Der Kartograf des Vergessens: Roman
Mia Coutos Roman „Der Kartograf des Vergessens“ erzählt von einem Mann, der sich auf eine Reise in die Vergangenheit begibt. Schauplatz ist seine Heimat Mosambik, das über viele Jahre unter portugiesischer Kolonialherrschaft stand.
Im Jahr 1973 verübten portugiesische Truppen ein Massaker an der einheimischen Bevölkerung. Was damals genau geschah, konnte auch nach über 40 Jahren nicht aufgeklärt werden. Der Protagonist dieses Romans, Schriftsteller Diogo Santiago, der die damalige Zeit als Kind und Jugendlicher erlebt hat, begibt sich auf Spurensuche, um Antworten auf viele ungeklärte Fragen zu finden. Seine Suche ist gleichzeitig eine sehr persönliche Angelegenheit, da es für ihn um die Aufarbeitung seiner Kindheit geht.
Ich-Erzähler Diogo lebte damals mit seiner Familie in Beira. Die Familie gehörte zu den portugiesischen Kolonialisten. Vater Adriano war Journalist und Schriftsteller, Mutter Virginia kümmerte sich um den Haushalt und die einheimische Dienerschaft. Diogo begleitete seinen Vater häufig bei seinen Fahrten ins Landesinnere, in dem die portugiesischen Truppen mit harter Hand gegen die aufständischen Einheimischen vorgingen. Denn wie in jedem kolonialisierten Land setzte sich die Bevölkerung auch in Mosambik gegen die Machthaber zur Wehr. Diogo bekommt also bereits in jungen Jahren einen Eindruck über den Rassismus und die Brutalität der portugiesischen Machthaber. In Beira, der Stadt, in der die Santiagos lebten, war von dem Krieg nicht viel zu spüren. Der Alltag wurde von den portugiesischen Bewohnern dominiert, die einheimische Bevölkerung nahm als Angestellte und Dienerschaft an dem portugiesischen Leben teil. Diogos Vater Adriano war ein Idealist. Sein Einfluss als Journalist war gering und ging über die Empörung, die er bei der Beobachtung des Umgangs der portugiesischen Truppen mit den Einheimischen verspürte, selten hinaus.
Nach mehr als 40 Jahren kehrt der Sohn Diogo in seine Heimatstadt Beira zurück. Was er in der Zwischenzeit gemacht hat, bleibt unklar. Nur scheinbar hat er seit Jahren mit psychischen Problemen zu kämpfen, die er durch die Aufarbeitung seiner Kindheit in den Griff bekommen möchte. Gleichzeitig beschäftigt er sich mit den Vorkommnissen der damaligen Zeit, seine Recherche führt ihn an die Orte des damaligen Geschehens. Dabei erhält er Unterstützung von alten Bekannten aus der damaligen Zeit sowie Zeitzeugen. Eine wichtige Hilfe ist ihm eine junge Frau, Liana, die sich als Enkelin eines hochrangigen Beamten der PIDE, der damaligen portugiesischen Geheimpolizei erweist. Es stellt sich heraus, dass Diogos Vater im Blickpunkt der PIDE stand und von ihr ausspioniert wurde, um ihm Machenschaften mit dem mosambikanischen Widerstand nachzuweisen. Liana stellt Diogo unzählige offizielle Dokumente aus dem Bestand ihres Großvaters zur Verfügung.
Diese Dokumente spielen in diesem Roman eine wichtige Rolle. Denn neben den Kapiteln in diesem Buch, die die Gegenwart aus der Ich-Perspektive von Diogo erzählen, bilden die Dokumente des Geheimdienstes, die aus Vernehmungsprotokollen bestehen, sowie Tagebuchauszügen, einen Rückblick auf die Vorkommnisse der Vergangenheit. Die Kapitel dieses Romans wechseln also zwischen Ich-Erzählung und Wiedergabe des Inhalts der Dokumente, die Diogo zur Verfügung gestellt wurden.
Hauptcharaktere dieses Romans sind Diogo und Liana, genauso wie Mitglieder seiner Familie. Daneben gibt es noch unzählige weitere Figuren, die an der Handlung teilhaben, denn der Autor Mia Couto hat seinen Roman mit ungewöhnlich viel Personal ausgestattet. Als Bereicherung habe ich dabei diejenigen Charaktere empfunden, die aus der einheimischen Bevölkerung Mosambiks kommen, denn durch sie gewinnt man einen Eindruck über das afrikanische Land und die Mentalität seiner Bevölkerung – respektive wie der Autor seine Landsleute sieht. Mia Couto hat portugiesische Wurzeln und hat sein bisheriges Leben in Mosambik verbracht. Er ist Mosambikaner durch und durch. Der Zauber, den seine Heimat auf ihn ausübt, findet sich in seiner Beschreibung von Land und Leuten wieder und überträgt sich auf den Leser.
À propos Zauber! „Der Kartograf des Vergessens“ ist ein großartiger Roman, spannend, aber auch mit humorigen Momenten, die der Leser den einheimischen Figuren in diesem Roman zu verdanken hat. Darüber hinaus finden sich viele Situationen, die diesen Roman - in Anlehnung an Traditionen und Aberglauben – mystisch erscheinen lassen. Mia Couto hat dabei einen interessanten Erzählstil, in dem er Magie und Realität nahtlos ineinanderfließen lässt. Die beiden Dimensionen verschwimmen, gehören wie selbstverständlich zusammen. Dieser Stil ist eigenwillig, aber auch genial umgesetzt und konsequent beibehalten. Mia Couto wird nicht umsonst als Autor des Magischen Realismus angesehen.
Rückblickend ist es schwierig, den Roman thematisch einzuordnen. Aufhänger ist sicherlich das Massaker 1973 und die Frage nach den Hintergründen, verknüpft mit der Aufarbeitung von Diogos Kindheit und Jugend. Doch seltsamerweise treten diese Themen in den Hintergrund und man findet sich in einem Roman wieder, in dem es um Mosambik, Kolonialismus, eine Familiengeschichte, Magie, Liebe etc. und im übertragenen Sinne um das Erinnern und Vergessen geht. Die Handlung wird wie bereits beschrieben anhand von Dokumenten, Erinnerungen, Tagebucheinträgen etc. von Charakteren aus der Vergangenheit und Gegenwart erzählt, wobei es Überschneidungen, aber auch Abweichungen gibt. Durch den zeitlichen Abstand von über 40 Jahren stellen sich die damaligen Ereignisse aus heutiger Sicht in einem ganz anderen Licht dar, so dass sich vieles, damals wie heute, anzweifeln lässt.
Fazit
Die Entwicklung der Handlung hat mich überrascht, so dass ich mich am Ende in einem Roman wiederfand, der nicht demjenigen entsprach, den ich begonnen habe. Bei manchen Büchern mag dies irritierend sein, in diesem Fall bin ich begeistert, da der Roman mit dieser Entwicklung facettenreicher und gleichzeitig tiefgründiger wird.
Einen großen Anteil an meiner Begeisterung hat natürlich die Erzählweise von Mia Couto, der mich mit seiner Fähigkeit, Realität und Magie wie selbstverständlich miteinander zu verweben, faszinieren konnte.
© Renie
Mia Couto war mir schon länger im Begriff, ich las vor "Der Kartograf des Vergessens" bereits zwei andere Werke dieses mosambikanischen Autoren. Dennoch habe ich Mosambik bislang kaum literarisch bereist und weiß wenig über die Geschichte des Landes und das düstere Kapitel der Kolonialzeit. Ich war gespannt auf das neueste Werk von Couto. Couto gewann einige literarische Preise, u.a. erhielt er 1991 zusammen mit Ungulani Ba Ka Khosa den Nationalpreis der mosambikanischen Schriftstellervereinigung AEMO. Couto wird eine Nähe zum lateinamerikanischen Magischen Realismus nachgesagt. Wer seine Werke lesen möchte, muss bereits sein, sich auf eine ungewohnte Erzählstimme einzulassen; eine, die beispielsweise von einem anderen Umgang mit Zeit geprägt ist und in der Grenzen zwischen Leben und Tod fließend sind. Lässt man sich auf Coutos neuestes Werk mit seiner besonderen Erzählstimme ein, wird man reich belohnt mit tiefen Einblicken in die koloniale Vergangenheit Mosambiks. Möglicherweise ist das Werk biografisch inspiriert, denn es gibt im Leben Coutos einige Parallelen zu dem des Protagonisten Diego.
Worum geht es also im Kartograf des Vergessens? Es geht im Allgemeinen um eine Vermessung Mosambiks anhand der Kolonialgeschichte und dessen Wunden sowie der Nachwirkungen und Folgen in spätere Generationen hinein. Im Mittelpunkt stehen Diego, Sohn eines berühmten Schrifstellers und Liana, die ihm auf einer Lesung begegnet und ihm Material über seine Familie anbietet. Es geht um Dokumente, die Verhörung von Diegos Vater durch ihren Großvater betreffend. Sie selbst spürt ebenfalls der eigenen Familiengeschichte nach; möchte Klarheit über ihre Mutter gewinnen. Beide begeben sich auf Spurensuche in die Vergangenheit. Äußerlich liegt eine beklemmende Atmosphäre in der Luft: es wurden vermehrt tote schwarze Vögel gefunden und ein Zyklon zieht auf. Doch nach innen hin birgt der Ausflug in die Vergangenheit den beiden Protagonistinnen die Chance, in ihrem Inneren zur Ruhe zu kommen und durch das Erinnern des Vergessenen und die Auseinandersetzung damit, neu in die Zukunft starten zu können...
Ich habe mich gerne auf die ungewohnte Erzählweise eingelassen. Auch wenn ich sicher nicht alles verstanden habe, bin ich doch sehr fasziniert von der Stimme Coutos. Der Ausflug in die mosambikianische Vergangenheit war sehr lehrreich, in Bezug auf die zeitgeschichtlichen Umstände einerseits, aber auch im Hinblick auf Rassismus und dessen Folgen. Einige Textpassagen haben mich zutiefst bewegt, insbesondere dass man sich mit der eigenen Geschichte, eigener Haltung in Rassismusfragen auseinander setzen muss, um selbst ein Mensch sein zu können. Auch wenn es im Roman um Mosambik geht, kann man auch für selbst Erkenntnisse gewinnen - zumal in Deutschland die Bereitschaft zur Auseinandersetzung mit der eigenen Vergangenheit als Kolonialmacht verschwindend gering ist. Es braucht Werke wie Coutos, um Kolonialismus und dessen bis in die Gegenwart hineinreichenden Folgen zu verstehen. Es kann nie genug Werke darüber geben. Coutos neuer Roman ist auch in dieser Hinsicht sehr empfehlenswert. Unbedingt lesen!
Der Dichter Diogo Santiago kehrt in seine Heimatstadt Beira zurück. Alle verehren ihn, doch als er Einsicht erhält in alte Akten der Geheimpolizei, gerät seine Welt ins Wanken. Während der Zyklon Idai drohend über Beira aufzieht, stürzen neue Wahrheiten auf ihn ein. Sein Vater, auch ein Poet, versuchte, im Geheimen die Verbrechen der Kolonialtruppen zu dokumentieren. Sein Cousin, der eines Tages plötzlich verschwand, war nie der, für den ihn alle hielten. Und was steckt hinter der tragischen Legende des schwarzen Jungen und des weißen Mädchens, die den Tod wählten, weil ihre Liebe verboten war? Die junge Frau, mit der sich Diogo rätselhaft verbunden fühlt, scheint Teil dieser Geschichten zu sein. Gemeinsam gehen sie auf die Suche nach Antworten, die unter dem Tosen des hereinbrechenden Sturms alle Gewissheiten vernichten. (Verlagsbeschreibung)
Ich kann mich nicht erinnern, jemals einen Roman gelesen zu haben, der in Mosambik spielt - im Grunde wusste ich vor der Lektüre dieses Romans gar nichts über das Land, außer dass es in Afrika liegt. Mia Couto gewährt einen Einblick in die Geschichte des Landes, wobei schnell klar wird, dass es aufgrund der Unruhen während der geschilderten Zeitspanne mehr als nur eine Wahrheit gibt.
Im Wesentlichen spielt der Roman auf zwei Zeitebenen - in den 70er Jahren des vorigen Jahrhunderts sowie 2019, als die Ankunft des Zyklon Idai bevorstand. 2019 wird aus der Ich-Perspektive des Dichters Diogo Santiago erzählt, der an einer Depression erkrankt ist und nun in seine Heimatstadt Beira zurückkehrt, um nach seinen Wurzeln zu suchen. Ihm zu Ehren findet in Beira eine Gala statt, und die junge Liana Campos führt durch den Abend. Später offenbart sie Santiago, dass sie wie er auf Spurensuche ist. Sie möchte herausfinden, was seinerzeit mit ihrer Mutter geschah, und sie glaubt, dass Diogo und sie sich gegenseitig bei ihrer Suche unterstützen könnten. Dann lässt sie ihm Dokumente zukommen, an die ihr Großvater irgendwie gelangt ist - und diese bringen allmählich Licht ins Dunkel.
„Manche mussten vergessen können, was geschah, um Zukunft zu ermöglichen.“ (S. 7)
In Mosambik, einer ehemaligen portugiesischen Kolonie, herrschte in den 70er Jahren eine große Zeit der Unruhe. Diogos Vater Adriano, ebenfalls Dichter, sollte und wollte all die Gräueltaten dokumentieren, die dort an der Tagesordnung waren. Und in diese Vergangenheit taucht der Leser / die Leserin nun ein, mittels eines Webstücks aus amtlichen Dokumenten, Briefen, Tagebucheinträgen, Verhörprotokollen sowie den Aussagen noch lebender Zeitzeugen - aber auch durchsetzt mit Poesie, Träumen, surrealen Anteilen. Aus all dem entsteht ein Bild, das jedoch ohne feste Konturen bleibt, mit unscharfen Kanten und leeren Flecken, mal in der einen, dann wieder in einer anderen Farbe schillernd. Denn jeder hat seine eigene Wahrheit, seine eigene Möglichkeit, sich die Vergangenheit schön zu reden, Schuld von sich zu weisen, um die Gegenwart erträglicher zu machen. Die Absurdität von Krieg jedwelcher Art trieft hier jedenfalls phasenweise nahezu aus jeder Zeile.
Ein beeindruckender Roman, in der Tat. Couto vermischt hier so viele Erzählebenen, dass man sich im Netz verfängt - Vergangenheit und Gegenwart, viele Versionen von Wahrheit, europäische und afrikanische Denkarten und Traditionen, Realität und Surrealismus, Tod und Leben, Erinnern und Vergessen, Macht und Ohnmacht, Verbrechen und Verzeihen, und immer wieder auch - bezogen auf verschiedene Charaktere: wer wäre ich eigentlich gerne. Mich hat der Roman beeindruckt, verwirrt, fasziniert. Zwischendurch etwas verloren, dann wieder gewonnen.
Ein wirklich sehr eigenwillig komponierter Roman, geschickt arrangiert, soghaft. Hier wird festgehalten, was alles vergessen wude oder vergessen werden sollte. Und doch ist dies ein Roman gegen das Vergessen. Zurecht. Wie sonst sollte es möglich sein, aus den Fehlern der Vergangenheit zu lernen?
© Parden
Der Dichter Diogo Santiago leidet unter einer Depression und kehrt auf Anraten seines Arztes in seine Heimatstadt Beira zurück. Dort begegnet er der jungen Liana Campos, die ihm Unterlagen zukommen lässt, die ihm darüber Aufschluss geben sollen, was sich in den siebziger Jahren in Mosambik abgespielt hat und welche Rolle sein Vater Adriano, der auch ein Dichter war, dabei gespielt hat. Liana selbst möchte herausfinden, was mit ihrer verschwundenen Mutter geschehen ist. Gemeinsamen machen sie sich auf, die Vergangenheit zu ergründen.
Es hat eine wenig gedauert, bis ich mich in die Geschichte hineingefunden habe. Dann aber hat sie mich doch gepackt. Der Autor Mia Couto erzählt diese Geschichte, die auf unterschiedlichen Zeitebenen spielt, auf ungewöhnliche Weise. Es ist eine Sammlung der unterschiedlichsten Quellen wie Tagebucheinträge, Aussagen von Zeitzeuge, amtlichen Dokumenten, Briefen und anderem, das verbunden ist durch die Suche von Diogo und Liana. Besonders gefallen haben mir die Kapitelüberschriften (wie zum Beispiel „Mit den Schatten sprechen“, „Das Schicksal austricksen“, „Ein Wundmal auf der Haut der Zeit“…) Trotz dieser vielen Quellen ergibt sich ein subjektives Bild, dass sich mit jedem neuen Dokument oder Zeugenaussage wieder verändert. Jeder hat halt seine eigene Betrachtungsweise auf das Geschehene und so manches mutet ein wenig mystisch an.
Wir erfahren, wie es damals in Mosambik zugegangen ist. Es war eine Atmosphäre des Misstrauens und schreckliche Grausamkeiten sind geschehen. Um das Massaker von Inhaminga ranken sich die Schicksale von sehr unterschiedlichen Personen, die aber miteinander verknüpft sind. Diogos Vater lebte als Dichter in seiner eigenen Welt. Er war zwar politisch interessiert, spielte aber nicht die Rolle, die Inspektor Oskar Campos vermutet, der Adriano unbedingt überführen will. Auf Veranlassung seiner Frau Virginia versucht Adriano in Inhaminga herauszufinden, ob Sandro noch lebt, der als Soldat in den Krieg gezogen ist. Dabei sieht Adriano all die Grausamkeit, die dort geschieht. Aber auch bei den Nachbarn der Santiagos gibt es Tragisches. Am Ende zeigen sich die Verbindungen zwischen diesen und weiteren Menschen und bringen einige Überraschungen ans Licht. Keiner der Personen hat unbeschadet aus dem damaligen Geschehen herausgefunden. Doch sie wollten vergessen, um weiter leben zu können.
In der Zeit der Befreiungskriege in Mosambik geht es sehr grausam zu. Nachdem man das Land ausgebeutet hat, traut keine Gruppierung der anderen. Bespitzelung, willkürliche Verhaftungen und Folter sind an der Tagesordnung und wieder einmal mischt auch die Kirche in diesem bösen Spiel mit. Manches ist nur schwer zu ertragen.
Es ist ein atmosphärisch dichter, vielschichtiger Roman über das Vergessen und Erinnern.
Ich hatte vor meiner Lektüre noch nie etwas vom Autor Mia Couto gehört. Dabei ist er ein bekannter Schriftsteller was den Bereich Mosambik anbelangt. Er veröffentlichte schon zahlreiche Romane über dieses Land, viele mit Auszeichnung. Er selbst wurde 1955 als Sohn portugiesischer Einwanderer in Beira geboren.
Beira ist auch hier im Roman " Der Kartograf des Vergessens" ein wichtiger Ort, nämlich die Heimatstadt von Diogo Santiago. Diogo reist 2019 nach Beira zurück, geplagt von Depressionen, lässt er sich als berühmter Dichter gebührend feiern. Auf einer Gala ihm zu Ehren lernt er die junge Frau Liana Campos kennen. Sie moderierte die Veranstaltung, und sucht anschließend direkt den Kontakt zu ihm. Er spürt direkt eine gewisse Anziehung zu ihr. Dabei war ihr Großvater es, der Diogos Vater, Adriano, damals verhörte, als ihn die Geheimpolizei PIDE damals verhaftete. Adriano versuchte diese Machenschaften damals zu dokumentieren. Diogo ist hoch erfreut, als Liana ihm ebendiese Abschriften zukommen lässt.
Diogo und Liana unternehmen nun gemeinsam eine Menge, um der alten Geschichte näher zu kommen. Es gibt in beider Leben einige ungelöste Tragödien. Liana will mehr über den Verbleib ihrer Mutter erfahren, und Diogo möchte wissen, wo Sandro abgeblieben ist, mit dem er gemeinsam aufwuchs. Außerdem interessiert es ihn sehr, was sein Vater zur damaligen Zeit herausgefunden hat. Es war eine schwierige Zeit, man durfte nicht offensichtlich gegen dieses Regime sein, denn das konnte ernste Folgen haben.
Die politischen Zusammenhänge aus der Zeit der Befreiungskriege, rund um das Massaker, spielen eine große Rolle, doch die Schicksale der Charaktere sind definitiv der Hauptfokus dieses Romans. Die Aufzeichnungen reichen teilweise 60 Jahre zurück, konzentrieren sich aber eher auf die Zeit vor etwa 40 Jahren. Fakt ist, das am Ende alle Fäden zusammenlaufen und einige Dinge ans Licht kommen mit denen man als Leser nicht gerechnet hat.
Besonders gut gefallen hat mir, dass der Autor die geschichtlichen Fakten perfekt in die Handlung eingebettet hat, und dennoch die Geschichte dieser Menschen in den Vordergrund gestellt hat. Durch die Aufzeichnungen und die Befragungen bekommt man so einen fundierten Einblick was damals geschah, und merkt schnell, das die meisten ihre eigenen Dämonen mit sich herumtrugen. Zum einen besteht dies aus der Schuld, sein eigenes Kind verleugnet zu haben, oder sich für die Sache zum Lügner zu machen.
Ein Roman der mich begeistert hat, es hat mich enorm fasziniert was Menschen, denen schreckliches angetan wurde, vergessen können, und wie wichtig es sein kann sich zu erinnern. Der Kartograf vereint beides zu einer emotionalen Lesereise, die ich jedem empfehlen kann.
„Manche mussten vergessen können, was geschah, um Zukunft zu ermöglichen“ (S. 7).
Der Autor versetzt uns mit seinem Roman in die 70er Jahre, mitten in den Kolonialkrieg in Mozambique und in eine Zeit, die auch im Mutterland Portugal von Terror, Gewalt und Unruhen gezeichnet war.
Der Dichter Diogo Santiago kehrt 2019 nach jahrelanger Abwesenheit in seine Geburtsstadt zurück und begegnet dort Liana Campos. Beide sind durch ihre Vergangenheit und ihre Väter miteinander verbunden und zugleich belastet. Lianas Vater, der damalige Polizeichef, hatte nämlich vor über 40 Jahren Diogos Vater verhaftet und gefoltert. Beide, Diogo und Liana, haben ein gebrochenes Verhältnis zu ihrer eigenen Geschichte. Liana, in einer Pflegefamilie aufgewachsen, sucht ihre Mutter, und Diogo hat seine Vergangenheit vergessen und sich in eine Depression geflüchtet. Liana konfrontiert nun Diogo mit alten Unterlagen der unterschiedlichsten Art und der Aufforderung, „mit den Schatten zu sprechen“, sein Vergessen zu überwinden und ihrer beider Geschichte zu schreiben.
Die Geschichte entfaltet sich auf zwei Zeitebenen, die beide allmählich durch das Personal miteinander verschränkt werden. Der Autor lässt einen enorm großen Figurenreigen auftreten, und jeder Figur wird eine eigene kleine Geschichte zugeordnet. Im Lauf der Geschichte werden aber zügig die Erzählfäden miteinander verknotet, sodass eine äußerst dichte und letztendlich abgerundete Erzählung entsteht.
In Lianas Unterlagen befinden sich Quellen unterschiedlichster Art: Tagebucheinträge, Vernehmungsprotokolle, amtliche Schreiben, private Briefe, Zeugenaussagen und vieles mehr.
Alle Quellen machen die Zustände kurz vor der Unabhängigkeit des Landes deutlich: Massaker der portugiesischen Arme, Geheimpolizei, Rechtsbeugungen, Folterungen, Rassismus, Ausbeutung, Spitzeltätigkeit,, Verrat und Korruption in allen Bereichen, auch der Kirche. Das öffentliche System spiegelt sich in den Familien: auch hier treffen wir auf Mord und Totschlag, auf rassistische Übergriffe, auf Verrat und Treuebruch etc.; der Erzähler spart nicht an dramatischen Details, die ich persönlich in dieser Überfülle nicht gebraucht hätte. Allerdings liest der Leser auch von Loyalität, Liebe und Opferbereitschaft, alles Lichtblicke in einer unruhigen Zeit.
Aus diesen Quellen soll nun, so Lianas Wunsch, Diogo als erfolgreicher Dichter nun ihrer beider Vergangenheit destillieren. Diesen Auftrag erfüllt Diogo allerdings nicht. Er präsentiert lediglich die Quellen und setzt dafür den Leser als „Kartograf des Vergessens“ ein. Dadurch kommt es zunächst zu Fehlschlüssen beim Leser, die erst durch eine andere Quelle zurechtgerückt werden und das Lesen spannend machen.
Diese subjektive Art der Quellendeutung wird verstärkt durch die Tatsache, dass in diesem Roman realistische Wahrnehmungen anders ablaufen, als man es gewohnt ist. Schon die lyrischen Kapitelüberschriften („Eine durchlöcherte Seele“, „Der Abstieg in den Himmel“) machen deutlich, dass Coutos Erzählung einer anderen, nicht-europäischen Erzähl-Logik folgt. Augenfällig wird das in den Berichten schwarzer Zeugen, deren Wahrnehmung durch ihre animistische Art der Welterklärung geprägt ist. Dadurch entstehen eigenartig schwebende, fast traumhafte und ungemein ausdrucksstarke Bilder, die sich niemals nur auf ein singuläres Ereignis beziehen, sondern immer Diesseits und Jenseits miteinander in Verbindung setzen.
Insgesamt ein erzählerisch dichter Ausflug mit realen und surrealen Elementen in die Zeit der Kolonialkriege, bei dem viele Schattierungen von Rassismus deutlich werden.
4,5/5*
Diogo kehrt nach langer Zeit wieder in seine Heimat zurück und das ist Beira, eine Küstenstadt in Mosambik, wo er seine Kindheit verbracht hat. Nun lebt er ein Leben als Autor in Portugal und fühlt sich ausgebrannt und erschöpft. Sein Arzt rät ihm zu einer Auszeit und die verbringt er nach vielen Jahren an den Stätten seiner Kindheit. In Mosambik angekommen wird ihm eine Kiste mit Dokumenten zugespielt, die ihm einiges an Material über seine Familie und seine Geschichte in die Hände gibt. Einige Rätsel werden dabei aufgedeckt und historisch beleuchtet. Was zum Beispiel ist mit seinem Halbbruder Sandro geschehen? Oder mit Almalinda, der Mutter einer Freundin? Und welchen Anteil hatte sein Vater und andere Vertraute an deren Verschwinden? Die Schicksale der Verschwundenen sind alle irgendwie mit dem Ort Inhaminga im Binnenland Mosambiks verbunden, in dem die Kämpfe um die Unabhängigkeit Mosambiks in den 70er Jahren des 20. Jhrts. sich besonders dramatisch gestalteten. Mit der Lektüre der zugespielten Dokumente taucht Diogo wieder ein in diese dramatische Zeit und in dramatische Reisen des Vaters in diese Gegend auf der Suche nach Spuren von Sandro.
Diese Suche ist sehr vielgestaltig und bleibt nicht ohne Rätsel. Wie und wann ist Sandro, wie und wann ist Sandro tatsächlich gestorben. Glaubt man ihn oder sie gerade als Leichnam vorgefunden zu haben, tauchen sie wieder vollkommen lebendig auf. Vieles ist rätselhaft und trägt einen Hauch von Mystik und Magie und trägt so eine deutliche Spur von außereuropäischer Literatur, in der eben anders erzählt wird als in linearen und vermeintlich logischen Abfolgen. Mia Couto hat sich so eine deutliche Spur von Afrika in seiner Schreibweise bewahrt. Er fordert den europäischen Leser so sehr stark heraus, sich auf den Erzählfaden und -rhythmus einzulassen. Aber es lohnt, sich die Mühe zu machen, denn hinter all diesen magischen Figuren und Ereignissen steckt ein wirklich interessanter Einblick in afrikanische Kolonialgeschichte, die ja fatalerweise eben auch europäische Geschichte ist. Ein Buch, das Mosambik eine Stimme und einen Platz in der Literatur gibt, den es sich sicher verdient hat. Ich gebe dafür gern 4 dicke Punkte.
„Wie gern würde ich vor den Erinnerungen fliehen, aber jetzt liegt die Vergangenheit vor mir ausgebreitet auf meinem Bett.“ (Zitat Seite 16)
Inhalt
Der Dichter und Literaturprofessor Diogo Santiago kehrt nach vielen Jahren in seine Geburtsstadt Beira zurück. Liana Campos moderiert die Veranstaltung, die zu seinen Ehren stattfindet. Später, als er schon wieder in seinem Hotelzimmer ist, erhält er einen Karton voller alter Dokumente, Fotografien und Notizblätter. Die Unterlagen sind von Liana Campos, ihr Großvater Óscar Campos war jener Inspektor der PIDE, der Diogos Vater, den Dichter Adriano Santiago, vor etwa vierzig Jahren verhaftet hatte. „Es ist ungerecht, eine Vergangenheit zu erben. Als würde uns die Zeit an den Füßen festgebunden.“ (Zitat Seite 17) Liana, bei Pflegeeltern aufgewachsen, ist auf der Suche nach ihrer Mutter, sie braucht Geschichten, um die Lücken in ihrer Vergangenheit zu füllen. Auch Diogo will sich seinen Erinnerungen stellen, hat gleichzeitig Angst davor. „Mich lähmt die Befürchtung, meine Vergangenheit nicht wiederzufinden, vor allem aber die Vorstellung, eine Stadt zu erleben, die ich letztlich nicht kenne.“ (Zitat Seite 21) Gemeinsam beginnen Diogo und Liana nach Antworten zu suchen, doch zunächst tauchen viele neue Fragen auf.
Thema und Genre
Dieser Roman spielt in Mosambik, in der Zeit der Befreiungskriege und aktuell im Jahr 2019. Themen sind die Geschichte Mosambiks als portugiesische Kolonie, vor allem jedoch die Schicksale der Menschen und Familiengeheimnisse. Es geht um das Erinnern und das Vergessen der Vergangenheit.
Charaktere
Mia Couto unterstreicht seine Geschichte durch unterschiedliche, in ihren Konflikten, Gefühlen, Beweggründen und Handlungen authentische Figuren, welche die Handlung mit Leben füllen.
Erzählform und Sprache
Die aktuelle Handlung umfasst einen knappen Zeitraum zwischen dem sechsten und vierzehnten März 2019 und hier ist Diogo der Ich-Erzähler, dadurch erhalten wir auch Einblick in seine persönlichen Erinnerungen. Die aktuelle Handlung wird durch Erzählstränge in Form von Dokumenten, Aufzeichnungen und Schilderungen von wichtigen Eeignissen ergänzt, die bis ins Jahr 1951 zurückreichen, hauptsächlich jedoch im Jahr 1973 stattfanden. Die einander abwechselnden Kapitel fügen sich im Lauf der Geschichte zusammen, manchmal als Antworten auf Vermutungen, dann wieder mit überraschenden neuen Fragen und Möglichkeiten. Diese Art des Erzählens, die Varianten der Erzählform und Sprache ergeben eine eindrückliche, packende Geschichte.
Fazit
Ein Roman für interessante, spannende Lesestunden, der durch die Poesie der Sprache, die Vielfalt der Erzählformen und Figuren und die überaus gekonnt sich langsam aus vielen Einzelteilen verknüpfenden Geschichten überzeugt.
Auf der Suche nach (der) Wahrheit
„Poeten sind Propheten. Mein Mann ist ein vergesslicher Prophet. Erst hat er die Zeit vergessen. Dann hat die Zukunft ihn vergessen.“ Virgínia Santiago (S. 245)
Mia Couto – ein Name, der mir bisher nichts sagte. Nun, das wird sich nach dem Roman „Der Kartograf des Vergessens“ (erschienen im Unionsverlag in der Übersetzung von Karin von Schweder-Schreiner) wohl ändern (müssen), hat er mich doch nachhaltig beeindruckt.
Dabei gehört auch „Der Kartograf des Vergessens“ zu den Romanen in diesem Jahr, zu denen ich erst sehr spät Zugang gefunden habe, da die Geschichte weit komplexer ist, als es zunächst den Anschein hat.
Der Ich-Erzähler Diogo Santiago kehrt in den Ort seiner Jugend zurück – in den mosambikanischen Ort Beira (dort wuchs auch Mia Couto auf). In der Vorbemerkung des Romans heißt es
„Dies ist die Geschichte eines arglosen portugiesischen Dichters und Journalisten, der Beweise für ein Massaker erhält, das die portugiesischen Truppen 1973 in Mosambik verübt haben. Dieser gute arglose Mann war mein Vater. […] In manchen weißen Vierteln verfielen die Menschen dem Wahnsinn. Damals wurde mir klar, dass Krankheit mitunter das einzige Heilmittel ist. Manche mussten vergessen können, was geschah, um Zukunft zu ermöglichen. Für andere war das, was geschah, schon die Zukunft. Diese fiktive Erzählung ist durch reale Personen und Ereignisse inspiriert. […]“ (S. 7)
Das genannte Massaker hat Einzug in den Roman gehalten und gehört inhaltlich zu den nachhaltigsten Szenen des gesamten Romans – an der ein oder anderen Stelle musste ich ob der geschilderten Grausamkeiten die Lektüre kurz unterbrechen. Auch an anderer (inhaltlicher) Stelle konnte ich das Buch nicht am Stück lesen, brauchte immer wieder eine Pause. Das lag jetzt nicht nur an der Geschichte selbst, sondern auch an dem allgemeinen Stil von Mia Couto, dem auch eine schriftstellerische Nähe zum sogenannten „magischen Realismus“ nachgesagt wird. Nun, das kann ich nach Ende der Lektüre insoweit bestätigen, als dass sich märchenhaft-mystisches mit knallharter Realität fließend die Klinke in die Hand gibt und man als Leser:in genau aufpassen muss, wo und wie die Grenzen verlaufen. (Literarische) Vorlieben für Gabriel Maria Marquez und ähnliche Autoren können also nicht schaden, wenn man sich auf Mia Couto einlässt bzw. einlassen will.
Neben der Aufarbeitung des erwähnten Massakers lernen die Leser:innen auch viel über die mosambikanische Kultur; das gelingt Couto hervorragend durch die „Einarbeitung“ von einheimischen Charakteren in die Handlung, die jeweils verschiedene Eigenschaften und Traditionen versinnbildlichen.
Darüber hinaus gibt es Ausflüge in die Kolonialgeschichte Mosambiks, die durch (fiktive) Protokolle, Briefe, Tagebuchaufzeichnungen etc. dargestellt werden und im Wechsel mit den Gegenwartsabschnitten stehen. Letztlich erhält die geneigte Leserschaft viel Inhalt für gut angelegtes Geld.
Wer also einen gut 300-seitigen Roman mit Anspruch lesen will, der trotz aller Ernsthaftigkeit aber auch humoriges zu bieten hat, dem empfehle ich eindringlich die Lektüre dieses Romans, der von mir 5 verdiente Sterne bekommt!
©kingofmusic