Steglitz: Roman
"Steglitz" ist der erste Roman, den ich von der französischen Schriftstellerin Inès Bayard las. Zuvor schrieb sie ihren preisgekrönten Roman "Scham", in dem es wohl um die Erfahrung einer Vergewaltigung geht und die Frage, wie die betroffene Frau damit umgeht.
Es hat den Anschein, als interessiere sich Bayard in besonderer Weise für Schicksale vulnerabler Frauen und deren Lebensbewältigung nach kritischen Lebensereiggnissen. In "Steglitz" steht eine traumatisierte Frau im Mittelpunkt der Geschichte: Leni Müller. Sie lebt mit ihrem Mann, dem Stararchitekten Ivan, in dessen Schatten sie steht, in Steglitz. Doch offenbar genügt ihr das Hausfrauendasein. Ihr ruhiges und routiniertes Leben, das viele als langweilig beschreiben würden, gibt ihr Sicherheit. Früh ist klar, dass sie ein Päckchen mit sich herumträgt; ein schweres, scheint es. Sie verlässt ihr Haus eigentlich nur zum Einkaufen. Und während sie so durch Stegnitz flaniert, beginnt alles um sie herum zu verschwimmen. Straßennamen reichen zur Orientierung nicht aus. Sie trifft, oder trifft nicht rein zufällig auf ihre Mutter, ihren Bruder. Man weiß es eben nicht: Was ist real, was ist Fiktion oder vielleicht besser: eingebildet? Leidet Leni unter einer Wahrnehmungsstörung?
Bayard schafft eine sehr düstere und spannende Atmosphäre. Sie zieht den Leser in das Verwirrspiel hinein: So wenig wie Leni ihr Leben wirklich im Griff hat, so wenig weiß der Leser schließlich zwischen Realität und Fiktion zu unterscheiden. Das ist bemerkenswert. Bayard macht den Leser nicht zu ihrem Komplizen, der klar sieht und daher ein klares Urteil über Leni zu fällen in der Lage ist. Das finde ich grundsätzlich sehr gelungen. Der Leser rätselt, sammelt einen Hinweis nach dem anderen auf und bleibt dennoch im Ungewissen darüber, was los ist: Was ist mit Leni? Was hat es mit der Schießerei auf sich? Worauf kann man sich eigentlich verlassen?
Leni Müller ist vom Leben gezeichnet. Sie ist schwer traumatisiert und verliert den Boden unter den Füßen. Als ihr Mann auf Geschäftsreise geht, zieht ihr plötzlich auftauchender Bruder Emile sie aus ihrem vertrauten Umfeld heraus und vermittelt ihr einen Job in der Kneipe. Wieder weiß der Leser nicht: Warum taucht er plötzlich auf? Will er ihr Gutes? Zweifel kommen auf, denn ihr wird übel mitgespielt, dort. Und warum scheint dieser Ziegler sie permanent zu verfolgen? Welche Rolle spielt ein plötzlich auftauchender Bettler? Und so weiter und so weiter. Immer wenn man als Leser denkt, anzufangen Zusammenhänge zu verstehen, verliert sich alles wieder in dichten Nebel.
Ich persönlich lese sehr gerne Geschichten, in denen die Grenzziehung zwischen Realität und Fiktion oder Wahn fragil ist. Hier finde ich es aber auch besonders faszinierend, da es meines Erachtens für den Zustand der vulnerablen Leni und ihren Umgang mit der Traumatisierung steht. Ihr Leben gleicht einem dichten Nebel. Nichts ist mehr klar oder liefert Orientierung. Ihre Welt ist in Stücke zerfallen. Und davon erzählt der Roman. Die Verwischung der Grenzziehung zwischen Realem und Imaginierten, zwischen Wirklichkeit und Traum betrachte ich als Stilmittel der Autorin, den Inhalt auch formal widerzuspiegeln. Falls dem so ist, finde ich dies gelungen.
Das letzte Drittel habe ich als etwas schwächer empfunden, für mich bleibt am Ende Vieles offen. Aber es gibt einen Hoffnungsschimmer, zumindest einen kleinen...
Wer sich auf surreale Geschichten einlassen kann und sich ggfs. auch gerne mal verwirren lässt, dem sei dieser Roman empfohlen. Er ist jedoch nichts für Leser, die Klarheit für unverzichtbar halten. Ansonsten: Mutige, Experimentierfreudige vor!
Leni Müller ist mit ihrem langweiligen Leben in Steglitz zufrieden. Sie führt ihren Haushalt, geht einmal am Tag einkaufen und schaut gerne vom Fenster auf die Straße. Ihr Mann, ein erfolgreicher Architekt, gefällt es auch, dass sie keine großen Ansprüche stellt. Doch dann stört etwas dieses gleichförmige Leben. Kommissar Ziegler taucht bei den Müllers auf wegen einer Befragung. Das versetzt Leni in Unruhe. Doch als ihr Mann geschäftlich nach Rügen muss und Leni nicht mitnimmt, gerät ihr Leben vollends aus den Fugen.
Leni braucht ihr immer gleichen Alltagstrott, ansonsten wird sie unruhig und verunsichert. Man spürt, dass Leni etwas Traumatisches erlebt haben muss. Beim Umherstreifen in Steglitz begegnet sie Menschen, die sie erst später als Familienmitglieder erkennt. Ihr Mann Iwan behandelt sie lieblos und hat sie inzwischen auch satt.
Ich konnte vieles von dem, was geschah, nicht nachvollziehen. Es erschien mir einfach zu surreal. Nie konnte ich mir sicher sein, was Realität oder Erinnerung ist oder was in Lenis wirrer Gedankenwelt passiert. Sie lässt alles mit sich machen ohne etwas in Frage zu stellen oder sich zu wehren. Erst so nach und nach stellt sich heraus, was Leni in der Vergangenheit so traumatisiert hat.
Mich konnte die Geschichte nicht erreichen. Zu keiner der Personen habe ich eine Verbindung aufbauen können, selbst zu Leni nicht, die doch eigentlich bedauernswert ist. Auch sprachlich hat mich die Autorin Inès Bayard nicht überzeugen können. Manchmal sind ihre Beschreibungen wirklich toll, oft aber gibt es ungenaue und nicht zutreffende Bilder. Als Nicht-Steglitzer langweilten mich die ewigen Straßenaufzählungen.
Am Ende ändert sich für Leni etwas und auch wieder nichts. Sie führt wieder ihr ruhiges Leben ohne besondere Vorkommnisse, nur mit einem anderen Mann.
Es gibt bestimmt Leser und Leserinnen, die diese bedrückende Erzählung, bei der nichts vorhersehbar ist, erreichen kann. Mich konnte sie nicht abholen.
Leni Müller lebt mit ihrem Ehemann Iwan im Berliner Stadtteil Steglitz. Er ist angesehener Architekt, der viel im Homeoffice arbeitet und hin und wieder dienstlich unterwegs ist. Sie ist Hausfrau. Schnell wird klar, dass die Ehe nur auf dem Papier besteht, denn von einem liebevollen Miteinander fehlt jede Spur. Spätestens, als Iwan dienstlich für ein Großprojekt nach Rügen reist und erstmals seine Frau nicht mitnehmen will, kann ich mir als Leserin einiges zusammenreimen…
Leni leidet unter Ängsten und braucht dringend einen immer gleichen Tagesablauf, um ihr Leben einigermaßen unter Kontrolle zu haben. Kleinste Störungen bringen sie komplett aus dem Gleichgewicht und rufen Panikattacken hervor. Sie scheint schwer traumatisiert zu sein – so kommt es mir vor.
Als dann Ziegler auf die Bildfläche tritt und angeblich als Kommissar wegen irgendeiner Sache ermittelt, kriselt es erstmals gewaltig bei Leni – so viel Aufregung und Verunsicherung tut ihr nicht gut. Und dann steht plötzlich Lenis zwielichtiger Bruder Emile vor ihr und will sie mit gutem Willen aus ihrer lieblosen Ehe rausholen…
Leni kommt in einer Kneipe unter, wo sie fast rund um die Uhr arbeitet und ein kleines Zimmer hat. Und trinkt. Sie müsste einfach mal in professionelle Hände und ihr Trauma aufarbeiten. Stattdessen scheint es jeder/m egal zu sein, niemand nimmt Notiz an Lenis Problemen. Sie hat keinerlei Freunde und die Familie ist entweder bereits gestorben oder selbst ein seelischer Scherbenhaufen. Einiges kommt im letzten Drittel des Romans ans Tageslicht. Das Trauma wird bekannt und erklärt zumindest Lenis Zustand ansatzweise.
Diese Zustandsbeschreibung einer seelisch kranken Person gelingt der Autorin in ihrem Roman recht gut. Sie schafft mit einigen surrealen Momenten und der Art, wie sie von Leni und ihrem immer gleichen Tagesablauf erzählt, eine recht greifbare Atmosphäre, die vor allem von Hilflosigkeit geprägt ist.
Auch wenn ich mich zu keinem Zeitpunkt in eine der Personen wirklich hineinversetzen kann aufgrund einer merkwürdigen Distanziertheit, und obwohl es mir oft schwer fällt zu verstehen, was die Autorin sagen will, und die psychologischen Hintergründe nicht so lupenrein nachzuvollziehen sind, so kann ich am Ende trotzdem sagen, dass der Roman etwas hinterlassen hat: das Gefühl von Einsamkeit und von großer Sehnsucht nach Hilfe und Geborgenheit, nach Ruhe und Liebe dringt zu mir durch.
Insgesamt ein schwermütiger und teils kryptischer Roman. Er hat mich fesseln können, er ist atmosphärisch, aber meiner Meinung nach nicht ganz rund und vollständig. Zu viele Fragezeichen, die das Lesen erschwert haben. Man kann ihn durchaus lesen, aber ich werde zukünftig von Romanen der Autorin Abstand nehmen.
Leni Müller lebt ein beschauliches Leben im gehobenen Berliner Wohnbezirk Steglitz. Sie ist mit einem erfolgreichen Architekten kinderlos verheiratet und nicht erwerbstätig. Leni lebt sehr zurückgezogen, sie scheint fast Angst vor der Welt zu haben. Sie hält sich an täglichen Routinen wie dem Einkauf von Lebensmitteln fest, ihre Ehe kann man als wortkarg und lieblos bezeichnen. Doch ihr ist das alles Recht, Hauptsache, man versetzt sie nicht in Unruhe. Aber genau das passiert, als der Kriminaler Ziegler bei dem Ehepaar auftaucht und sich nach einem vermeintlichen Schusswechsel erkundigt, der in der vergangenen Nacht stattgefunden haben soll. Dieser Besuch reißt irgendetwas in Leni auf: „Die Nacht war ihr unendlich lange vorgekommen. Wie ein Tier, das aus seinem Bau vertrieben worden war, hatte sie pausenlos vor Angst gezittert.“ (S.19)
Lenis innerer Frieden ist zerstört. Als Leser bekommt man immer stärker das Empfinden, dass sie eine stark traumatisierte Frau ist. Ihre Empfindungen, ihre Taten kann man mit gesundem Menschenverstand schwer greifen. In Rückblicken erfährt man von ihrer Kindheit in prekären Verhältnissen, vom Alkoholismus des Vaters. Ihr erscheinen wie durch einen riesigen Zufall Mutter Rosa und Bruder Émile. Was ist mit dem Vater geschehen? Die einzelnen Umstände der Begegnungen wirken skurril, irreal und teilweise aus der Zeit gefallen. Man hat trotz aller Konzentration oft das Gefühl, das einem die Handlung immer wieder in eine surreale Traumwelt entgleitet, man den Bezug zum Text verliert – ich kann es nicht besser beschreiben. Im nächsten Augenblick erhascht man wieder den Handlungsfaden, bis zum nächsten Entgleiten…
Dabei vermag es die Autorin, Atmosphäre zu schaffen. Das Drumherum, die Schauplätze, die Figuren sind sehr anschaulich beschrieben: „Frostgewebe mit glitzernden Spiegelungen spannten sich zwischen den Gräsern im Park und den Brettern der Bänke. Weiter entfernt schwebten Nebelnetze wie Geister über die Autos. Die Kälte hatte alles erstarren lassen.“ (S. 30)
Selbstverständlich passt diese ausdruckstarke Beschreibung zur beschriebenen Handlung, Inès Bayard versteht ihr Handwerk. Der Roman strahlt ein dunkles, zwielichtiges Noir-Umfeld aus, er ist definitiv keine Wohlfühllektüre. Man muss sich einlassen auf diesen Text, der von Begebenheit zu Begebenheit fließt und weitere Bedeutungsebenen hinter dem Offensichtlichen freilegt. Ein Großteil des Figurenpersonals hat seelische Verletzungen oder Traumata erlitten. Vor diesem Hintergrund muss man wohl ihr teilweise völlig rätselhaftes Verhalten interpretieren. Die Autorin legt Hinweise aus, liefert wie nebenbei Schlüsselszenen. Sie bedient sich zahlreicher Symbole und wiederkehrender Motive. Als Leser tappt man wirklich lange Zeit im Nebel. Im Grunde ergeht es einem da nicht besser als der zutiefst verunsicherten Protagonistin, die sich auch langsam aus ihrer Schutzhülle schälen, sich ihrer Vergangenheit und damit der Realität stellen muss, um sich in ihrem Leben neu zu orientieren. Dieses Undeutliche, diese partielle Skurrilität mag nicht jedem gefallen. Auch ich hatte meine Probleme damit. Vielleicht würde es dem Verständnis auch helfen, wenn man den titelgebenden Bezirk Steglitz näher kennt. Sehr genau werden zumindest dessen Straßen und Wege beschrieben.
Das Ende kann auf den ersten Blick Ratlosigkeit verursachen. Wer sich damit aber nicht zufrieden gibt, noch einmal zurückblättert und willens ist, Leerstellen aufzufüllen, wird definitiv fündig werden. Je nach Charakter und Erfahrungshorizont erkennt jeder Leser etwas Anderes. Die Geschmäcker sind verschieden. Auch wenn ich persönlich nicht wirklich warm geworden bin mit diesem Buch, muss ich der Schriftstellerin doch konstatieren, dass sie ein außergewöhnliches Werk vorgelegt hat, das die Lebensrealität schwer traumatisierter Menschen wahrscheinlich gut abbildet. Von diesen Menschen gibt es in Zeiten von Krieg und Flucht immer mehr. Insofern schadet es nichts, sich aus der eigenen Wohlfühlblase herauszubewegen und sich einmal mit ihnen zu beschäftigen.
Wäre in diesem Roman, der nicht nur im Berliner Stadtteil Steglitz spielt, sondern sogar nach ihm benannt ist, wenigstens ein Stieglitz aufgetaucht, hätte ich ihm vielleicht etwas abgewinnen können. So bleibt leider wenig bis gar nichts übrig, was mich von diesem Roman-Experiment überzeugen hätte können.
Gleich vorweg: Es handelt sich um einen Roman, der ständig zwischen surrealem Erleben und der (vielleicht) Realität hin und her schwankt. Dementsprechend schwer wird es jetzt für mich, die „Handlung“ kurz zusammenzufassen. Also, es wird alles vage bleiben und ich erhebe keinerlei Anspruch auf Korrektheit!
Leni Müller ist mit Ivan verheiratet und lebt in Steglitz in der Markelstraße. Sie geht einem rigiden Tagesablauf nach, indem sie als reine Hausfrau den Tag über mit kleinen Erledigungen durch das Viertel streift und ansonsten vollkommen unselbstständig an ihrem Mann hängt. Als ihr Mann zu einer Dienstreise aufbricht und angeblich nicht zurückkehrt, wird sie von ihrem Bruder in einer zwielichtigen Spelunke einquartiert. Es passieren immer merkwürdigere Dinge, die irgendwie mit ihren Erlebnissen aus der Kindheit verbunden zu sein scheinen. Ähm… und irgendwann erreichen wir das Ende des Romans. So oder so ähnlich könnte man den Roman, den man sich am besten von David Lynch verfilmt vorstellt, zusammenfassen.
Also wer David Lynch Fan ist, oder gar „Weiße Nacht“ von Bae Suah mochte, könnte Gefallen an diesem merkwürdigen Experiment finden. Ich musste mich unglaublich überwinden den Roman überhaupt zu Ende zu lesen. Zu häufig (gefühlt in jedem zweiten Satz) droppt die französische Autorin, die während des Verfassens des Romans in Steglitz während der Corona-Pandemie lebte, irgendwelche Straßennamen, die einer Person, die dort nicht lebt, überhaupt nichts sagen und nur stören. Eine Atmosphäre, die typisch für diesen Stadtteil sein könnte, schafft sie dabei nicht heraufzubeschwören. Daneben geschehen, wie gesagt, surreale „Dinge“, die aber meines Erachtens nach nicht zu einem Ganzen sinnvoll zusammengeführt werden. Vielleicht ist ja auch das genau das Wesen von surrealen Werken. Aber es ist nicht meins, denn das Verhalten der Protagonistin ist psychologisch nicht fundiert nachvollziehbar und bewegt sich bis kurz vor Schluss in einem unsteten, luftleeren Raum. Nur vage könnte man nach Beenden des Romans erahnen, was mit der Protagonistin los ist.
Stilistisch kann ich weder etwas Positives für noch gegen die Schreibe der Autorin sagen. Was vielleicht das langweiligste Urteil überhaupt sein kann. Ja, Bayard kann grammatikalisch richtige Sätze formulieren. Aber diese reißen nie vom Hocker, bieten nie etwas Besonderes, über das man sich literarisch freuen könnte.
Eine Stelle habe ich mir auf Seite 54 markiert, die so ziemlich mein Lektüreerlebnis festhält:
„Christians Erzählung, so schlimm sie auch gewesen sein mochte, hatte sie nicht berührt, nur zutiefst gelangweilt. Sie erkannte, dass sie ihm aus reiner Höflichkeit zugehört und dass die Schilderung seiner harten Prüfungen in ihr nichts als Gleichgültigkeit geweckt hatte.“
So erging es mir mit diesem Roman leider auch. Ich habe aus reiner Höflichkeit und Verpflichtung, da es sich um ein Leseexemplar handelt, weitergelesen. Mich konnte der Roman weder abholen noch irgendwohin mitnehmen. Erst recht nicht nach Steglitz. Ich habe durch den Stil keinerlei Interesse an den Figuren, ihrer Geschichte noch ihren psychischen Zuständen (und das will etwas heißen!) entwickeln können.
Damit ist dieser Roman, dem ich leider so gar nichts abgewinnen konnte, bisher mein persönlicher Flop des Jahres, was nicht für alle Leser:innen gelten muss. Wer sich also heranwagt, hat meinen vollen Respekt und soll dies gern tun. Ich werde zukünftig hingegen einen großen Bogen um die Autorin machen und biege dafür vor der Markelstraße an der Lepiusstraße ab, gehe auf die Schildhornstraße, meide aber den Sportplatz Schildhornstraße indem ich auf die Gritznerstraße abbiege und über die Buggestraße zum Breitenbachplatz gelange. Dort setze ich mich in die U-Bahn bis zur Endhaltestelle Krumme Lanke und verlasse erleichtert Berlin über Zehlendorf ins Umland.
1,5/5 Sterne
Steglitz ist eines davon! Die Schloßstraße vom Kreisel bis zum Walther-Schreiber-Platz bildet dabei mit seinen Banken, Bekleidungs- und Lebensmitelgeschäften die Hauptschlagader dieses kleinen Kosmos. Von ihr abzweigend findet man dann die Kneipen und kleineren Läden, die sich wie immer dünner werdende Wurzeln in die Wohnviertel verzweigen. Wer mag, brauch sich nicht aus seinem Karree hinausbegeben, es ist alles vor Ort.
So lernen wir Leni Müller kennen. Eine Ehefrau und Haushälterin wie sie im Buche steht. Sie hat sich voll und ganz dem Leben mit ihrem Mann Ivan, dem Stararchitekten, untergeordnet. Minutiös erledigt sie alle Handgriffe, die ihrem Gespons das feierabendliche Heimkommen perfekt machen sollen. Anspruchslos, ja eigentlich mechanisch, lässt sie auch dessen sexuelles Verlangen über sich ergehen. Ihr Dasein beschränkt sich dabei auf das Haus und die immer gleichen Wege auf der Schloßstraße für die Besorgungen des frischen Essens. Leni scheint eine wenig sympathische, einfältige Person zu sein.
Das Mitleid hält sich dann beim Lesen auch in Grenzen, als ihr Mann verkündet, dass er allein für ein paar Tage nach Rügen verreisen muss und Leni plötzlich ihren Lebensmittelpunkt verliert. Fast hilflos wirkt sie bei ihrer täglichen Besorgungen, versteht nicht, warum sie plötzlich der Kioskverkäufer anbrüllt. Reicht es nicht, dass vor ein paar Tagen der Polizist Ziegler aufgetaucht ist, um sie nach nächtlichen Schüssen im Park zu befragen? Jetzt scheint er ihr aufzulauern, sie zu observieren. Doch statt des erwarteten Ehemannes, steht plötzlich ihr Bruder Emile vor der Tür, der ihr mitteilt, dass sie ausziehen soll, weil ihr Mann mit einer anderen Frau in die gemeinsame Wohnung zurückkehren möchte.
Willenlos lässt sie sich von Emile mitnehmen und unweit der bekannten Umgebung in einer Wohnung über einer Bar einquartieren. Fast traumwandlerisch erledigt sie dort die ihr zugewiesenen Aufgaben und scheint nur froh zu sein, dass sie immer noch in ihrer Welt, in Steglitz ist.
Anfänglich verstört dieser 190 Seiten dünne Roman mit seiner fast leblosen Hauptfigur und deren beunruhigenden Begegnungen mit ihrer Mutter im Retsaurant und ihrem Vater im Park, der aber scheinbar erschossen wird. Das etwas nicht stimmt, ahnt der Leser bereits, als Leni eigentlich einen Arzttermin wahrnehmen soll, zu dem es nicht kommt. Die Menschen in Lenis Umgebung legen merkwürdiges Verhalten an den Tag. Sämtlich Männer, einschließlich des Kommissars, treiben Leni in ihrem Handeln und Denken.
Erst im letzten Drittel kommt die (Er-)Lösung. Sowohl ihr Bruder, als auch der Kommissar erzählen eine Geschichte, die Licht ins Dunkel einer zutiefst traumatisierten Frau geben, deren psychotischer Schub durch sie ausgelöst und weidlich ausgenutzt wurde. Das Steglitzer Staßennetz, oft erwähnt und aufgezählt, mag den nicht Ortskundigen ermüden und langweilen, könnte stellvertretend aber auch die engen Grenzen beschreiben, in denen Personen wie unsere Protagonistin gefangen sind und allein keinen Ausweg finden. Für Außenstehende ein Bezirk wie viele andere, für Betroffene eine Zelle (und doch gewohnter Lebensraum) mit toten und lebenden Wächtern an den Ausgängen.
Gewöhnungsbedürftig, aber effektiv wirkt die die Sprache, von Theresa Benkert aus dem Französischen übersetzt, stringent und irritierend klar. Die Neugier überwiegt bald den Ärger über den Phelgmatismus und den Dahintreiben Lenis. Fast genauso willenlos wie unsere Hauptfigur, lassen wir uns in den Straßen herumführen, bis uns dann die Wirklichkeit quasi aus dem Buch schüttelt, erstaunt darüber, dass nichts so ist wie es scheint. Die Aufklärung ist vielleicht etwas holprig konstruiert, der Rest ist aber wunderbar komponiert.
Das Buch erschien beim Zsolnay Verlag.
Leni Müller lebt mit ihrem Mann Ivan in Berlin-Steglitz. Es ist ein einsames Leben. Während der erfolgreiche Architekt einmal mehr einen lukrativen Auftrag für sich entscheidet, kapselt sich Leni ab. Ihre täglichen Einkäufe sind schon das Höchste der Gefühle. Als Ivan für ein Bauprojekt nach Rügen reisen muss, ist Leni plötzlich auf sich allein gestellt. Überfordert von der Welt scheint sie plötzlich Dinge zu sehen und zu hören, die gar nicht real sind. Und was will eigentlich dieser Kommissar Ziegler von ihr, der ihr auf Schritt und Tritt zu folgen scheint? Nach und nach drängen vergangene Dinge in Lenis Bewusstsein, die sie behutsam in Richtung Abgrund ziehen wollen...
"Steglitz" ist der neue Roman von Inès Bayard, der jetzt in der Übersetzung aus dem Französischen von Theresa Benkert bei Zsolnay erschienen ist. Es ist ein im wahrsten Sinne des Wortes seltsamer Roman. Zunächst einmal sticht von Beginn an die Sprache ins Auge. In kurzen, einfachen, fast technokratischen Sätzen zeichnet Bayard das Bild einer durchschnittlich-langweiligen Protagonistin, bei der nicht nur der Name Leni Müller absolutes Mittelmaß verkörpert. Leni ist eine folgsame Ehe- und Hausfrau. Die Einkäufe, für die sie Steglitz nie verlässt, sind ihre täglichen Höhepunkte. Liebe ist zwischen ihr und Ivan nicht zu spüren. Der abendliche Sex hat gar etwas Missbräuchliches. Auch die Beschreibungen des Umfeldes wirken spröde. Bayard verliert sich in der Aufzählung Berliner Straßennamen, die für diejenigen interessant sein mögen, die sich dort auskennen. Dennoch passt die Sprache sehr gut zum Inhalt und untermalt fast beiläufig die Berliner Winterlandschaft.
Mit zunehmender Dauer des Romans häufen sich die merkwürdigen Vorfälle und Begebenheiten. Das liegt auch an der Unzuverlässigkeit der Erzählstimme, die ganz nah bei Leni ist, auch wenn es sich nicht um eine Ich-Erzählerin handelt. Mit Ivans Abreise fällt Leni in eine Art psychisches Loch. Doch warum verspürt der Kioskverkäufer eine so große Wut auf sie, dass er Leni sogar körperlich attackiert? Und befragt der mysteriöse Kommissar Ziegler Leni tatsächlich nur aufgrund merkwürdiger Schüsse, die am Abend zuvor durch Steglitz schallten? Ständig tauchen irgendwelche geheimnisvollen Männer auf, die auf Leni bedrohlich wirken. Da ist der Mann, der behauptet ihr Vater zu sein, und kurz darauf im Park erschossen aufgefunden wird. Da ist ihr Bruder Émile, den sie zunächst gar nicht erkennt, der sie aber dann mir nichts dir nichts aus der Wohnung wirft, weil Ivan von Rügen mit einer anderen Frau zurückkommen möchte. Und da ist Ziegler, der ihr eines Abends seine Telefonnumer gibt und ihr Schutz verspricht, nur um bei einem darauffolgenden Gespräch überhaupt nichts mehr davon zu wissen.
Bayard gelingt es, diese Bedrohlichkeit unmittelbar auf die Leserschaft zu übertragen. Je surrealer die Handlung wird, desto gefährdeter scheint Leni. Und auch wenn überhaupt keine Emotionen oder gar Mitleid bei den Leser:innen mit ihr aufkommen, hat "Steglitz" etwas Faszinierendes, etwas Soghaftes. Erst im letzten Drittel des 180 Seiten kurzen Romans scheint zumindest klarer zu sein, wie es zu dieser über die Dauer doch mehr und mehr erkennbaren Traumatisierung der Hauptfigur kam. Das löst Bayard zwar nicht besonders elegant, weil sie Lenis Bruder Émile einfach erzählen lässt, sorgt aber für eine gewisse Befriedigung bei den Leser:innen. Im Finale wird "Steglitz" noch einmal bitterböse, bevor es tatsächlich noch zu einem runden Abschluss findet, was bei all den vorherigen Irrungen und Wirrungen überrascht. Zudem beweist Bayard hier ihre sprachliche Komik, bei deren Boshaftigkeit einem das Lachen schon mal im Halse stecken bleiben kann.
Insgesamt ist "Steglitz" ein psychologischer Roman, der sich einerseits auf surreale Art und Weise mit dem Trauma einer Frau beschäftigt, andererseits ist es auch die Auseinandersetzung mit dem Leben in einer anonymen Großstadt. Das Buch wird sicherlich polarisieren, weil viele der geschilderten Situationen so unglaubwürdig sind, dass sie nicht ernst genommen werden können. Als Porträt einer schwer traumatisierten Frau auf der Suche nach Normalität habe ich "Steglitz" aber seltsam fasziniert und mit Interesse gelesen.
Kurzmeinung: Im üblichen Sinne mag ich diesen Roman nicht - aber er bringt mich ins Grübeln.
Es gibt wenig Klarheiten in dem neuen Roman „Steglitz“ von Inès Bayard. Am klarsten ist der Handlungsort, Berlin-Steglitz. Das ist gesetzt. Klar ist auch, dass die Protagonistin Leni Müller heißt, mit einem erfolgreichen Architekten namens Ivan verheiratet ist und recht zurückgezogen lebt. Sie kennt freilich ihr Revier, das sie in nächtlichen Spaziergängen durchstreift. Alles andere ist unklar, wie es in den Nachrichten immer so schön heißt, was bedeutet: wir wissen es nicht und sind auf Vermutungen und Interpretation angewiesen.
Es gibt mehrere Handlungsorte im Roman, da wäre zum einen einmal die Wohnung von Leni und ihrem Mann, des weiteren das Viertel, in dem sie lebt selbst, das von der Autorin akribisch beschrieben wird. Freilich ist dieses Viertel nicht besonders auffällig, es ist großbürgerlich, sieht eben aus wie eine Großstadt so aussieht; Kaufhäuser, Wohnhäuser, Kneipen, U- und S-Bahnstationen, Parks.
Entsteht durch die Beschreibung des Viertels durch die Autorin Atmosphäre? Inès Bayard zählt Straßennamen herunter, erwähnt einen geheimen Weg zu einem kleinen, unbesuchteren Park, läßt ihre Protagonistin in Kiosken einkaufen, etc. Das ist langweilig und öde. Aber tatsächlich ist diese Ödigkeit und Langeweile genau die richtige Atmosphäre. So ist Steglitz. Völlig unspektakulär. Allerdings vermittelt Steglitz auch den Eindruck von Geschäftigkeit, und zwar vor allem den Eindruck einer Geschäftigkeit, in der Umsätze gemacht werden, riesige Verkaufstempel nehmen den Raum ein, etc. Ein Hauch von Luxus. Dieser Teil Steglitzens wird vernachlässigt.
Der letzte Handlungsort ist eine heruntergekommene Kneipe, eine jener Kniepen, von denen es in Berlin unzählige gibt, an jeder Ecke eine. Die in Frage stehende Kneipe ist diejenige, in der Leni, freiwillig oder unfreiwillig, das ist schwer zu enscheiden, landet, nachdem sie aufgrund verwirrender Umstände mittellos aus ihrer Wohnung gestoßen wird. In der Kneipe verkehren deren normale Stammkunden, die meisten sind Alkoholiker, auch Leni fängt an zu saufen. Gleichzeitig scheint es auch ein illegaler Puff zu sein. Aus welchen Gründen auch immer, fängt Leni dort an zu schuften, als Mädchen für alles, für die ekelhaften Arbeiten wird sie eingesetzt; sie wird für Kost und Logis ausgenutzt, sie arbeitet 16 Stunden am Tag Minimum und zu allem Überfluss wird sie von einem Mitarbeiter zum Sex genötigt. Leni lässt alles mit sich machen.
Eigentlich wäre die Beobachtung der allmählichen Verwahrlosung der Leni Müller spannend, wären da nicht die von der Autorin angewandten erzählerischen Mittel der Verdichtung, Überlagerung und Verschleierung. Jede Szene, die die Autorin beginnt, fängt relativ realistisch an, verläuft aber nach und nach in traumähnlichen Sequenzen, Menschen verwandeln sich mitten in einer Szene in andere, oft imaginiert Leni Familienangehörige in diese Szene hinzu. Auch die Zeiten verschwimmen. Ist Leni jetzt in der Gegenwart oder in der Vergangenheit, wo kommen plötzlich Vater, Mutter, Bruder und Kindheit her? Es ist ein mehr und mehr surreales Szenario, das Baynard zeichnet. Kausalitäten sind kaum zu erkennen, Szenen werden mehrfach erzählt, jedoch immer wieder anders. Von Leni Müller selbst bekommt man ebenfalls kein klares Bild. Bewältigung eines Traumas? Gegen Ende des Romans werden biblische Texte eingepflegt und Leni verzeiht allen, die ihr je etwas angetan haben und das ist nicht wenig. Ist das die Bewältigung?
Natürlich macht sich jeder Leser ein eigenes Bild, von dem, was erzählt wurde und von dem, was auch nicht erzählt wurde, baut sich aus den von der Autorin gegebenen Puzzleteilen ein mögliches Schicksal der Leni Müller zusammen. Insofern schafft die Autorin Möglichkeiten. Möglichkeiten, aber keine Eindeutigkeiten. Zum Schluß landet Leni genau dort wieder, wo sie angefangen hat. Im selben Leben, im selben Rhythmus, nur mit einem anderen Mann. Das soll es geben!
„Leb wohl, Steglitz“, lässt die Autorin durch eine Figur ausrichten, auf ein andermal. Wieder mit Inès Bayard? Kann sein, – aber nicht mit mir, wenn sich dieser Roman sich mir allmählich erschlossen hat. Man hört draussen Schreie, man verschließt Tür und Fenster, sperrt Unliebsames aus, genau wie immer. So ist Großstadt. Keiner kümmert sich um keinen. Das ist die Botschaft.
Der Kommentar:
Wenn ich Rezensionen schreibe über einen Roman, den ich gerade gelesen habe, wid dieser Roman unter dem Verfassen der Rezension entweder besser oder schlechter. Dieser hier wird besser, je mehr ich darüber nachdenke.
„Steglitz“ hat mich beim Lesen ziemlich verärgert. Ich mag es nicht, wenn man jede Szene in Nebel hüllt und ins Nirwana führt. So dass der geneigte Leser im Unklaren gelassen wird, was er eigentlich liest. Surrealismus ja, aber nur dann, wenn es nicht zu viel ist. Aber Inès Bayard hat nicht gespart: Hat sie ihren Roman versalzen, überladen, überfrachtet mit dem Gewürz des Surrealismus?
Leni Müllers Bildnis, also deren Erkennbarkeit erscheint mir wie ein mehrfach belichtetes Porträt, übereinandergelagerte Bilder, Unschärfe bewusst schaffend. Es gibt wenig Logik im Roman. Keine Kausalität, die man als rationaler Mensch gelten lassen könnte. Man muss alles hinnehmen, denn Surrealismus, das ist nicht hinterfragbar. Mit Leni Müller werde ich nicht warm, und das Geschehen im Roman bleibt nebulös. Die Figur der Leni hat sich -trotz des vergangenen Zeitraums von mehr als einem Jahr– nicht bewegt, sie landet an ihrem Ausgangspunkt. Was soll also das Ganze? Zumal die Autorin ihren Lesern durch eine Figur mitteilen lässt, dass sie beabsichtigte, einen existenzialistischen Roman zu vefassen.
„Hast du gar keinen Verdacht?“
„Doch.“
„Welchen denn?“
„Dass nichts jemals existiert hat“.
Toll. Jetzt weiß ichs.
Obwohl mich der Roman also geärgert hat, ich an den übermässig verwendeten Erzählverschleierungen gelitten habe, schälen sich doch allmählich einige grundlegende Wahrheiten heraus. Erstens: die Großstadt ist öde und anonym. Zweitens: Großstadt ist mörderisch. Drittens: Viele Menschen bewegen sich in ihrem Leben nicht und landen am Ende dort, wo sie angefangen haben. Wie Leni Müller. Vielleicht – Existenzialismus pur – ist eine echte Entwicklung gar nicht möglich. Alles ist gleich sinnvoll oder gleich sinnlos.
Inès Bayards Roman empfinde ich auf weite Strecken als verwirrend und sogar recht langweilig. Keine Spur von Lesesog. Aber er eröffnet Räume in meinem Gehirn. Wenn ich nachdenke, mag ich nicht auf „richtige“ Ergebnisse kommen und der Roman gefällt mir im üblichen Sinne nicht, aber ich spüre die Großstadt und ihre vernichtende Kraft durch Abstumpfung. Das Nachhallen in meinem Hirn ist mir mehr wert als die ursprünglich vorgesehenen zwei Sterne, sogar mehr als drei.
Fazit: Ist das Kunst oder kann das weg? Ich weiß es nicht. „Steglitz“ ist kein Roman, der einen gut unterhält, aber einer, der ins Grübeln bringt.
Kategorie: Moderne Literatur
Verlag: Zsolnay, 2023
Leni und ihr Mann Ivan leben gemeinsam in einer Wohnung. Er ist Architekt und arbeitet von zu Hause aus. Sie hält das tägliche Leben am Laufen, geht einkaufen, putzt und kocht. Zu sagen, habe sich die beiden nicht viel. Zudem gibt es weder unvorhergesehene Ereignisse noch überraschende Kontakte zu außenstehenden Personen, die die Abläufe des Ehepaares durcheinander bringen könnten. Doch Leni mag diese Eintönigkeit ihres Alltags, es gibt ihr Sicherheit. Bis eines Tages mehrere ungewöhnliche Dinge auf einmal passieren. Ein Kommissar taucht auf, der das Ehepaar bezüglich nächtlichen Schüssen auf der Straße befragt, Ivan muss kurzfristig verreisen und Lenis Bruder, steht plötzlich vor ihrer Tür und zwingt sie mitzukommen.
In der Geschichte begleiten wir hauptsächlich Leni auf ihrem holprigen Lebensweg. Auf den ersten Seiten habe ich mich immer wieder gefragt wovon die Geschichte eigentlich genau handeln wird, um was es eigentlich gehen und wohin uns Inés Bayard führen wird?
Die Sätze und die damit aneinanderknüpfenden Szenen, fließen regelrecht ineinander. Steht man zunächst in Lenis Küche, finden wir uns im nächsten Halbsatz schon bei Rosa, der Mutter der Protagonistin, im Garten wieder. Anfangs hat das für mich alles wenig Sinn ergeben. Springt man vermeintlich völlig zusammenhangslos von einer Situation in die nächste. Das passt doch nicht zusammen, dachte ich mir. Das ganze mutet wie ein wahnhafter Fiebertraum an, schnelles Aufwachen dringend erwünscht.
Was allerdings stattdessen geschieht ist etwas ganz anderes. Die Geschichte entwickelt einen packenden Sog. Es gelang mir nicht, das Buch für längere Zeit wegzulegen. Nach und nach begann ich dann auch die Zusammenhänge etwas besser zu verstehen oder zumindest glaube ich das. Daher hoffe ich, dass ich mit meinen Interpretationen nicht ganz daneben liege.
Leni und ihre gesamte Familie wurden durch den Alkoholismus des Vaters und später durch dessen Suizid stark traumatisiert. Sie suchen die Schuld bei sich. Jedoch stellt Leni sich ihrem Trauma und der Trauer um ihre zerbrochene Familie allerdings nicht. Stattdessen sucht sie sich einen Mann, der ihr eigentlich nicht gefährlich werden kann. Die beiden verbindet letztendlich nichts miteinander. Leni richtet sich nicht nur in einer Wohnung, sondern auch in einem Leben ein, das durch stupide Wiederholungen gekennzeichnet ist. Überraschungen und herzliche Momente zwischen Leni und irgendeiner anderen Person, gibt es nicht. Doch dadurch ist sie auch vor unerwarteten Momenten bzw. Gefühlsregungen sicher. Und falls die Situation doch einmal droht zu „kippen“ schreitet Ivan für sie ein.
Der Roman ist gekennzeichnet von Männern, die auf Leni in irgendeiner Art und Weise einwirken. Alle handelnden Personen, stehen in der Geschichte synonym für etwas in Lenis Leben, der Kommissar, der Kioskverkäufer, der Sohn der Wirtin. Durch die ganze Geschichte zieht sich eine bedrohliche, drückende Atmosphäre. Trotz der packenden Dynamik, bleibt man als Leser auf der Hut. Den Protagonisten kommt man dadurch nicht so wirklich nahe, man bleibt auf Distanz.
Fazit:
Ein ungewöhnlicher Roman, den man immer ein Stückchen besser in seiner Komplexität verstehen wird, je öfter man ihn liest.
Die Verletzungen des Lebens
Der Alltag von Leni ist eintönig und wenig aufregend. Als kinderlose Ehefrau des gefragten Architekten Ivan Müller kümmert sie sich vorwiegend um den Haushalt und das Wohlbefinden ihres Gatten. Die Wohnung im Berliner Stadtteil Steglitz verlässt sie nur, um Einkäufe und andere Erledigungen zu machen. Dann allerdings kann es zu Streifzügen durch das Viertel kommen. Eine Entwicklung zwingt sie dazu, ihr Leben anders zu führen…
„Steglitz“ ist ein Roman von Inès Bayard.
Meine Meinung:
Der Roman gliedert sich in 14 Kapitel. Die Handlung umfasst einen Zeitraum von mehr als einem Jahr und spielt in Berlin, wie der Titel bereits verrät.
Erzählt wird in chronologischer Reihenfolge mit diversen Rückblenden, vorwiegend aus der Perspektive Lenis, wobei dieses Vorgehen an wenigen Stellen durchbrochen wird. Der Schreibstil ist sehr atmosphärisch, dialoglastig und zum Teil bildstark. In sprachlicher Hinsicht bleibt die Erzählerin bisweilen bewusst uneindeutig und vage, was dem Text viel Interpretationsspielraum verleiht und ein aufmerksames Lesen erfordert. Was ist real? Was ist der Fantasie oder der verzerrten Wahrnehmung der Protagonistin zuzurechnen? Dieses Verwirrspiel beherrscht die Autorin sehr gut. Nur wenige sehr detaillierte und damit langatmige Ortsbeschreibungen haben mich gestört.
Die Protagonistin bleibt sehr lange undurchsichtig, ihr Verhalten befremdlich und nicht nachvollziehbar. Allerdings manifestiert sich zunehmend der Eindruck, dass mit ihr etwas nicht stimmt. Auch die übrigen Figuren wirken ein wenig seltsam, zum Teil zwielichtig oder widersprüchlich. Dabei gilt es jedoch zu bedenken, dass die Leserschaft diese Charaktere nur durch die Brille Lenis betrachten kann.
Inhaltlich spielen vor allem psychische Probleme und Traumata eine wesentliche Rolle. Konkret geht es dabei um die Fragen, was passiert, wenn diese nicht richtig aufgearbeitet werden (können), und wie unterschiedliche Menschen damit umgehen.
Auf den knapp 190 Seiten ist die Geschichte recht handlungsarm und bedient sich wiederkehrender Elemente. Dennoch entwickelt der Roman einen Sog und hält die Spannung hoch, indem sich erst im letzten Drittel die Hintergründe von Lenis Trauma offenbaren. Letzteres führt allerdings dazu, dass mich die Geschichte erst gegen Ende wirklich berühren konnte. Nicht alle offenen Punkte werden eindeutig geklärt, was ich jedoch nicht als negativ empfunden habe.
Der deutsche Titel ist wortwörtlich vom französischen Original übernommen. Das Cover mit dem verzerrten Spiegelbild passt aus meiner Sicht hervorragend zum Inhalt.
Mein Fazit:
Obwohl mich die Autorin nicht in allen Aspekten überzeugt und die Lektüre einiges abverlangt, ist „Steglitz“ alles in allem ein durchaus lesenswerter Roman.