipenszene sind die Leser:innen immer ganz nah dran an Ole, seinem Handeln, seinen (Selbst-)Zweifeln, seinen vergeblichen Bemühungen, von der Sucht wegzukommen – wobei: viele seiner Bemühungen sind auch eher halbherzig und durch den anhaltenden Alkoholkonsum merkt Jastrau auch nicht (wirklich), dass er einige Gönner und Freunde hat, die ihm helfen wollen, aber durch Ole´s Sturheit auch letztlich nicht können…

    Was das Ganze so unglaublich authentisch macht, ist die Tatsache, dass Tom Kristensen diesen Roman „an seinem eigenen Leben entlang schrieb“ wie es im Klappentext heißt. So lässt der Autor seinen „alter Ego“ Ole Jastrau durch Kopenhagen irren, taumeln, trinken und verzweifeln. Die ständigen Wiederholungen von Szenen eines Besäufnisses haben auf mich zunächst den Eindruck von „Wie oft noch? Ich weiß es doch jetzt.“ gemacht. Ja, aber lebt eine Sucht nicht von der Wiederholung? Wenn man sich das vor Augen führt, gewinnt der Roman auf einmal an Fahrt und die Leser:innen fühlen sich ein bisschen wie auf einem langen Spaziergang durch die Stadt.

    Halt – gibt es da nicht was von (nein, die Werbung erspare ich euch *g*)…? Natürlich, nicht umsonst erinnert „Absturz“ an „Ulysses“ von James Joyce, dessen Werk auch hier zur Sprache kommt. Und so kommt es auch nicht von ungefähr, dass der vorliegende Roman in einem Atemzug mit den Monumentalepen von James Joyce, Marcel Proust oder Alfred Döblin genannt wird. Völlig zu Recht, wie ich nach Ende der Lektüre festgestellt habe.

    Doch bis zu dieser Aussage braucht man als Leser:in einen verdammt langen Atem, der aber jede Mühe wert ist. Schließlich kann man sich für die Lektüre mit einem leckeren Wein etc. belohnen *g*.

    Zu guter Letzt sei noch einmal auf das fantastische Cover, die umfangreichen Anmerkungen sowie das informative und kurzweilige Nachwort des Herausgebers Sebastian Guggolz hingewiesen, die das Gesamtpaket zusätzlich aufwerten.

    Glasklare Leseempfehlung und mindestens das doppelte an Sternen wert als die 5, die ich aus meiner Rezensionsflasche tröpfeln lasse.

    ©kingofmusic

  1. Die verschiedenen Phasen der Abwärtsspirale

    Tom Kristensen war mir zugegeber Weise kein Begriff, als ich mich für die Lektüre von "Absturz" entschied. Doch in jüngster Vergangenheit faszinierten mich mehrere Bücher des Guggolz-Verlag, und so hatte ich auch hier ein gutes Gefühl, eine interessante Entdeckung machen zu können. Davon abgesehen interessiere ich mich als Soziologin auch immer für die eher düsteren Facetten des Lebens. Alkoholsucht gilt als Krankheit . nicht ohne Grund. Den Roman schrieb Kristensen wohl entlang seiner eigenen Erfahrungen, dafür gebührt dem Autoren großer Respekt. Er selbst hat die Kurve bekommen und der Nachwelt dieses authentische Werk (und hoffentlich weitere) hinterlassen. Im Nachwort ist davon die Rede, das Werk sei die skandinavische Antwort auf große Monumentalaufnahmen der 1920er Jahre aus so namenhaften Federn wie Joye, Musil, Céline und Proust. Das will was heißen.

    Im Mittelpunkt des von Ulrich Sonnenberg übersetzten Romans steht Ole Jastrau. Er arbeitet als Literaturkritiker für ein Norwegener Blatt. Gleich zu Beginn steckt er allerdings bereits in einer Schaffenskrise: Zum Schreiben überfälliger Rezensionen und Vorträge kann er sich nicht aufrappeln. Er wirkt antriebslos. Fühlt er eine Nähe zu Bettlern und Hausierern? Es scheint so. Die Szene des Zusammentreffens mit dem Hausierer nimmt vielleicht ein Stück weit Jastraus eigenes Schicksal vorweg. Seine Familie gibt ihm offenbar nicht genug Halt. Statt sich stärker auf Frau Johanne und Sohn Oluf zu konzentrieren und Energie daraus zu schöpfen, ist er stets für Gesellschaft zugänglich, die ihn stärker nach unten zieht. Dies sind zunächst die beiden vor der Polizei flüchtigen kommunistischen Freunde, die sich bei ihm zu Hause einnisten. Und es sind weitere Weggefährten, mit denen er sich in der Bar besäuft. Jastrau riskiert dafür alles, was ein "bürgerliches" Leben ausmacht: Familie wie auch Arbeit. Die verschiedenen Phasen seines temporeichen Absturzes erlebt der Leser hautnah mit. Die Abwärtsspirale ist nicht aufzuhalten, Jastrau versucht es auch gar nicht erst. Das liegt für mich in der Natur seiner Sucht begründet, mag aber manchen Leser den letzten Nerv kosten, da der "Absturz" von Monotonie und tristen Wiederholungen lebt. Jastrau trinkt und trinkt und trinkt. Doch dies scheint mir authentisch und den Kern der Alkolsucht als Krankheit auszumachen. Allein, ich hätte mir gewünscht, dass seine Familie, insbesondere seine Frau Johanne mehr um ihn gelämpft hätte. Mag sein, sie kämpfte auch. Doch als wir Jastrau kennenlernen, ist er quasi schon verloren. Nun ja, vielleicht doch nicht, denn der Ausgang bleibt offen: Wird Jastrau den Neuanfang schaffen?

    Mich hat das Buch von Beginn an gefesselt. Es hat seinen eigenen Ton, man darf es nicht mit anderen Werken des Guggolz Verlages vergleichen. Das gilt aber generell für alle literarischen Werke. Tatsächlich habe ich mich trotz des Umfangs des Werkes an keiner Stelle wirklich gelangweilt. Ja, es gibt Längen, aber es ist doch gerade das Typische einer Alkoholsucht, dass man im tristen Alltag vor sich hin dümpelt, sich treiben lässt, der Antrieb fehlt, man sich im tristen Einerlei des grauen Alltags verliert. Insofern sehe ich eine Stärke des Werkes in der Parallelisierung von Inhalt und Form des Erzählten. Kleinere Kritikpunkte habe ich schon: so fehlt mir eine vertiefte Betrachtung der Ehe von Jastrau und seiner Frau, die eher ein Randphänomen bleibt. Der andere Kritikpunkt ist eigentlich keiner, da er eher meinem eigenen Unvermögen geschuldet ist: Das Werk ist voller religiöser Anspielungen. Ich finde sie interessant, verstehe diese aber leider nicht. Hier kam bei mir auch die Frage auf, inwiefern die Sinnsucherei des Ole hier stimmig ist. Ich weiß es nicht.

    Dessen ungeachtet, bin ich aber sehr angetan von Kristensens Werk, das ich daher gerne weiter empfehle. Wieder mal ein Schatz gehoben aus dem Guggolz-Programm. Mal sehen, welche Perlen da noch so an die Oberfläche kommen.

  1. Ganz nach unten im Zeitlupentempo

    Bier, Bar, Schlaf, Wiederholung. Das sind die wesentlichen Stationen von Ole Jastraus „Absturz“, den der ehemalige Literaturkritiker Tom Kristensen, inspiriert von seinen persönlichen Erlebnissen, in seinem Meisterwerk aus dem Jahr 1930 detailliert beschreibt. Jastrau verfällt dem Alkohol, warum genau ist eigentlich nie so richtig klar, er lässt sich mit einer Prostituierten ein, seine Ehe zerbricht, seine Frau verlässt ihn mit dem gemeinsamen Sohn auf Nimmerwiedersehen, er gerät an die falschen Gefährten und beschließt schließlich endgültig, „vor die Hunde gehen zu wollen“. Dieser Entschluss, der mit der Aufgabe seines Jobs verknüpft ist, ist auch so ziemlich der einzige, den Jastrau aktiv fällt, denn er zeichnet sich ansonsten eher durch ein übergroßes Maß an Unentschlossenheit, Passivität und Willenlosigkeit aus. Mit dem richtigen Verführer an seiner Seite, steht seinem zunehmenden Verfall nichts im Wege, auch wenn er – trotz der Tatsache, dass er auch immer wieder ausgiebig ausgenutzt wird – durchaus lichte Momente hat, in denen er sich gegen allzu offensichtliche Manipulationsversuche wehrt.

    Geprägt wird der Roman von einer sehr dominanten Handlungsarmut. Meist begleitet man Jastrau von einer Bar in die nächste, von einem pseudo-intellektuellen, philosophischen Gespräch zum nächsten – eine Abfolge von sich gleichenden, für die Existenz eines Menschen gleichermaßen bedrohlichen Momenten, die ein Mosaik der Abwärtsbewegung ergeben. Jastraus „Absturz“ erfolgt ganz allmählich, er fällt in Zeitlupe, aber er fällt tief. Neben zahlreichen gedanklichen Rechtfertigungsversuchen des Protagonisten, die durchaus nicht einer gewissen Hellsichtigkeit entbehren, wird der Roman besonders auch durch seine intensiven und detaillierten Stadtbeschreibungen von Kopenhagen geprägt – für mich der reizvollste Aspekt dieser zu lang geratenen Selbstbespiegelung. Der eigentliche Star der Lektüre ist die dänische Hauptstadt, einen Blick auf sie in den 1920er Jahren werfen zu können, habe ich als sehr wertvoll empfunden. Atmosphärisch mit zahlreichen Ausflügen zu wichtigen Orten und Plätzen trägt das Setting zu einer faszinierenden Grundstimmung bei – der vielleicht lebendigste Aspekt des Romans.

    Kristensens Roman ist von Handlungstempo und Sprachmacht her sicherlich außergewöhnlich und gilt als Meisterwerk der dänischen Literatur. Die verwendeten Bilder und Motive sind gut gewählt – wenn auch aus heutiger Sicht vielleicht etwas zu simpel –
    und bei allen Längen kommt man auch als Leser ab und an in einen gewissen Lesefluss. Dennoch hat mich der Roman leider nicht ansprechen können, mich haben Ole Jastraus Saufgelage nicht gefangen gefangengenommen. Ich erkenne die besondere Position von „Absturz“ im skandinavischen Kanon an und halte ihn auch für ein durchaus wichtiges Zeitzeugnis, das gut geschrieben und mit seiner minutiösen Begleitung eines Abstiegs überzeugend konzipiert und strukturiert ist. Mir persönlich ist der Text jedoch viel zu schwerfällig, wiederholend und langweilig.

  1. Eine Sektion im Spiel mit Licht und Schatten

    Der dänische Autor Tom Kristensen schrieb sich 1930 mit diesem Roman in sein Schriftstellerleben zurück. Anfang der 1920er Jahre machte er Karriere mit seinen Gedichten und Romanen, ließ sich als Literaturkritiker bei einer liberalen Zeitung anheuern, verlor dann aber nach exzessiven Jahren voller Alkohl den Sinn seines Schaffens aus den Augen und zog sich zurück. In "Absturz" arbeitete er diese Zeit auf und lässt sein Alter Ego Ole Jastrau alle Stationen seines Niedergangs in den Roaring Twenties durchlaufen.

    Ole Jastrau ist Literaturkritiker und wohnt mit seiner Frau und seinem kleinen Sohn in der Kopenhagener Istedgade. Nach seiner wenig wohlwollenden Besprechung eines Buches des berühmten H.C. Stefani, kommt es in den Redaktionsräumen zur ersten Ablehnung für den Abdruck in der Zeitung. Jastrau ist irritiert und hinterfragt die Gründe. Zeitgleich taucht ein alter Bekannter Sander aus "rebellischen" Zeiten mit einem Begleiter bei ihm zuhause auf. Sie suchen für eine Nacht Unterschlupf, denn sie müssen sich vor der Polizei verstecken. Der nächste Tag mit den Wahlen, sollen ihnen eine Amnestie verschaffen. Der Begleiter Stefan Steffensen beunruhigt Jastraus Frau. Sie verlässt zusammen mit dem Kind für diese Nacht die Wohnung, um bei ihren Eltern zu schlafen.

    Ein erstes Saufgelage in Jastraus Wohnung beginnt. Während Sander aus dem Dunstkreis Jastraus verschwindet, taucht Steffensen immer öfter auf und die Abwärtsspirale aus alkoholgetränkten Kneipentouren und alternativen Lebensentwürfen nimmt zu. Jastraus Frau verlässt ihn schließlich, nachdem sie erfahren hat, dass ihr Ehemann fremdgegangen ist. Es ist die Zeit der freien Liebe, der roaring Twenties, aber auch die Zeit des Kampfes ums wirtschaftliche Überleben und der Syphilis, um die sich unser Protagonist alsbald Sorgen machen muss. Steffensens oft erzählte Anekdote vom geschändeten Hausmädchen durch Vater und Sohn, hat einen realeren Hintergrund, als es Jastrau lieb sein kann.

    Jastraus Abwärtsspirale lässt sich auch mit vielen wohlmeinenden Helfern kaum aufhalten. Hat es doch den Anschein, dass Jastrau den Grund des Sees, in den er träumenderweise hineingefallen ist, geradezu sucht. Die Zeit nach dem Großen Krieg und der politischen Neuordnung lassen auch ihn an alle bisherigen Werte zweifeln. Der Alkohol hat Jastrau fest im Griff, seinen Job hat er gekündigt, seine Kleidung zeugt vom Untergang und doch denkt er, dass er ein Comeback jederzeit einleiten könnte.

    Das Ende ist offen, doch wissen wir von seinem Schöpfer, dass er den Weg zurück gesucht hat und eben diesen Roman geschrieben hat. Für die Kopenhagener war dieses Buch 1930 allerdings eine einzige Anklage und Jastraus Mitprotagonisten aus der Literatur- und Journalistenszene realen Personen unverkennbar zuzuordnen. Dieses Wissen fehlt dem heutigen (deutschen) Leser, doch kann man sich durchaus am Flair dieser schillernden Zeit mit seinen düsteren Schattenseiten ergötzen, zumal es eine sehr lesbare Neuübersetzung von Ulrich Sonnenberg ist und ein hilfreiches Nachwort von Sebastian Guggolz, dem Verleger, gibt.

    Das Cover offenbart den Absturz mit scharfen Ecken und Kanten in Rot und Schwarz und lässt die Buchstaben purzeln. Doch im Roman selbst, erinnern die zahlreichen Variationen aus glitzerndem Licht, bedrohlichen Schatten, flackernden Neonreklamen, abgedunkelten Kneipen- und Wohnräumen und schließlich das funkensprühende Feuer zum Schluss, an die Fülle der Möglichkeiten, vom eingeschlagenen Weg abzukehren. Das zweite Leitmotiv ist der Jazz, die Musik, die Jastrau hört und mag und ihm seinen Spitznamen verleiht, aber eben auch ein musikalisches Zeichen des Aufbruchs in eine neue Zeit ist.

    Als lesende Zeugin dieses detaillierten Niedergangs, wurde ich teilweise auf eine harte Probe gestellt. Die alkoholgeschwängerten Ansichten über das Leben, die Arbeit und die Rolle der Frauen ließen meinen Widerspruch keimen, doch keinesfalls möchte es bereuen diesen Klassiker des dänischen Joyce, Döblin, oder Proust gelesen zu haben, denn schließlich wachsen aus starken Wurzeln imposante Gewächse.

  1. "Seht, welch ein Mensch!"

    Ehrlicherweise habe ich noch nicht viele Romane von dänischen Autoren gelesen, schon gar keine Klassiker. Wenn der Berliner Guggolz Verlag aber einen „bedrohlich funkelnden Monumentalroman“ vom genialen Ulrich Sonnenberg neu übersetzen lässt, sollte man genauer hinschauen. Bereits das eindrucksvolle und doch schlicht gehaltene Cover legt zwar die Vermutung nahe, dass keine vergnügliche Lektüre auf einen zukommt – aber große Literatur handelt meistens von beschädigten Figuren.

    Hauptfigur Ole Jastrau, 34, lebt Anfang der 1920er Jahre mit Frau und Kind in einer kleinen Kopenhagener Wohnung. Er arbeitet als Literaturredakteur bei der linksliberalen Tageszeitung „Dagbladet“. Schnell wird deutlich, dass Ole ein höchst unsicherer Mann ist, der nicht nur mit seinen Rezensionen stark im Rückstand ist, sondern sich auch bereits im Angesicht einfacher Aufgaben heillos überfordert fühlt. Er befindet sich augenscheinlich in einer akuten Sinn- und Schaffenskrise. Als das Telefon klingelt, „starrt Jastrau die weiße, viereckige Decke an, die so weiß ist wie seine Weltanschauung.“ (S. 9) – sehr aussagekräftig. Als junger Mann hatte er noch Ambitionen. Er wollte Schriftsteller werden und engagierte sich als kommunistischer Revolutionär – gelandet ist er nun als bürgerlicher Familienvater und Journalist. Der unangekündigte Besuch der zweier alter politischer Weggefährten reißt bei Jastrau alte Wunden wieder auf. Er beginnt sich selbst zu hinterfragen und zu verachten. Insbesondere der Kontakt zu Steffensen setzt eine Abwärtsspirale in Gang, die stets von großen Alkoholmengen begleitet wird. Der labile Ole hat dem nichts entgegen zu setzen.
    "Bereits jetzt, als er die Flasche im Arm hielt, spürte er eine blanke, schimmernde Ruhe. Als wäre er plötzlich daheim, er, der sich überall fremd fühlte, zwischen seinen eigenen Möbeln, gegenüber seinem eigenen Sohn, gegenüber... gegenüber seinem eigenen Schreiben. Doch nun wurde alles um ihn herum klarer. Er wurde reiner. Die Möbel bekamen festere Konturen. Die Gäste wurden augenfälliger, plastischer, objektiver.“ (S. 27)

    Der Absturz scheint vorprogrammiert. Jastrau hat keine Kraft, sich irgendeiner Versuchung zu widersetzen. Er verzecht sein Geld, streift ziellos durch die Straßen, wird unzuverlässig, belügt seine Frau, erscheint nicht in der Redaktion… Er redet sich in Säufermanier falsche Ideale ein, sucht Schuldige und stets neue Gründe, um zur Flasche zu greifen. Die „Bar des Artistes“ wird ihm eine zweite Heimat. Zwischendurch gibt es auch immer wieder Lichtblicke, doch die eingeschlagene Richtung scheint klar. Ole verliert zunehmend den Bezug zur Realität, verirrt sich in seinem abstrusen Gedankenkabinett, schlägt vereinzelte Warnungen in den Wind.

    Ich hätte nie gedacht, dass der Roman über einen alkoholbedingten Niedergang dermaßen faszinierend sein kann! Man fühlt sich einerseits abgestoßen, andererseits fesselt das Psychogramm des Protagonisten auf eigentümliche Weise. In erster Linie mache ich das an der sprachlichen Gestaltung fest: Während des gesamten Romans bleibt man sehr dicht an Ole Jastrau. Es sind seine Empfindungen, seine Beobachtungen und Erlebnisse, bei denen wir ihn eng begleiten. Wir sehen die Welt mit seinen Augen, wir erleben ihn am Arbeitsplatz, im Austausch mit Kollegen und Bekannten, in der Familie, in verschiedenen Bars mit „der Bruderschaft des Whiskysodas“. Offensichtlich gehört Alkohol selbstverständlich zum täglichen Leben dieser Männerwelt dazu. Frauen spielen nur eine untergeordnete Rolle als schmückendes Beiwerk oder Sexualobjekte. Es wird viel getrunken, doch die Wenigsten sehen eine Gefahr darin. Es ist faszinierend, wie Tom Kristensen (1893 – 1974) es allein mit sprachlichen Mitteln gelingt, diese intensive Nähe zum Protagonisten derart herzustellen, dass man anhand seiner Gedanken und Wahrnehmungen genau spürt, wie stark seine Sinne getrübt oder benebelt sind. Der Text wirkt durch seinen Detailreichtum sehr unmittelbar, bildreich und authentisch. Es sind die genauen Beschreibungen, die die jeweilige Atmosphäre zum Ausdruck bringen. Licht, Schatten, Spiegelungen, Poesie und Musik sind in diesem Zusammenhang wiederkehrende Mittel, um die meist dunkle, unheilschwangere Umgebung abzubilden. Aber auch Figuren, Straßen, Räume und Schauplätze werden vor dem inneren Auge sichtbar gemacht. Wer Kopenhagen kennt, wird die Quartiere gewiss zuordnen können. Die eingestreuten, teilweise poetischen Metaphern steigern die Wirkmächtigkeit des Textes.

    Auch der persönliche und zuweilen intime Verfall des Trinkers wird nicht ausgespart. Jastrau manövriert sich in manch peinliche Situation. Bis zum Verlust der Würde ist es nicht weit, wenn der abendliche Filmriss dafür sorgt, dass er seine Schlafstatt nicht mehr findet, keine Erinnerung an die letzten Stunden des Tages hat oder in versiffter Kleidung durch die Stadt laufend zum Gespött macht. Es sind zahllose Szenen, die sich aneinanderreihen und den Absturz beschreiben. Manche ähneln sich natürlich, insbesondere die Sequenzen am Tresen. Und doch variieren sie, zeigen immer wieder neue Facetten einer unumkehrbar scheinenden Entwicklung. „In die Unendlichkeit? Aber hieß das, sich durch Trinken zu betäuben? Oh, ja, es hatte etwas Religiöses, sich um Sinn und Verstand zu saufen. Jegliches Gefühl der Leere verschwand. Man erfüllte den Raum mit seinem lärmenden, lallenden, betrunkenen Ich, den ganzen Raum.“ (S. 361)

    Kristensen hat den Roman in vier zeitlich aufeinanderfolgende Abschnitte gegliedert. Er überlässt nichts dem Zufall. Die Konzeption halte ich für extrem stimmig und gelungen, denn Eins greift ins Andere. Besonders hervorzuheben ist das grandiose Finale, in dem auch vorangegangene Motive wieder aufgegriffen werden. Der Leser wird nicht nur überrascht, sondern darf die verschiedenen Andeutungen für den Ausgang der Geschichte selbst interpretieren, ohne bevormundet zu werden. Das Ende ist ein wahrer Höhepunkt!

    Kristensen soll den Roman „an seinem eigenen Leben entlang geschrieben“ haben. Dazu liefert das kluge Nachwort des Verlegers einige Informationen. So galt der Roman seinerzeit als Schlüsselroman: die handelnden Figuren konnten von Zeitgenossen problemlos der Kopenhagener Prominenz zugeordnet werden. Den richtigen Durchbruch erreichte das Werk deshalb erst durch die Empfehlung des Literaturnobelpreisträgers Knut Hamsun. „Er hatte das Werk in seinem existentiellen Kern erfasst, war der literarischen Kraft und dem Erzählsog verfallen, ganz unbeeinflusst davon, ob im öffentlichen Alltag reale Vorbilder für die Figuren gefunden werden können oder nicht.“ (S. 642)

    Genau so ergeht es uns heute. „Absturz“ kann für sich alleine stehen. Man darf den Roman ohne Scheu zur Weltliteratur zählen, der in einer Reihe mit den Werken von Marcel Proust, Alfred Döblin oder James Joyce genannt werden darf. Er erfordert etwas Geduld, ist aber leicht zugänglich und liefert in sprachlicher Hinsicht immensen Genuss. Die gewohnt hochwertig und liebevoll gestaltete fadengebundene Ausgabe des Verlages mit zahlreichen Anmerkungen und Zusatzinformationen wertet den Roman zusätzlich auf.

    Unbedingt lesen!

  1. Ein Prosit der Ungemütlichkeit

    Kopenhagen, Mitte der 1920er-Jahre: Der Kulturredakteur Ole Jastrau lebt mit seiner Frau Johanne und Söhnchen Oluf eigentlich in geregelten Verhältnissen. In seiner Tätigkeit für die Zeitung "Dagbladet" bespricht er Bücher, er hat einen intakten Freundeskreis. Doch passend zu den politisch unruhigen Verhältnissen ergreift auch Ole eine innere Unruhe. Zu den Rezensionen quält er sich mehr schlecht als recht, mit Oluf weiß er nicht umzugehen und verkörpern seine konservativen Freunde nicht genau das, was Ole nie sein wollte? Noch vor nicht allzu langer Zeit war er doch ein Poet, ein kommunistischer Revolutionär. Als sich zwei ehemalige Weggefährten im wahrsten Sinne des Wortes bei ihm einnisten, nimmt das Unheil seinen Lauf. Ole Jastrau verfällt mehr und mehr dem Alkohol und sieht sich und sein Leben dem Absturz entgegentaumeln...

    Tom Kristensen (1893 - 1974) schrieb den Roman "an seinem eigenen Leben entlang", heißt es im Klappentext von "Absturz", das jüngst in der deutschen Neuübersetzung von Ulrich Sonnenberg bei Guggolz erschienen ist. Das dänische Epos sollte trotz seiner Länge mühelos an die Erfolge, die der Verlag beispielsweise mit den Vesaas-Übersetzungen erzielte, anknüpfen können. Denn der laut Guggolz "bedrohlich funkelnde dänische Monumentalroman" ist nicht weniger als ein Meisterwerk der Literatur.

    "Bedrohlich funkelnd" trifft den Kern von "Absturz" dann tatsächlich auch hervorragend. Man könnte auch sagen: Ein Prosit der Ungemütlichkeit! Nahezu von Beginn an legt sich nämlich eine Noir-Atmosphäre über den Roman. Das abendliche Kopenhagen wird vom verschwommenen Licht der Straßenbahnen reflektiert. Irgendwo leuchtet ein Neonschild. In der "Bar des Artistes" - was für ein Name - sitzen die Männer des Kopenhagener Kulturbetriebs mit ihren Hüten zusammen, sie rauchen und trinken. Irgendwann setzt natürlich auch der Regen ein und prasselt gegen die nächtlichen Scheiben der "Dagbladet"-Redaktion. Tom Kristensen gelingt es, das gesellschaftliche und politische Kopenhagen der 1920er-Jahre zum Leben zu erwecken und die Leserschaft direkt um 100 Jahre zurückzukatapultieren.

    Eine Besonderheit, die auch das umfangreiche und informative Nachwort von Verleger Sebastian Guggolz hervorhebt, ist dabei, dass kein besonderes Vorwissen, keine Abstraktionsfähigkeit der Leser:innen erforderlich ist, um diesem Klassiker der Weltliteratur folgen zu können. Anders als in ähnlich monumentalen Werken kommt es nicht darauf an, jede Metapher, jeden philosophischen Hintergedanken entschlüsseln zu müssen. Sondern man begibt sich in unmittelbare Kumpanei zu Ole Jastrau und folgt ihm auf seinem langsamen, schrittweisen Absturz. Das ist dennoch herausfordernd, aber äußerst lohnenswert. Denn Kristensen schreibt so, wie er lebte: kompromisslos und wild.

    Zu Beginn des Romans fühlt man sich wie in einem Theaterstück, einer Art Kammerspiel. Kristensen lässt die Leserschaft teilhaben an Jastraus Überforderung, an seiner Zerrissenheit. Jede Regung, jeder Gesichtsausdruck werden beschrieben. Als schaute man auf eine Bühne. "Jastrau starrte an die weiße viereckige Decke. Leer wie seine Weltanschauung", heißt es gleich auf der ersten Seite des Romans. Durch diese zwei kleinen prägnanten Sätze ist der Tonfall für die kommenden fast 660 Seiten vorgegeben. Man wird den leeren Ole Jastrau keinen Augenblick mehr aus den Augen lassen. Keine einzige Szene in "Absturz" kommt ohne diesen klassischen Antihelden aus.

    Äußerst gelungen ist es auch, wie Kristensen es versteht, die drei literarischen Textgattungen Epik, Lyrik und Dramatik kongenial miteinander zu verbinden. Die dramatischen Elemente finden sich nicht nur in den zahlreichen Dialogen, sondern auch in der oben geschilderten Detailverliebtheit in Bezug auf Räume und Orte. Sprachliche Höhepunkte sind die seltenen lyrischen Passagen. Kristensen legt dabei beispielsweise sein eigenes Gedicht "Angst" dem rebellischen Kommunisten Steffensen, einer der schillerndsten Figuren des Romans, in den Mund. Das passt hervorragend zu dem - im positiven Sinne - Pathos, das "Absturz" über weite Strecken verbreitet. Nicht nur aufgrund Kapitelnamen wie "Seht, welch ein Mensch" oder "Und erlöschen alle Sonnen" wäre es nicht verwunderlich, wenn sich nordische und skandinavische Gegenwartsautor:innen wie Jón Kalman Stefanssón von Kristensens "Absturz" durchaus inspiriert fühlten.

    Ein bekennender Freund des Romans ist in jedem Falle der tragisch-verwirrt-geniale Norweger Knut Hamsun, der das Buch in eineinhalb Tagen gelesen haben soll. Was - bis auf die Zeitspanne - ebenfalls nicht verwundert, denn Parallelen zu Hamsuns "Hunger" von 1890 sind nicht zu übersehen. Hier wie dort folgen wir einem Journalisten auf seinem Niedergang. Hier wie dort kann die Hauptfigur nicht mit Geld umgehen. Hier wie dort leidet der Protagonist unter Halluzinationen. Und bei beiden steht die Existenz auf dem Spiel.

    Ein weiteres Plus von "Absturz" ist die Figurenkonzeption. Neben dem wunderbar ambivalenten Jastrau ist dabei vor allem der schon erwähnte Stefan Steffensen zu nennen. Steffensen ist der rebellische Sohn des Apothekers und Autors H.C. Stefani, dem wiederum in diesem gesamten Drama trotz nur weniger Auftritte eine ganz besondere Rolle zufällt. Steffensen ist so etwas wie der wilde Gegenpol zu Ole Jastrau. Eine Art kommunistisches Gespenst aus dessen Jugend. Steffensen verkörpert all das, wofür Ole selbst einst stand. Für Poesie, für Idealismus und Kommunismus. Auf der anderen Seite ist er ein Schmarotzer, der Jastrau nach Strich und Faden ausnimmt und irgendwann sogar dessen Wohnung übernimmt. Die beiden verbindet eine herzliche Hassliebe, über weite Strecken des Romans können sie weder ohne- noch miteinander und trauen sich gegenseitig das Schlimmste zu.

    Bestürzend authentisch ist zudem der Umgang mit Alkoholismus. Wer im Freundes- oder Bekanntenkreis Umgang mit einem Alkoholiker pflegt, erkennt erschütternde Parallelen zu der mehr und mehr abgehobenen Gedankenwelt des Ole Jastrau. Diese permanenten Wiederholungen, die Überhöhung transzendentaler Wesen, die Sinnsuche in der Religion, das Selbstmitleid - all das trifft Kristensen punktgenau. Zudem wird der Alkoholismus selbst zu einer Art Stilmittel des Romans. Denn durch die permanenten Saufgelage, die immer wiederkehrenden Sätze und Treffen hat man als Leser:in bisweilen selbst das Gefühl, als würde die ganze Handlung vor den Augen verschwimmen.

    Wer diese Tour de Force bis zum Ende durchhält - und das sei dringend empfohlen -, wird im Finale noch einmal mit einem absoluten Höhepunkt des Romans belohnt. Denn, was Kristensen in seinem letzten Kapitel und dem Epilog gelingt, ist mehr als der buchstäbliche "Absturz", sondern ein geniales Vexierspiel, das die hoffentlich nüchterne Leserschaft zum Nachdenken bringen und zu einer permanenten Gänsehaut führen wird.

    Mit Tom Kristensens "Absturz" gelingt es dem Guggolz Verlag einmal mehr, einen nahezu in Vergessenheit geratenen Klassiker der Weltliteratur wieder ins Licht der Öffentlichkeit zu rücken. Nicht nur Freunde von Knut Hamsun und Jón Kalman Stefanssón sollten sich diesen Roman zu Gemüte führen. Belohnt werden sie mit einem sprachlichen Meisterwerk, das zwar anstrengend ist, dabei aber auch unheimlich intensiv und aufregend. Ein Hoch auf Tom Kristensen!

  1. Tiefe Einblicke in die Welt eines Trinkers, in bildgewaltiger Sp

    Neu entdeckter Klassiker der Weltliteratur, Einblicke in die Gedankenwelt eines Trinkers, sein Absturz in ungewöhnlichen Sprachbildern

    Kopenhagen in den 'roaring twenties', den 'Goldenen Zwanzigern', die – genauer betrachtet - gar nicht so golden, sondern überall von starken sozialen Gegensätzen und dem aufkommenden Nationalsozialismus geprägt waren, einer gewissen Faszination für den Kommunismus und Begeisterung für den Jazz. Allerdings spielen diese Zeiterscheinungen im Roman nur eine Nebenrolle, geben quasi die Hintergrundfolie ab, vor der sich unsere Hauptperson bewegt und in deren Gedanken und Handlungen wir die ganze Zeit des Buches über bleiben.

    Wie in einer Spirale geht der Absturz dieses Trinkers vonstatten, immer rundherum, mal mit einem kleinen Hoffnungsschimmer, dann wieder abwärts. Dabei hatte Ole Jastrau, unser 'Held', anfangs eigentlich alles: eine hübsche Frau, ein Söhnchen, eine Wohnung, einen guten Job als Literaturkritiker bei einer renommierten bekannten Zeitung, einen wohlwollenden Chef. Aber er setzt alles aufs Spiel und suhlt sich auch noch in seinen Abstürzen und verirrt sich in seiner wirren Gedankenwelt.

    Man merkt von Anfang an, dass er sein Leben nicht im Griff hat, sich von Alltäglichkeiten überfordert fühlt und keinem Angebot 'einen zu heben' - oder auch zwei oder drei oder mehr - widerstehen kann. Er fühlt Überdruss und Orientierungslosigkeit, fühlt sich außer in seiner Stammkneipe überall fremd (27) und heimatlos (52). In seinen Meinungen springt er hin und her.

    Die Decke war leer wie seine Weltanschauung. (9)

    Es fehlt nicht an Versuchen, ihm aus dieser Trunksuchtspirale herauszuhelfen. Am Ende hat er zwar eine Fahrkarte nach Berlin und dort einen neuen Job, aber ob er es wirklich schafft, darüber muss der Leser selber nachdenken.

    Ich habe mich gewundert, dass ich diese gut 600 Seiten über Ole Jastraus Trunksucht und Verantwortungslosigkeit so gut und ohne Langeweile lesen konnte, nicht in einem Rutsch, wie es anscheinend Knut Hamsun getan hat (in unglaubwürdigen anderthalb Tagen verschlungen), sondern mit Pausen zum Nachdenken.

    Es gibt da einiges, was mich fasziniert hat: ist diese Trunksucht mit ihren wirren, wahnartigen Zuständen auch schwer zu ertragen, so ist es doch meisterhaft und anschaulich geschildert, wie es in so einem Trinkerkopf zugeht. Alles ist voller Symbolik: Spiegelungen und Vorhänge, Licht und Schatten, religiöse Andeutungen. Vieles ist rätselhaft in seiner Bedeutung, anderes spiegelt ganz klar die jeweiligen Zustände von Personen wider.

    Ein Beispiel
    Im Wartezimmer eines Arztes:
    'einen Moment erreichte ein schräger Lichtstrahl die im Halbdunkel Wartenden...' (243) – Hoffnung auf Heilung? Nach der Behandlung ist alles von Licht überflutet, also keine Sorgen mehr?

    Es ist nicht zuletzt diese wunderschöne anschauliche, bildhafte, symbolträchtige Sprache, die mich zunehmend fasziniert hat, die meisterhaft Darstellung seiner manchmal verworrenen Sinneswahrnehmungen. Wann bekommt man sonst schon Einblick in die Gedankenwelt eines Trinkers?!

    Dieses Buch, das anfangs negativ aufgenommen wurde, weil sich allzu viele Kopenhagener Kulturbeflissene wiedererkannten, ist zu Recht ein Klassiker der Weltliteratur, neu übersetzt vom Guggolz-Verlag.

    Ich kann es nicht lassen, einige Beispiel von stimmungsvollen oder ungewöhnlichen Sprachbildern zu zitieren:

    'Auf dem Platz um die Freiheitssäule schien die Sonne, sodass der Asphalt zu einer blanken Fläche verschmolz und das Dasein völlig offen war. Sonnenschein stürzte herab.' (566)

    'Seine heisere, fanatische Stimme entfachte eine solche feindliche Hitze, dass die Worte ins Schlingern gerieten.' (207)

    Ironisch oder lustig:
    'Ein gut sortierter Laden ... Auch diese Meinung haben wir auf Lager.' (114)
    'Heisere Stimmen und krähende Hähnchentöne' (118)
    'syntaktische Sorgen' beim Schreiben von Rezensionen (55) ;-)
    'der ovale Herr Dieterding' (217)

    Nicht zuletzt möchte ich die überaus passende Covergestaltung erwähnen, wo die schiefe Bahn mit Höhen und Tiefen und die purzelnden Buchstaben das Geschehen sinnbildlich darstellen.

  1. Kopenhagen in den 1920ern. Bildungsbürgertumlektüre.

    Kurzmeinung: Wenn ich schon "Ulysses" nicht gelesen habe, kenne ich jetzt wenigstens Kristensen.

    Die zwanziger Jahre des vergangenen Jahrhunderts gelten allgemein als wild. Nach dem Ersten Weltkrieg ist die Jugend außer Rand und Band. Unser Antiheld Ole Jastrau, seines Zeichens Literaturkritiker bei der anerkannten Tageszeitung „Dagbladet“ in Kopenhagen, fühlt sich mit 35 Jahren schon uralt und nicht mehr zur Jugend gehörend, was ihm zu schaffen macht. Er liebäugelte in seinen Sturm- und Drangjahren mit der kommunistischen Weltrevolution, gilt inzwischen aber, gesegnet mit Frau und Kind, dem gut bezahlten Job und einer gediegenen geräumigen Wohnung als gesettelt und etabliert. Eichenmöbel sogar! Sozusagen unverwüstlich. Der Gipel des Konservativen. Auch das macht ihm zu schaffen, denn es kommt ihm vor wie ein Verrat an den Idealen seiner Jugend. Er hat noch einige wenige lose Verbindungen in die früheren rebellischen Kreise, in denen er verkehrte und er hat diese neue moderne Musik, diese Musik, die in ihrem Rhythmus die Rebellion selbst in sich trägt, den Jazz. Der Jazz spielt eine zentrale Rolle in dem Roman. Der Jazz und das Grammophon.
    Als eines Tages ein Bekannter, Bernhard Stefan, aus vergangenen Revoluzzertagen ihn mit sanfter Gewalt dazu drängt, ihn und seinen jugendlichen Begleiter Stefan Steffensen in der Wohnung aufzunehmen und ein paar Tage vor der Polizei zu verstecken, setzt er diesem Anliegen kaum Widerstand entgegen. Zusammen mit den beiden Intruders beginnt ein erstes ausgedehntes Saufgelage, das auf lange Sicht seine Frau und seinen kleinen Sohn in die Flucht schlägt. „Von nun an gings bergab“, diese Verse aus einem alten Knef-Schlager beschreiben den weiteren Werdegang des Literaturkritikers: Ole Jastrau lässt sich treiben und ergibt sich quasi willenlos dem Suff.

    Der Kommentar:
    Tom Kristensen zeichnet mit seinem Roman „Absturz“ sowohl ein Porträt der dänischen Neunzehnhundertzwanziger Jahre wie auch das der Haute volée Kopenhagens anhand des Niedergangs des quallenartigen Kulturjournalisten Ole Jastrau auf. Schonungslos beleuchtet Kristensen, wie die gesellschaftliche Akzeptanz der Droge Alkohol einen schwachen Menschen in den Abgrund zieht. Im stressigen Geschäft des Zeitungsmachens ist es gang und gäbe, sich nach Feierabend einen hinter die Binde zu kippen. Man lädt sich gegenseitig ein und versäuft sein Gehalt. Für Ole Jastrau, den willigen Mittrinker sind diese Gewohnheiten und Versuchungen verheerend. Er hat ihnen nichts entgegenzusetzen und er will ihnen nichts entgegensetzen. Anders als sein Kollege Eriksen, der als kontrollierter Alkoholiker in der Redaktion geduldet ist, verliert Ole schnell die Kontrolle. Sowohl über den Alkoholkonsum wie auch über sein Leben. Großartig die Szene, als gerade Eriksen ihn warnt und ihm bedeutet, den Alkoholismus zu zähmen und ihm nur bestimmte Stunden des Tages einzuräumen, nachts zu schlafen und das geregelte Durchgetaktete des Alltags nicht aufzugeben. Vergebens natürlich. Auch groß die Szene, als Ole Jastrau klar wird, dass man selbst für das Projekt, durch Alkoholismus „gepflegt vor die Hunde zu gehen“ eine gewisse finanzielle Absicherung braucht wie sie der haltlose „ewige Kjaer“ besitzt, der im Hotel über der Bar wohnt, damit der Weg zum Stoff nicht weit ist. Früher war auch Kjaer ein geachteter Kollege, von dessen Renommee ist noch etwas übrig, aber im Grunde genommen ist seine Persönlichkeit bereits im Whisky ertrunken. Immerhin ist der von Haus aus reiche Kjaer freigiebig und gelegentlich schmeißt er Runde um Runde und hält alle frei, aber Jastrau kann sich diesen Luxus nicht leisten. Er hat kein Vermögen in der Hinterhand wie Kjaer. Doch noch zahlt unser Ole alle auflaufenden Rechnungen und zahlt sogar zurück, was er sich ausgeliehen hat und bezahlt für die Schäden, der er im Suff angerichtet hat. Allerdings braucht er dafür mehr und mehr Anstöße von außen. Und seine Börse wird immer leerer. Soll man sich darüber Gedanken machen? Lieber noch ein Glas. Hoch die Tassen.

    Man merkt der Lektüre dieses Romans an, wie sehr der Autor von James Joycens Ulysses beeinflusst ist. Auch Kristensens Protagonist streift durch die nächtlichen Straßen der Großstadt und bietet dem Autor die Gelegenheit, „Ansichten von Kopenhagen“ in lyrische Worte zu fassen, wie Joyce dies mit Dublin getan hat. Die Straßen, die Häuser, der Regen, vor allem die Sonne spiegelt sich in den Fassaden; nachts aber herrscht eine Film-Noir-Atmosphäre. Licht und Schatten. Loneliness.
    Die von Kristensen verwendete Sprache ist modern, bildhaft, überspannt, pathetisch, spielt ins Mystische hinüber, löst sich zeitweilig fast auf und könnte auch schwülstig genannt werden, sie ist schillernd wie eine Seifenblase. Auf alle Fälle hat sie sich von einer bloßen naturalistischen, realen Beschreibung gelöst. Man mag diese Art überhöhter Sprachmalerei mögen oder nicht mögen, die Rezensentin mag sie nicht, dennoch bewirkt gerade die Sprache Kristensens einen gewissen Lesesog, trotz spärlicher Handlung. Denn es passiert nicht viel, die geneigte Leserschaft begleitet Ole von Rausch zu Rauschzustand, nach einer durchzechten Nacht landet er nicht zuhause in seinem Bett, sondern in der nächsten Bar. Innere und äußere Verwahrlosung nehmen zu und eigentlich müsste Jastrau in der Gosse landen.
    Der Roman „Absturz“ von Tom Kristensen kam unter dem Titel „Roman einer Verwüstung“, übersetzt von Gisela Peret bereits 1992 auf den deutschen Buchmarkt, fand aber nicht viel Beachtung. Die Story um Ole Jastrau wurde noch früher unter dem dänischen Originaltitel Hærværk (1977) verfilmt. Nun wurde er in der hervorragenden Neuübersetzung von Ulrich Sonnenberg gelesen. Der Roman gehört zur Weltliteratur, ist also ein sogenannter Klassiker. Die Klassiker der Weltliteratur gehören zum deutschen Bildungsbürgertum genauso wie die Sinfonien von Mozart, wie die Klaviermusik von Tschaikowski, die Orchesterwerke von Schostakowitsch und Mussorgskis Bilder einer Ausstellung. Eigenartig, dass Tom Kristensen gerade für diejenige Klientel schreibt, die seine Protagonisten so sehr verachten.
    Man braucht Ausdauer, um diesen Roman zu lesen. Er ist lang! Ihn in kürzester Zeit zu inhalieren, wie Knut Hamsun dies bei seiner Ersterscheinung laut informativem Nachwort wohl getan hat und der auch des Lobes voll war über diesen Roman, - wird ihn heute wohl keiner mehr. Sind die Vorbilder aus der Haute volée, die Kristensen laut Nachwort kaum verschleiert in seinem Roman beschrieb, der dänischen Leserschaft anno dunno bekannt gewesen und löste der Roman deshalb einen kleinen Skandal aus, kennt diese Herrschaften heute keiner mehr, jedenfalls nicht im deutschen Raum. Der Roman „Absturz“ hat diese Art von Aktualität verloren, zumal es auch im Nachwort keinen Hinweis auf deren Identität gibt.
    Wer sind der Verleger Iversen in Real Life gewesen, wer der ewige Kjaer, wer sind die Kollegen Otto Kryger und wer seine großzügige, aber naive Gattin? Wer sind Eriksen, Vuldum, wer der Apotheker H.C. Stefani, der seine ganze Familie plus Hausmädchen mit Syphilis ansteckt, wer der Anwalt Krog mit der Zulassung beim Obersten Gerichtshof ? Wer sind die kommunistischen Rebellen B. Stefan und Steffensen, beide aus gutem Hause? Hat es sie gegeben? Sind alle oder manche diese Figuren wirklich nach echten Vorbildern der dänischen High Society der 1920er Jahre Dänemarks gezeichnet. Erkennbar? Skandalträchtig? No idea. Wäre ein Hinweis auf deren (vermeintliche) Identitäten im Nachwort heute noch juristisch bedenklich? Da es diese Hinweise nicht gibt und die Erkennbarkeit heute keine Rolle mehr spielt, hat der Roman, wie schon gesagt, sowohl die damalige Tagesaktualität wie auch den direkten historischen Bezug dahin leider verloren.
    Als Porträt einer Abwärtsspirale jedoch ist der Roman zeitlos. Er besticht dadurch, dass er stracks auf sein Ziel lossteuert, ohne nennenswerte Umwege über Nebenhandlungen zu gehen, man wartet förmlich auf den Aufschlag. Unten angekommen. Dass dieser Aufschlag letztlich aber ausbleibt und damit die katastrophalen Auswirkungen einer Alkoholkrankheit letztlich doch bagatellisiert, ist ein punktekostendes Manko. Frauen kommen nur als Erotikobjekte, in irgendeiner Form dienend oder als lächerliche, schwache und verächtliche, rückgratlose Geschöpfe vor. Das ist auch so ein Punkt, der nicht begeistern kann.

    Fazit: Weltliteratur. In gewisser Weise faszinierend. In gewisser Weise genial. Aber so richtig begeistert bin ich dennoch nicht. Man hat aber seiner Bildungsbürgertumspflicht Genüge getan. Wenn man schon "Ulysses" nur als Zusammenfassung kennt.

    Kategorie: Weltliteratur. Klassiker.
    Verlag: Guggolz, 2023