Der Schlafwagendiener
Bahn fahren ist schön. Oder? In gewisser Weise ja *g*. Aber das Bahn fahren auch anstrengend sein kann, beweist Suzette Mayr mit ihrem 6. Roman „Der Schlafwagendiener“, der von Anne Emmert aus dem Englischen übersetzt wurde, 2023 im Wagenbach-Verlag erschien und zudem bereits 2022 in Kanada mit dem renommiertesten kanadischen Literaturpreis, dem Giller Prize, ausgezeichnet wurde.
Denn natürlich ist die Geschichte um den Schwarzen Baxter, der eigentlich Zahnarzt werden und sich mit dem Job als Schlafwagendiener das Studium finanzieren will, keine romantisierende Ode an die (vergessenen) Schlafwagendiener dieser Welt. Vielmehr prangert die Autorin mit der auf Tatsachen beruhenden Geschichte die rassistischen und (im Falle von Baxter) auch homophoben Zustände in Kanada 1929 an.
Suzette Mayr schwingt aber nicht die übergroße Moralkeule, sondern verpackt ihre Kritik in zum Teil wunderbar poetisch, manchmal etwas schräge Sprachbilder ohne dabei „kitschig“ zu werden.
„Der Tag beginnt. Die neugeborene Sonne bricht durch die Bäume und sticht Baxter geradewegs in die brennenden roten Augen. Er ist ein Schlafwagendiener. Ein schläfriger Wagendiener. Schläfriger Diener im Wagen. Wagen schläfrig. Diener. Schlaf.“ (S. 168)
Als Leser:in hat man Baxter von Anfang an ins Herz geschlossen, bewundert die stoische Ruhe, mit der er die Erniedrigungen der weißen Wohlstandsgesellschaft über sich ergehen lässt, lacht und lächelt über Baxters Typisierungen der Passagiere anhand des Gebisses und wird immer tiefer in die Welt der Halluzinationen gezogen.
Richtig gelesen: die Geschichte hat eine zweite, nicht minder faszinierende Ebene. Während der Fahrt von Montreal nach Vancouver wird der völlig übermüdete Baxter immer wieder von Halluzinationen heimgesucht, die sich aber genial zwischen die Absurditäten der Passagiere „einfügen“, so dass man als Leser:in aufpassen muss, nicht zwischen Realität und Halluzination stecken und äh, auf der Strecke zu bleiben.
Ob Baxter es schafft, sein Studium zu finanzieren? Das wird hier natürlich nicht verraten *g*.
Alles in Allem ist „Der Schlafwagendiener“ ein überaus lesenswerter Roman, der mit einem tollen Cover (ich musste beim Blick darauf sofort an „Singing in the rain“ von Gene Kelly denken *g*) ebenso punktet wie mit der Geschichte an sich und dem ich deshalb 4 swingende Sterne verpasse.
©kingofmusic
"Der Schlafwagendiener" ist der bereits 6. Roman der kanadischen Autorin Suzette Mayr. Er wurde mit dem bedeutendsten kanadischen Literaturpreis ausgezeichnet: dem Giller Prize. Dem Wagenbach-Verlag gebührt der Verdienst, die Autorin der deutschen Leserschaft zugänglich gemacht zu haben, und ich hoffe, es folgen weitere Übersetzungen ihrer Werke.
Kernthematik des Romans ist eine Gesellschafts- und Rassismuskritik vom Feinsten. Mayr erzählt die Geschichte von Baxter, der davon träumt, Zahnarzt zu werden. Allerdings hat die Sache einen Haken, denn er wurde mit der falschen Hautfarbe geboren und daher systematisch benachteiligt. Träumen darf er freilich, aber das Ausleben von Träumen ist den 'Weißen' vorbehalten. So ist die gesellschaftliche Struktur im Jahr 1929, nicht nur, aber auch in Kanada.
So schnell jedoch will Baxter nicht aufgeben. Um das gewünschte Fach studieren zu können, jobbt er als Schlafwagendiener und nimmt dafür allerhand in Kauf. Schlafwagendiener stehen in der gesellschaftlichen Hierarchie nämlich ganz weit unten. Während seiner Tätigkeit muss er namenlos bleiben und wird von der weißen Klientel auf seine Funktion reduziert. Diese besteht darin, ihnen alle Wünsche von den Lippen abzulesen und ihnen gehorsam zu dienen. Für sie ist er nur der "Boy" im besten Fall "George".
Baxter, der zudem aufgrund seiner homosexuellen Vorlieben permanent Gefahr läuft, nicht nur seinen Job zu verlieren, sondern auch im Gefängnis zu landen, gibt sein Bestes. Denn eines ist gewiss schlimmer als Schlafwagendiener zu sein: den Job infolge von Regelverletzungen, die durch ein strenges Sanktionssystem geregelt sind, zu verlieren.
Als der ohnehin überarbeitete Baxter ohne Erholungspause eine weitere viertägige Schlagwagenfienerschaft auf dem Weg von Montréal nach Vancouver übernimmt, stößt er an seine Grenzen. Völlig ausgebrannt, übermüdet und ausgehungert beginnt er zu halluzinieren und die zunehmend angespannte weiße Schar der Fahrgäste dreht zunehmend am Rad...
Der Schlafwagendiener ist ein Buch, das ich sehr gerne las. Die Art der Gesellschafts- und Rassismuskritik ist in dieser Form orginell, ebenso wie die Konstruktionsweise der Geschichte: Suzette Mayr parallelisiert das Geschehen mit dem Fahrttempo. So wechseln sehr rasante Passagen solche des Stillstands ab, als der Zug vor einer Schlammlawine zum Stillstand kommt. Das finde ich sehr gelungen. Mir hat auch sehr gefallen, wie Baxter seine Klientel anhand des Zustandes der Zähne wahrnimmt und sie typisiert. Man solidarisiert sich schnell mit ihm, zumal das Gehabe der 'Weißen' sehr herablassend ist. Einzige Ausnahme hiervon ist Esme, die für herzerwärmende Momente sorgt.
Am Ende als Baxter zunehmend halluziniert habe ich mich zum Teil etwas in der Geschichte verloren. Dennoch habe ich die Lektüre genossen und empfehle den Roman gerne weiter.
REZENSION – Völlig zu Recht wurde der im August beim Wagenbach Verlag veröffentlichte Roman „Der Schlafwagendiener“ bereits in Kanada mit dem Giller Prize ausgezeichnet, dem renommiertesten Literaturpreis des Landes: Auf engstem Raum, in einem einzigen Schlafwagen eines Luxuszuges während einer viertägigen Fahrt quer durch Kanada von Montreal im Osten nach Vancouver im Westen, zeichnet Suzette Mayr (56) auf nur 240 Seiten ein in seiner Komplexität gelungenes Sittenbild des wohlhabenden kanadischen Bürgertums gegen Ende der 1920er Jahre in all seiner Oberflächlichkeit und Überheblichkeit – und dies aus Sicht des jungen, schwarzen Schlafwagendieners R. T. Baxter, wegen seiner Hautfarbe und Homosexualität gleich doppelt stigmatisiert, missachtet und gefährdet.
Noch vom vorigen Einsatz übermüdet, muss Baxter außerplanmäßig die Fahrt nach Vancouver als Schlafwagendiener übernehmen, muss während der kommenden vier Tage und Nächte jeden Wunsch seiner reichen weißen Fahrgäste ausführen, darf sich nicht den kleinsten Fehler erlauben. Denn Gründe für sofortige Entlassung gibt es viele: Illoyalität, Unehrlichkeit, Unmoral, Unbotmäßigkeit, Unfähigkeit, grobe Nachlässigkeit, Unaufrichtigkeit – ausnahmslos nicht überprüfbare, subjektive Kriterien, bei denen Baxter den Fahrgästen und ihren Launen ausgeliefert ist.
Baxter arbeitet und lächelt unablässig, auch wenn es ihm, der intellektuell über manchem Fahrgast steht, gelegentlich schwerfällt. Er braucht doch jeden Dollar, um sein Studium fortsetzen zu können. Baxter träumt davon, Zahnarzt zu werden. „Er erzählt niemandem, dass er die Universität zwei Jahre lang besucht und wieder verlassen hat. Wie es aussieht, um in Zügen für Weiße Klosetts zu putzen.“ Als schwarzer Schlafwagendiener zählt er bei den weißen Fahrgästen nicht. Man nennt ihn nicht bei seinem richtigen Namen, sondern nur „Diener“ oder „George“. Nicht einmal die Damen im Waschraum fühlen sich durch ihn gestört: „Er ist nicht mehr als ein Möbelstück.“ Baxter steht am untersten Ende der Gesellschaft. Es ist fast, als existiere er nicht. Würde seine Homosexualität bekannt, käme er sofort ins Gefängnis.
Nachdem der Zug von einer Schlammlawine aufgehalten wurde, verdichtet sich die Spannung zwischen den ungeduldiger werdenden Fahrgästen. Nur Baxter, der als Schlafwagendiener auch nachts kaum schlafen durfte, darf sich seine totale Erschöpfung nicht anmerken lassen. Doch gelegentlich fällt er in Sekundenschlaf: „Er reibt sich immer wieder die Augen, die rosa und feucht sind wie piepsende Vogelmünder und wenigstens ein einziges Würmchen Schlaf ergattern wollen. … Er ist ein Schlafwagendiener. Ein schläfriger Wagendiener. Schläfriger Diener im Wagen. Wagen schläfrig. Diener. Schlaf.“
Baxter hält sich an die Empfehlung seines schwarzen Ausbilders: „Setz dieses besondere Lächeln auf, … aber gib nicht den Onkel Tom. Nicht grinsen. Singe, tanze, mache Zaubertricks, wenn sie dich darum bitten. Vielleicht auch noch was anderes, falls es genug Geld bringt, aber spiel nicht den Onkel Tom.“ Als man Baxter schließlich nur noch „Boy“ nennt, kann er seine Verachtung den Weißen gegenüber, kaum noch verbergen: „Boy. Baxter hebt mühsam die erschöpften Augenlider und nimmt die beiden in den Blick, ein höhnisches Grinsen glitscht über sein Gesicht wie ein Krake aus der Tiefsee, in seiner Brust löst der Hass eine tektonische Verschiebung aus.“
Suzette Mayr offenbart in einem beeindruckenden Kammerspiel – der Roman ließe sich tatsächlich sehr gut auf die Bühne bringen – das Kastendenken jener Zeit zwischen Weiß und Schwarz, die damaligen Gesellschaftsunterschiede und Vorurteile sowie die sich daraus ergebenden Konflikte, die auch nach hundert Jahren wenn auch in abgeschwächtem Maß noch heute nicht nur in Kanada zu entdecken sind. Die Autorin hätte vielleicht den ersten Teil etwas verdichten und dadurch mehr Tempo in die Erzählung bringen sollen, das erst im zweiten Teil stärker anzieht. Dennoch gilt: Mayrs in kurzen, wechselnden Szenen treffend charakterisierten Figuren faszinieren ebenso, wie der Roman insgesamt – nicht zuletzt dank seiner Übersetzerin Anne Emmert – auch sprachlich überzeugt: „Die Schläfrigkeit trieft an Baxter hinunter, sammelt sich in einer Pfütze, bildet Treibsand, in dem seine Füße immer wieder steckenbleiben, lässt ihn weiße Flecken sehen, wo keine sind.“
Gut bewacht und behütet fühlt sich 1929 die betuchte weiße kanadische Gesellschaft auf der 4000 Kilometer langen Reise mit dem Trans Canada Express von Montreal nach Vancouver. Schließlich haben sie für jeglichen Komfort auf der 3 Tage und 4 Nächte dauernden Fahrt bezahlt und dürfen sich auf die widerspruchslose Erfüllung ihrer Wünsche beim Schlafwagendiener verlassen.
Baxter ist einer dieser Schlafwagendiener, schwarz und ohne Rechte. Er hat gerade einen anstrengenden Dienst hinter sich, als nach einem Personalersatz für den Stolz der der Kanadischen Zugflotte gesucht wird. Baxter tritt auch diese Schicht an, will er doch so schnell wie möglich das Geld für die Weiterführung seines Zahnmedizinstudiums beisammen haben und diese Fahrt verspricht viel Trinkgeld.
Völlig übermüdet erledigt er schon vor Abfahrt des Zuges seine Pflichten, Müll aus den Polsterecken fischen, Handtücher und Bettwäsche zählen (Fehlbestände werden ihm vom Lohn abgezogen), Betten beziehen, die Bestände im Bad auffüllen und schließlich mit blank polierten Uniformknöpfen am Treppchen bereit stehen und den Passagieren mit einem freundlichen Lächeln beim Einsteigen behilflich sein.
Mit scharfer Beobachtungsgabe vergibt er den Gästen Spitznamen, die ihm eine hilfreiche Gedächtnisstütze bei der Einschätzung von Kalamitäten sind. Denn Beschwerden über ihn, werden mit Punktabzug geahndet und schnell ist man seinen Job los. Baxter muss auf besonders leisen Sohlen treten, denn er ist homosexuell, was zu dieser Zeit noch mit Gefängnisstrafe gemaßregelt wird.
Das Publikum ist gemischt und anstrengend. Mutter und Tochter auf dem Weg zur Verlobung, eine Großmutter mit ihrer Enkelin, die gerade die Mutter verloren hat, ein Ehepaar, das sich nicht grün zu sein scheint, der Herr, der in seinem Abteil nicht gestört werden will, aber nächtlichen Damenbesuch erhält und zu allem Überfluss eine Wahrsagerin die mit ihren spirituellen Fähigkeiten alle und jeden aus der Reserve locken will.
Die Lage spitzt sich zu, als Baxter vor lauter Übermüdung immer mehr Halluzinationen bekommt, die im Bad gefundene Postkarte zweier kopulierender Herren, nicht entsorgt, sondern bei sich behält und der Zug in den Rockies an einer Kreuzung durch einen Erdrutsch auf den Gleisen zum Stillstand kommt. Die Geduldsfäden aller Beteiligten sind bis zum Anschlag gespannt... denn nur die Gerechten schlafen einen tiefen Schlaf.
Allgemeingültigkeiten werden wohltuend aufgelöst. Baxter schaut seinen Peinigern nicht in die Augen, er schaut ihnen aufs Maul, denn dort offenbaren sich ihm seine zukünftigen Betätigungsfelder in Form von Überbiss und Zahnstellungen, wenn er denn den Wettlauf zwischen Trinkgeld und fristloser Entlassung gewinnt. Seine schlaflosen Trugbilder mischen sich nahtlos ins reale Geschehen und haben eine hypnotischen Wirkung auf die geneigte Leserin, die sich wirklich über eine gelungene Übersetzung aus dem Englischen von Anne Emmert freut.
Diese Zugfahrt war eine spannende, erhellende, schockierende, aber vor allem eine zutiefst lesenswerte Reise für mich. Allein schon die Umschlaggestaltung eines traumwandlerischen Schwarzen im rosafarbenen Anzug mit Stohhut und Stock, dem ein Frosch aus der Brusttasche kriecht und ein scharfgeschnittener Hase, Igel und Eichhörnchen in der verwaschenen Landschaft zur Seite stehen, lässt das Ziel unseres Protagonisten erahnen, nämlich endlich der Demütigung und Armut zu entkommen, entrückt von jeglicher Wirklichkeit aus Rassismus und Homophobie. Das altrosa und petrolfarbene Innenleben erinnert an die "gute" alte Zeit, als die Züge noch wie Hotels ausgestattet waren. Eine Zeichnung eines Waggons veranschaulicht dies, aber auch der Abdruck einer Stellenazeige "Want a job?" verdeutlicht die rassistische Grundlage für den Luxus, den sich die Reichen erkaufen. Hier hat sich der Wagenbach Verlag in seiner Ausstattung nicht lumpen lassen. Die Sprache Mayrs, mit ihren außergewöhnlichen Bildern, die sowohl treffend, als auch weitgreifend Dinge miteinander verbindet, dessen Bedeutung man in diesem Kontext noch nicht gehört hat, so z. Bsp. die Länge der Reise mit den Tentakeln der Portugiesischen Galeere zu vergleichen, waren ein wahrer Lesegenuss.
Ein vollkommen zu recht ausgezeichneter Roman einer kreativen und einfühlsamen Autorin, von der ich jetzt natürlich mehr lesen möchte.
Der Zug, auf dem Schlafwagendiener Baxter Dienst tut, fährt von Montreal nach Vancouver. Planmäßig soll die Tour vier Tage dauern: „In achtundachtzig Stunden und fünf Minuten wird Baxter am anderen Ende des Landes ankommen. Diese Tour nach Westen ist so lang wie die Tentakel einer Portugiesischen Galeere lang und schmerzhaft.“ (S. 47) Die Tätigkeit ist extrem anstrengend. Die anspruchsvollen weißen Passagiere erwarten Bedienung und Service rund um die Uhr. Das Schlafwagenpersonal ist ständig gefordert. Geordnete Ruhezeiten gibt es nicht, es wird mehr oder weniger durchgearbeitet, ab und zu wechselt man sich mit Kollegen ab, um wenigstens ein paar Minuten Schlaf zu finden – bis zum nächsten Klingeln eines Passagiers.
Als Leser ist man sehr schnell an diesem überaus interessanten Schauplatz angekommen. Sehr unmittelbar lernt man aus der personalen Sicht Baxters die verschiedenen Fahrgäste kennen. Sie sind allesamt weiß und reich, sie benehmen sich hochmütig und herablassend dem schwarzen Personal gegenüber. Niemand spricht Baxter mit seinem Namen an. „Diener“, „Boy“ oder „George“ sind die üblichen Anreden, „Bitte“ oder „Danke“ sagt niemand. Doch daran hat sich Baxter längst gewöhnt. Für ihn ist diese Arbeit nur Mittel zum Zweck. Er studiert nämlich Zahnmedizin. Um seinen Abschluss zu machen, fehlen ihm noch einige Hundert Dollar, die er sich mit diesem Knochenjob verdienen will. Der Lohn ist schlecht, die Strafen für angebliches Fehlverhalten drakonisch, die Verpflegung miserabel. Man bemüht sich um die sonderbarsten Wünsche der Gäste in der Hoffnung auf ein einträgliches Trinkgeld. Besonders pikant: Baxter ist homosexuell, eine Tatsache, die Ende der 1920er Jahre noch unter Strafe steht und die er versuchen muss geheim zu halten.
Suzette Mayr hat ein ungemein vielseitiges Figurenensemble auf die Reise geschickt, deren Charaktere uns Baxter durch seine Schilderungen nahe bringt. Unfreiwillig bekommt er alle ihre Gespräche mit, beim Aufräumen der Kabine erfährt er manches delikate Geheimnis. Mitunter bekommt er sexuelle Avancen, die sein Budget aufbessern. Pausenlos erfüllt Baxter Bedürfnisse, gibt Orientierung, bringt Speisen und Getränke, hilft mit der Trittleiter, putzt Schuhe oder beseitigt unterschiedliche Körpersäfte - Diskretion Ehrensache.
Diese Ruhelosigkeit spiegelt sich eindrucksvoll in der Sprache wider: Kurze, aufeinanderfolgende Sätze prasseln auf den Leser ein wie das Rattern des Zuges. Zunehmend wird auch der Schlafmangel für Baxter zum Problem. Er kann nicht mehr klar sehen, Sinneswahrnehmungen verschwimmen bis hin zu visuellen Erscheinungen und Halluzinationen. „Die Schläfrigkeit trieft an Baxter hinunter, sammelt sich in einer Pfütze, bildet Treibsand, in dem seine Füße immer wieder steckenbleiben, lässt ihn Flecken sehen, so keine sind.“ (S.137) Diese fantasievolle Wortakrobatik vermittelt eine faszinierende Unmittelbarkeit. Der Text gibt die enge, hektische und von Angst geprägte Atmosphäre wunderbar wieder.
Der Roman wird latent vom weißen Rassismus durchzogen, man ist immer wieder aufs Neue erschüttert, wie subtil der schwarze Schlafwagendiener gegängelt und diskriminiert wird und wie ungerecht das geltende Regelwerk ist. Baxter lässt sich davon nicht brechen, zu deutlich hat er sein Studium als Ziel vor Augen, zu sehr ist er souveräner Profi dank seines ehemaligen Lehrmeisters Edwin, in den er auch verliebt war. Baxter ist ein wahrer Sympathieträger, dem man gerne auf seinen Wegen folgt. Dass er das Herz am richtigen Fleck hat, spürt man spätestens, als er die verwaiste kleine Esme auf dem Rücken durch die Nacht trägt, weil sie nur bei ihm Geborgenheit und Ruhe finden kann.
Es sind großartig ausgeleuchtete Szenen und Geschichten, die sich in diesem Zug abspielen. Sie haben eine weite Spanne zwischen traurig und skurril, zwischen humorvoll und tragisch. Mayr hat sorgfältig über Zeit und Ort recherchiert, wie die umfangreiche Literaturliste im Anhang belegt, und sie bringt ihren Figuren große Empathie entgegen. Man solidarisiert sich mit dem Protagonisten, man fühlt, was er fühlt. Das zu erreichen erfordert schriftstellerisches Geschick.
Erst als der Zug durch eine Schlammlawine ausgebremst wird, hat sich für mich der Schwung des Romans ein wenig verloren. Da scheinen sich manche Erlebnisse zu wiederholen. Die Passagiere schlagen vor lauter Langeweile Kapriolen, indem sie zum Beispiel in einer Séance Kontakt mit den Toten aufnehmen. Baxter muss überspannte Weiße beruhigen, stets dieselben Tätigkeiten unter massivem Schlafmangel ausführen - seine körperliche Konstitution nimmt beängstigend dabei ab… Vielleicht ist aber genau das als Parallele zum Stillstand des Zuges dramaturgisch gewollt, weil Mayr diese Ruhepause brauchte, um zum Ende hin wieder tüchtig an Fahrt zuzulegen. Zuzutrauen wäre es ihr!
Der Zug kommt mit großer Verspätung an seinem Ziel an und Suzette Mayr gelingt es, ihren Roman zu einem schlüssigen, gut austarierten Ende zu bringen, das für manchen Passagier neue Erkenntnisse und Überraschungen bereithält. Mir hat der Roman sehr gut gefallen. Zu erwähnen sind die flüssige Übersetzung von Anne Emmert sowie die originelle Covergestaltung des Wagenbach Verlages. Ich freue mich schon auf weitere Werke der Autorin.
Ich wünsche dem Roman ein breites Leserpublikum. Große Leseempfehlung!
Mein Lese-Eindruck:
Die Autorin versetzt ihre Leser in das Ende der 20er Jahre, in die Zeit nach der Großen Depression, in der jeder froh über einen Arbeitsplatz war. Sie wählt ein originelles Setting, für das sich u. a. auch schon Agatha Christie entschieden hatte: einen Zug mit einer notgedrungen übersichtlichen und gleichbleibenden Anzahl an Personen.
Und so begibt sich der Leser auf eine eigentlich wunderschöne Zugfahrt quer durch Kanada von Montreal nach Vancouver, 4000 km durch riesige Naturschutzparks und die Rocky Mountains hindurch.
Von diesen Traumlandschaften hat der Protagonist des Buches allerdings wenig, und da der Roman konsequent aus seiner Sicht erzählt wird, hat auch der Leser nichts davon.
Die Autorin stellt mit dem schwarzen Protagonisten Baxter den Vertreter eines Berufs vor, der offensichtlich nur von Schwarzen ausgeübt wird: er ist „Porter“, ein Diener in einem Zugabteil. Baxter ist ehrgeizig und will sein angefangenes Studium der Zahnmedizin fortsetzen, und dazu braucht er Geld.
Es bleibt ihm nichts anderes übrig, als sich der ständigen Diskriminierung durch die reichen weißen Passagiere und auch seiner Vorgesetzten auszusetzen. Sein Leben im Zug ist geprägt von Herabwürdigung, Schikane, von unverhohlenem Rassismus, von Arbeitsüberlastung und der ständigen Furcht vor einer Entlassung. Dazu kommt seine große Angst, dass seine Homosexualität entdeckt und er, wie so viele, im Gefängnis landen wird.
Der Leser erlebt die Passagiere und Baxters Tätigkeit ausschließlich aus dessen Sicht. Baxter sieht sich selber als „klickender Roboter“ in einem „Bettenpalast auf Rädern“. Er ist übermüdet, ausgehungert, er halluziniert, er macht sich Sorgen um einen ehemaligen Geliebten, er ist abhängig von den Launen der Gäste, die er lächelnd und immer höflich ertragen muss, und hat dabei immer eventuelle Trinkgelder und sein Konto im Kopf. Darüber hinaus ist er der Willkür seiner Vorgesetzten ausgesetzt, von denen er kein Verständnis erwarten kann.
Im Laufe der Zugfahrt bildet sich aus den zufällig zusammengewürfelten Einzelreisenden eine Gruppe, was sich sinnfällig in einer Seance zeigt, die wie ein Katalysator Verborgenes, Peinliches und Überraschendes ans Licht befördert, was für Baxter wiederum wegen seiner Homosexualität eine besondere Anspannung bedeutet.
Die Sprache gibt die Unruhe und große Belastung des Protagonisten wieder: kurze Sätze, viele Reihungen, immer wieder Ellipsen. Das alles unterstützt natürlich die Erzählperspektive und macht sie authentisch, aber macht auch das Lesen unruhig. Die zu oft identischen Fragen und Aufforderungen nerven nicht nur Baxter, sondern schließlich auch den Leser, der sich vor allem in der Mitte des Buches eine energische Kürzung gewünscht hätte. Dann wieder freut sich der Leser über ausdrucksstarke Bilder wie z. B. "Die Schläfrigkeit trieft an Baxter hinunter, sammelt sich in einer Pfütze, bildet Treibsand, in dem seine Füße immer wieder steckenbleiben, lässt ihn Flecken sehen, wo keine sind."
„Der Schlafwagendiener“ ist der 2. Roman der kanadischen Autorin, der ins Deutsche übersetzt wurde. Er wurde mit verschiedenen Literaturpreisen bedacht.
Suzette Mayr, eine kanadische Autorin mit deutschen und afro-karibischen Wurzeln, greift im vorliegenden Roman ein in Vergessenheit geratenes Themenfeld auf. Sie setzt den Schwarzen Schlafwagendiener Baxter, der für den Großteil des Romans einen Zug von Montreal nach Vancouver im Jahre 1929 betreut, ins Zentrum ihrer Geschichte. Dieser muss nicht nur mit dem Rassismus der Passagiere und Vorgesetzten klarkommen, sondern auch seine Homosexualität verheimlichen, die ihn damals mindestens ins Gefängnis gebracht hätte. Wir folgen nun diesem Zug auf seiner vier Tage (plus) Tour quer durch Kanada und erleben auf eindrückliche Weise, wie menschenunwürdig Baxter und seine anderen Schlafwagendienerkollegen behandelt werden.
Mit Baxter hat die Autorin eine äußerst interessante Figur geschaffen. Er arbeitet schon seit vielen Jahren als Schlafwagenfahrer, das alles aber nur, um sich die Fortführung seines Zahnmedizinstudiums leisten zu können. Neben seinem Faible für Zahnstellungen und dentalen Erkrankungen ist er außerdem ein großer Science-Fiction-Fan und steckt stets die Nase in ein entsprechendes Buch. Aber diese beiden Eigenarten stellen natürlich keine Gefahr für ihn dar. Im Gegensatz dazu existiert jedoch eine ständige Bedrohung durch den massiven Rassismus und die Homophobie der damaligen Zeit. Mayr rückt nicht nur diese beiden Formen der Unterdrückung ins Zentrum ihrer Geschichte, auch Klassizismus und die fehlenden Rechte der Arbeiterklasse werden aufgegriffen. Alles hängt hier ohne Frage miteinander zusammen und scheint Baxter zu zerstören.
Die Autorin entwirft sprachlich gekonnt verschiedenste Passagiercharaktere, die scheinbar alle nur ihre eigenen Befindlichkeiten im Blick haben und auf sehr hohem Niveau über jede Kleinigkeit im Zug und in der Gesellschaft zum Meckern ansetzen. So schreibt sie auf Seite 46-47:
„Die Leute richten sich auf den weichen Matratzen ihrer Kojen ein, mitsamt ihren Koffern und Schachteln, ihren Hüten, Nachthemden und Morgenröcken, ihren überflüssigen Ansichten und den unerschöpflichen Bedürfnissen und Scheinbedürfnissen der Gutsituierten:…“
Während zu Beginn dieses Konglomerat aus Gutsituierten noch wie ein hochnäsiger Einheitsbrei wirkt, zeichnen sich vor allem zum Ende hin feine Differenzierungen zwischen den Fahrgästen ab, die einem nicht sämtliche Hoffnungen auf das Gute im Menschen verlieren lassen. Im absoluten Kontrast zum Leben auf der Seite der Bedienten im Zug und in der Gesellschaft steht das der Diener. Diese leben, stellvertretend dargestellt durch Baxter, am Existenzminimum, können sich kaum das Essen in der Angestelltenkantine leisten und arbeiten sich um ihre physische wie auch psychische Gesundheit, bekommen sie doch kaum Schlaf und Nahrung, sind ständig auf den Beinen. So entwickeln sich bei Baxter zunehmend Ausfallerscheinungen im Sinne von zum Beispiel kaum noch von der Realität zu unterscheidende Halluzinationen.
Wie lang so ein mehrtägiger Arbeitseinsatz, eingeschlossen in einem Zug, mit der ständigen Angst sogenannte Strafpunkte durch angebliches Fehlverhalten zu sammeln und letztlich entlassen zu werden, vermittelt Mayr passend durch ihren Schreibstil. Man hält das unablässige Klingeln nach dem „George“ (alle Schwarzen Diener erhielten den Namen George und wurden nicht bei ihrem richtigen Namen genannt), die nervenden Wünsche, Sonderbarkeiten und Typen der Passagiere kaum aus, hat das Gefühl der Zug und die Geschichte komme kaum voran, bis es dann doch endlich erlösend weitergeht. Zeitweise erscheinen 240 Buchseiten unendlich lang, aber das ist meines Erachtens literarisch so gewollt und erfüllt damit eine Funktion, nämlich die wichtige des „Show, don‘t tell“.
Trotzdem erzählt uns Mayr natürlich sehr viel mit ihrem Roman und weck dadurch nicht nur ein Bewusstsein für die vielen Wege der Unterdrückung von Minderheiten sondern auch für ein historisches Detail, welches sonst fast vergessen wäre, nämlich die „10 000 Black Men Named George“ (nach einem Filmtitel von Regisseur Robert Townsend), die Schwarzen Diener einer weißen Oberschicht. Übrigens ist der Filmtitel nur eine von sehr vielen Literatur- bzw. Quellenhinweisen, die die Autorin ihrem Buch angehängt hat. Neben der großartigen Recherchearbeit der Autorin sollte außerdem noch die ebenso großatige Übersetzungsleistung von Anne Emmert gewürdigt werden, die den Text von Mayr gekonnt ins Deutsche gebracht hat.
Deshalb gibt es von mir eine klare Leseempfehlung für dieses Buch mit einem selten beleuchteten Setting.
4/5 Sterne
Kanada, im Jahre 1929: Schlafwagendiener Baxter rattert im Nachtzug von Montréal nach Vancouver. Mit ihm an Bord sind unter anderem ein Schauspieler, eine Schriftstellerin, ein Medium und eine Oma mit ihrer Enkelin. Niemand der Fahrgäste kennt den Traum des Dieners. Denn Baxter nimmt diesen Knochenjob nur in Kauf, weil er auf sein Zahnmedizinstudium spart. Bis dahin heißt es also Schuhe wienern, die Toilette putzen und manchmal sogar - natürlich heimlich - sexuelle Dienstleistungen übernehmen. Wobei Baxter noch mehr verheimlichen muss, denn er steht im gesellschaftlichen System nicht nur wegen seiner Hautfarbe ganz unten, sondern ist zudem auch noch homosexuell. Als der Zug jäh durch eine Schlammlawine gebremst wird, überwältigt der Schlafmangel Baxter immer stärker. Geplagt von Halluzinationen sehnt der Schlafwagendiener das Ende der Reise herbei - wohl das Einzige, was ihn mit den Fahrgästen eint....
"Der Schlafwagendiener" ist der sechste Roman der kanadischen Autorin Suzette Mayr, der kürzlich in der Übersetzung aus dem Englischen von Anne Emmert bei Wagenbach erschienen ist. Es ist erst der zweite Roman Mayrs, der auf Deutsch übersetzt wurde. Hoffentlich nicht der letzte, denn 2022 erhielt sie für ihn den renommierten kanadischen Giller Prize.
Liest man etwas von einem Schlafwagen, mag einen selbst gleich die Müdigkeit überfallen. Bei Suzette Mayr ist das hingegen ausgeschlossen, denn die Autorin wirft die Leserschaft sofort hinein in eine schier unglaubliche Hektik. Gemeinsam mit Baxter wird hier noch die letzte Koje vorbereitet, während dort schon der erste Fahrgast wartet. Wann trifft der Zug wo ein, wann fahren wir endlich ab und wo, verdammt nochmal, ist eigentlich mein Abteil? In diesem Stil merkt man von Beginn an, welch aufreibenden Job Baxter und seine Kollegen dort verrichten müssen. Passend dazu setzt Mayr auf das erzählerische Präsens, das immer eine besondere Unmittelbarkeit ausdrückt. Dabei befinden wir uns bisher lediglich im "Vorher", einem langen Epilog, der den Protagonisten seinem Publikum näher vorstellt.
Und dieser Baxter ist zweifelsohne ein Sympathieträger. Nach außen hin erträgt er stoisch sämtliche Erniedrigungen und Demütigungen, doch innerlich brodelt auch er. Wir werden diesen Baxter den gesamten Roman über nicht aus den Augen verlieren. Keine Szene funktioniert ohne ihn, und wir wissen über die Fahrgäste immer genau das, was auch Baxter weiß. Nicht mehr und nicht weniger. Das ist von Suzette Mayr äußerst klug konzipiert, denn dadurch wachsen nicht nur Sympathie und Empathie für den Helden, sondern es sorgt auch für Spannung, da man nie weiß, was hinter welcher Tür eigentlich gerade geschieht. Es sei denn, Baxter blickt hinein...
Da können die Nebenfiguren nicht ganz mithalten, sollen sie wahrscheinlich aber auch gar nicht. Denn zwischen ihnen und Baxter herrscht so etwas wie eine wechselseitige Anonymität. Baxter ist für die meisten Passagiere nur "Diener", "George" oder "Boy" und fühlt sich bisweilen als Möbelstück, während er seinerseits jeden der Passagiere mit Spitznamen belegt, sei es nun "Pudding", "Mango" oder "Pappe und Papier". Eine Ausnahme bildet die kleine Esme, das einzige Kind, das im Roman auftaucht. Das Mädchen, das gerade seine Mutter verloren hat, weicht dem Schlafwagendiener ab einem gewissen Zeitpunkt nicht mehr von der Seite und wird dadurch zu einer zweiten Sympathieträgerin. Die anderen Figuren wirken bisweilen etwas eindimensional oder überspitzt, wobei einige von ihnen im Finale durchaus noch zu überraschen wissen.
Züge sind ja oftmals ein dankbares Setting für gute Romane, wie beispielsweise zuletzt auch "Wunderkind Erjan" von Hamid Ismailov oder "Was geschieht in der Nacht" von Peter Cameron. So auch hier, wo im Hauptstrang der Zug bzw. sein Umfeld sogar überhaupt nicht verlassen werden. Fernab jeglicher Eisenbahnromantik sollte Suzette Mayr somit auch passionierte Bahnfahrer:innen ansprechen. Und dennoch kommt nicht nur der Zug zwischenzeitlich zum Stillstand, sondern auch die Dynamik des Romans. Die Fahrgäste wenden sich mit immer den gleichen Fragen und Problemen an Baxter, was nicht nur ihn, sondern auch die Leser:innen zunehmend nervt. Hier hätte dem "Schlafwagendiener" eine Straffung oder andere Entwicklung gut getan. Hinzu kommt, dass von den zahlreich eingesetzten bildhaften Vergleichen nicht jeder gleichermaßen passt. Insbesondere die anfänglich immer wiederkehrenden Eisenbahn-Bilder wirken teilweise etwas bemüht oder repetitiv.
Das ist allerdings Kritik auf hohem Niveau, denn im Finale legt nicht nur der Zug noch einmal zu, sondern auch Suzette Mayr. Nachdem die Leserschaft eine recht alberne Séance ertragen musste, besinnt sich der Roman nämlich seiner Stärken: der Empathie, Solidarität und Warmherzigkeit, die Mayr mit dem Buch Minderheiten entgegenbringt. Sicherlich sah man schon Schlafwagendiener in Filmen durchs Bild huschen, aber wer schrieb jemals so ernsthaft und ausführlich über sie? Zeitgleich behandelt Mayr auch heute noch gesellschaftlich wichtige Themen wie Rassismus und den Umgang mit Homosexualität, der in der historischen Perspektive aufgrund der Strafbarkeit ungleich dramatischer war. Bemerkenswert ist in dieser Hinsicht auch die sage und schreibe drei Seiten lange Literaturliste, die Mayr bei der Recherche für das Schreiben eines Romans (!) aufgewendet hat. Dies unterstreicht, wie sehr ihr dieses Thema am Herzen lag und sorgt für zahlreiche zusätzliche Sympathiepunkte. Erwähnt werden sollte auch die formal liebevolle Aufmachung. Da gibt es die Jobanzeige für Schlafwagendiener, den Aufbau eines Waggons oder auch mal ein kleines Schriftbild, wenn die ihrerseits kleine Esme etwas flüstert.
Insgesamt ist "Der Schlafwagendiener" eine liebevolle und unterhaltsame Zugreise in eine Zeit, in der sich in Kanada ein Schwarzer darüber Gedanken machen musste, ob er in einer öffentlichen Toilette neben einem Weißen stehen darf. In eine Zeit, in der ein Diener in einem Zug den Dreck anderer Menschen entfernen musste, ohne dafür kaum mehr als ein mickriges Trinkgeld zu erhalten. Und in eine Zeit, in der ein Homosexueller für Sexualkontakte mit anderen Männern ins Gefängnis musste.
Klappentext:
„Baxter träumt davon, Zahnarzt zu werden, und spart dafür jeden Dollar Trinkgeld. Bis er sich das Studium leisten kann, muss er auf mehrtägigen Schlafwagentouren stumm lächelnd und nickend alle Aufträge der reichen, weißen, oft skurrilen Fahrgäste ausführen. Er darf weder seinen eigenen Namen verwenden noch sich den kleinsten Fehler erlauben, dort am untersten Ende der gesellschaftlichen Hierarchie, auf dem Trittschemel beim Schuhepolieren oder beim Kloputzen.
Im Jahr 1929 würde er für seine heimliche Hingabe an Männer nicht nur seinen Job verlieren, sondern unweigerlich im Gefängnis landen. Unterdessen bleibt der Zug auf der Fahrt von Montreal nach Vancouver vor einer Schlammlawine stehen. Die Stimmung an Bord wird mit jeder Stunde angespannter. Während des pausenlosen Tag- und Nachtdiensts bekommt der völlig übermüdete Baxter langsam Halluzinationen und hat seine unterdrückten Gefühle immer weniger unter Kontrolle.“
„Der Schlafwagendiener“ stammt aus der Feder von Suzette Mayr. Ihr Hauptprotagonist Baxter ist einem recht schnell nach Lesebeginn ans Herz gewachsen. Er will seinen großen Traum Zahnarzt zu werden definitiv mit allen Mitteln in die Realität umsetzen. Das Studium ist teuer und dafür muss er arbeiten gehen. Wie der Buchtitel bereits verrät, ist er für alle Belange der Menschen in den nächtlichen Stunden in den Zügen da. Keiner kennt seinen Namen, er macht einfach nur, er schafft einfach nur um seinen Traum zu erfüllen. Mayr zeigt auf, was man alles für seine Träume hinnehmen muss. Baxter ist ein Niemand und muss vor den Gästen auf die Knie gehen um ihre Schuhe zu polieren oder eben das Klosett nochmals richtig gründlich nach deren Benutzung zu reinigen. Sie merken schon, für seinen großen Traum macht Baxter Dinge, die schon in gewisser Weise erniedrigend sind. Ist es all das wert? Zudem schreiben wir das Jahr 1929 - keine Zeit der Offenheit in jeglicher Hinsicht. Egal ob die Hautfarbe oder gar die sexuelle Hingabe: über all das wird nicht gesprochen. Baxters Arbeit bringt ihn fasst um den Verstand denn es plagen ihn Halluzinationen. Im Klappentext wird bereits kurz das Unglück beschrieben welches Baxter wahrlich herausfordert. Es fordert auch in gewisser Weise uns Leser heraus, denn wir leiden mit Baxter mit und würden ihm irgendwie gerne unter die Arme greifen aber es stellt sich auch die Frage, ob es sich lohnt diesem Traum hinterherzulaufen, dafür zu kämpfen. Ist all die Mühe, die Arbeit diese Erfüllung wert? Wie weit muss man gehen, will man gehen? Mayr ist in vielen Augenblicken philosophisch und trifft zumeist immer den richtigen Ton. Ihre Wortwahl ist der Zeit angepasst und der gesamten Situation. Sie spricht Themen an, die gern unter den Teppich gekehrt werden und wenn wir ehrlich sind, sind viele dieser Themen bis heute auch noch aktuell. „Der Schlafwagendiener“ bracht mir wirklich beste Leseunterhaltung und eine Geschichte die noch nachhallt. 4 Sterne hierfür!
Von Toronto nach Winnipeg
„Schlafwagendiener gesucht für Einsatz im Sommer oder auf Dauer. Erfahrung nicht notwendig. Mehr Informationen auf schriftliche Anfrage.“
Einer dieser Schlafwagendiener, der gesucht und gefunden wurde, ist R. T. Baxter, der an einem Montagabend im Jahr 1929 seinen Dienst im Bahnhof von Toronto antritt. Die Reise soll ihn bis Mittwochabend nach Winnipeg führen. Der Roman „Der Schlafwagendiener" der kanadischen Autorin Suzette Mayr erzählt die Geschichte dieser Reise.
R. T. Baxter möchte einmal Zahnarzt werden. Damit er sein Studium finanzieren kann, arbeitet er von Zeit zu Zeit als Schlafwagendiener, so auch dieses Mal. Über einen Zeitraum von drei Tagen sorgt er für das Wohl der Zugreisenden, die in seinem Waggon reserviert haben. Dabei hat er es mit den unterschiedlichsten Passagieren zu tun, die jedoch eines gemeinsam haben. Entsprechend der Berufsbezeichnung betrachten sie ihn als Diener und leben ihr herrschaftliches Denken an ihm aus. Ist es ein Zufall, dass Baxter und seine Kollegen Schwarze sind? Wohl kaum. Da Baxter auf den Verdienst angewiesen ist, fügt er sich in die Rolle des schwarzen Dieners und erträgt die Demütigungen genauso wie die schlechten Arbeitsbedingungen. Ein 72 Stunden Job ohne nennenswerte Pausen bringen Baxter körperlich an seine Grenzen. Der Schlafmangel fordert seinen Tribut. Aber Baxter hält durch, sogar deutlich mehr als das. Denn selten halten Züge ihre Fahrpläne ein.
Baxter ist ein Romancharakter, über den sich nicht viel in Erfahrung bringen lässt. Er wird der Rolle des Schlafwagendieners auch in seiner Funktion als Protagonist gerecht: Bescheiden und unauffällig bleibt er im Hintergrund. Der Leser begleitet die Hauptfigur dieses Romans während dessen Arbeitsroutinen, doch Suzette Mayr konzentriert sich bei der Gestaltung des Menschen Baxter dabei lediglich auf zwei Aspekte: Baxters Traum von einer Zukunft als Zahnarzt sowie Baxters Homosexualität, die er in einer Zeit, als Kanada von der heutigen Liberalität noch weit entfernt war, unter Verschluss halten muss.
Die Vielzahl der Passagiere dieses Romans bleiben größtenteils anonym. Nur eine Handvoll der Personen sticht aus der Masse der Reisenden hervor und nimmt Anteil an der eigentlich unspektakulären Handlung dieses Romans.
Zu diesen Figuren gehört bspw. eine Dame, die sich als Medium betrachtet und Séancen abhält, so auch während der Reise und auf Anregung einiger Mitreisender. Es ist nicht der angebliche Kontakt zu verstorbenen Seelen, der diesem Roman surreale Momente beschert, sondern es ist eher Mr. Baxters Schlafmangel. Je weiter die Handlung voranschreitet, umso häufiger gerät der erschöpfte Baxter in Situationen, in denen er Trugbilder sieht. Die Autorin baut diese Sinnestäuschungen sehr geschickt in die Handlung ein, so dass man als Leser in diesen Momenten an der eigenen Wahrnehmung zweifelt.
Sprachstil und Stimmung dieses Romans richten sich nach den jeweiligen Etappen dieser Zugreise. Mit wenigen stilistischen Mitteln bringt die Autorin meisterhaft die Hektik zum Ausdruck, die sich auf einem Bahnsteig kurz vor Abfahrt eines Zuges präsentiert. Nachdem der Zug bereits eine Weile unterwegs ist, schraubt die Autorin das Erzähltempo deutlich herunter und spiegelt somit die entspannte Gemächlichkeit einer damaligen Zugreise wider. Nachdem ich anfangs die Hektik in der Sprache als unangenehm empfunden habe, war ich hocherfreut, als der Sprachstil entspannter wurde, so dass ich den ruhigen Erzählton sehr genossen habe.
„Der Schlafwagendiener" ist ein Roman, der im Kanada der 30er Jahre angesiedelt ist. Aus heutiger Sicht betrachtet ist es kaum vorstellbar, dass Rassismus und Homophobie in der eigentlich liberalen Gesellschaft Kanadas in jener Zeit zu finden waren. Doch genau das sind die Probleme, die Suzette Mayr in ihrem Roman thematisiert. Baxter ist ein homosexueller Schwarzer, der seine sexuelle Ausrichtung verbergen muss, da er sonst seinen Job verliert bzw. gegen das Gesetz verstößt. Seine Hautfarbe in Verbindung mit seiner Tätigkeit als Diener rufen bei den Passagieren Handlungsweisen hervor, die sich auf der Grenze zur Menschenverachtung bewegen.
Fazit
"Der Schlafwagendiener" ist eine interessante Mischung: Ein stimmungsvoller Roman über eine Zugreise, welcher surrealistische Elemente enthält sowie eine große Portion Gesellschaftskritik.
Leseempfehlung!
© Renie