Verräterkind

Buchseite und Rezensionen zu 'Verräterkind' von Sorj Chalandon
4.6
4.6 von 5 (12 Bewertungen)

Inhaltsangabe zu "Verräterkind"

»Dein Vater stand auf der falschen Seite.« – ein Satz, der die Familie zerreißt. Seit seiner Kindheit quält den Erzähler eine Frage: Was hat der Vater während der Besatzungszeit gemacht? Doch er traut sich nie, ihn zu fragen, zu unberechenbar, zu gewalttätig ist dieser Vater. Im Mai 1987, als in Lyon der Prozess gegen den NS-Verbrecher Klaus Barbie eröffnet wird, berichtet der Sohn als Journalist einer großen französischen Tageszeitung. Und erfährt am selben Tag, dass die Gerichtsakte seines Vaters im Archiv schlummert. Und so ist es nicht ein Prozess, der gerade begonnen hat, es sind zwei. Die sprachgewaltige, schmerzhafte Auseinandersetzung Chalandons mit der Wunde seines Lebens und Schreibens, dem Vater als Verräter.

Format:Gebundene Ausgabe
Seiten:304
EAN:9783423290333

Rezensionen zu "Verräterkind"

  1. Die zwei Seiten des "Verräterkinds"

    Mir geht es wie der Erzählinstanz des Romans: der Text windet sich zwischen Fakt und Fiktion, Detail und großem Ganzen, Vergessen und Erinnern, Schuld und Taten, die in ihrer Monstrosität und Nachwirkung unvergleichlich sind. Sorj Chalandon schreibt gegen das Abmildern, Achselzucken, von der Schulter wischen und Abstumpfen an – und er tut dies auf teilweise sehr eindrückliche und unnachahmliche Weise. Teilweise, weil der Roman sich grob in drei Handlungspartien gliedern lässt, die in ihrem Wirkungspotenzial unterschiedlich stark sind und so beim Leser einen unterschiedlichen Nachklang entfalten.

    Der Roman beginnt mit dem Besuch der Erzählinstanz im Kinderheim von Izieu, welches während der deutschen Besatzungszeit jüdische Kinder beherbergte, die alle 1944 nach Auschwitz deportiert und dort getötet wurden. Das Erleben des Erzählers ist so persönlich, so unmittelbar, die ländliche Umgebung des Heims in so deutlichem Kontrast zu dem Leiden und Sterben der Kinder, dass der Leser sofort von der Geschichte eingefangen wird.

    Nach diesem sehr starken Auftakt beginnt die Auseinandersetzung des „Verräterkinds“ mit seinem Vater, einem windigen, undurchsichtigen Opportunisten, der sich während des Krieges wiederholt in den Dienst der deutschen Besatzer stellte, seinem Sohn gegenüber aber ein völlig anderes Bild von sich zeichnete. Der Erzähler begibt sich auf die Suche nach der Wahrheit, sammelt Dokumente und konfrontiert seinen Vater, doch dieser entgleitet dem Sohn immer wieder. Dieser Handlungsstrang leidet unglücklicherweise darunter, dass der Erzähler wirklich jedes Staubkörnchen aus der Vergangenheit seines Vaters umdreht – und dies nicht nur einmal. Bisweilen entsteht der Eindruck, dass Tagesabläufe mehrfach minutiös durchgegangen werden, allerdings ohne zu irgendeiner großen Erkenntnis zu führen. Stillstand, Redundanz und auch Langeweile sind das kennzeichnende Merkmal dieser Passagen, mitunter holte mich auch das ein oder Déjà-vu ein oder ich litt unter Verwirrung, bei welcher Organisation der Vater nun gerade sein Auskommen sicherte – da half auch das wirklich exzellente Glossar am Ende des Romans nur bedingt weiter. Leider ist der Handlungsstrang der Vater-Sohn-Beziehung – wie der Titel des Romans bereits andeutet – sehr raumgreifend und mit dem anderen Hauptstrang des Textes eng verwoben.

    Dieser wiederum ist exzellent und berührt den Leser tief und nachhaltig. Parallel zum Versuch der Demaskierung des Vaters schildert der Erzähler den Gerichtsprozess gegen Klaus Barbie 1987, den er als Reporter begleitet und beobachtet.
    Die Gerichtsszenen, die Aussagen der Zeugen, die Reaktionen der Anwälte, des Angeklagten und der Anwesenden werden ausgezeichnet dargestellt, sie entfalten eine große Kraft und Wirkung und führen dazu, dass man den Roman so manches Mal unterbrechen muss, weil die Darstellung so eingängig ist. In den Gerichts-Kapiteln ist der Roman so groß wie der Beginn es erwarten ließ, getrübt wird die Lektüre tatsächlich durch die Tatsache, dass man dem Handlungsstrang des Vaters ab einem gewissen Punkt kaum noch Interesse entgegenzubringen vermag.

    So ist der Roman für mich ein wenig zwischen Großartigkeit und Banalität gefangen. Die Bedeutsamkeit des Themas steht außer Frage, aber bei der Umsetzung des Vater-Sohns-Konflikts und der Diskussion eines Lebens mit der Last und dem Erbe des Verrats hätte ich mir weniger die sehr dominante Aufzählung von „Fakten“ und Stationen gewünscht, sondern eine stärker auf die ethischen und philosophischen Implikationen ausgerichtete Sichtweise.

  1. Verrat hier, Verrat da- welche Geschichte ist nun wahr?

    "Verräterkind" ist der erste Roman aus der Feder von Sorj Chalandon, den ich las. Der französische Schriftsteller und Journalist verarbeitet in seinen Geschichten wohl sein eigenes Verhältnis zum Vater. Dies ist spätestens seit seinem zehnten Lebensjahr belastet, erfuhr er doch zu diesem Zeitpunkt bei einem seiner Besuche der Großeltern, dass sein Vater im Krieg "auf der falschen Seite gestanden habe", er also ein Verräterkind sei. Dies bedeutete zum einen das Ende der idyllischen Besuche im Hause der Großeltern, zudem den Beginn einer quälenden Ungewissheit um die Wahrheit seines Vaters.

    Chalandon wird als 30 jähriger Journalist beauftragt, den 1987 startenden Prozess in Lyon gegen den NS-Verbrecher Klaus Barbie zu verfolgen und für die Heimatzeitung darüber zu berichten. Barbie wird für seine Taten während des zweiten Weltkrieges zur Verantwortung gezogen, wo er etwa 800 Erwachsene in seiner Funktion als Chef der Gestapo in Lyon deportieren ließ. Als Leser erfahren wir viel über die Greuel dieser Zeit, insbesondere auch der Rolle Frankreichs in diesem düsteren Kapitel europäischer Geschichte. Chalandon beobachtet den Prozess minutiös. Intention ist die Konzentration auf diesen Prozess mitsamt all der schockierenden Zeugenaussagen jüdischer Überlebender. Das geht unter die Haut. Chalandon, dem autofiktionalen Erzähler, dem Leser- nicht aber Barbie selbst. Verstörend sind für Chalandon auch die gleichgültigen Reaktionen seines Vaters, den er während des Prozesses beobachtet. So wird der Prozess über Barbie zunehmend auch zum Prozess gegen den Vater und dessen Verrat: Akten belegen, dass sein Vater ein Lügengebäude aufgebaut hat, vieles nicht stimmen kann. Doch was ist die Wahrheit? Worin besteht das Vergehen seines Vaters? Fragen über Fragen, die dem Sohn durch den Kopf schwirren. Kaum öffnet sich ihm der Vater partiell, folgt kurz darauf die Widerlegung der entsprechenden Ausagen. Mehr sei hier nicht verraten.

    "Verräterkind" ist ein Roman, der mich zum einen zutiefst erschüttert hat, denn er behandelt harten Tobak, der einen erschaudern lässt. Gleichzeitig hat mich die Geschichte aber auch begeistert. Die Paralellität der beiden Gerichtsprozesse, dess offiziellen Prozesses gegen Barbie, aber auch der schwelende Prozess des Sohnes gegen den eigenen Vater ist brilliant konstruiert. Jeder ist in seiner Identität durch seine eigene Herkunft auf die Eltern zurückgeworfen. Ungereimtheit und Vergehen der Eltern, belasten und irritieren zwangsläufig die eigene Identität. Mit Blick auf Kinder von Opfern ist dies bekannt, doch hier erfahren wir eindrucksvoll, dass Kinder von Tätern gleichermaßen betroffen sind. Die Vergangenheit von Chalandons Vater trübt und belastet dessen Gegenwart - so sehr, dass er sein literarisches Schaffen dieser Thematik widmet und mithilfe der Kraft der Literatur versucht, ins Reine zu kommen.

    Entstanden ist auf diese Weise ein sehr lesenswerter Roman über ein düsteres Kapitel in der europäischen Geschichte, der einen wichtigen Beitrag zur Erinnerungskultur leistet. Unbedingt lesen!

  1. 4
    30. Dez 2022 

    Ein zweifacher Prozess

    Im Mai 1987 beginnt in Lyon der Prozess gegen Klaus Barbie. Wegen seiner Grausamkeit war der Gestapo-Chef in Lyon auch als „der Schlächter von Lyon“ bekannt. Nach dem Krieg hat er sich nach Bolivien abgesetzt und wurde erst 1983 festgenommen und nach Frankreich ausgeliefert. Barbie wurde wegen Verbrechen gegen die Menschlichkeit zu lebenslanger Haft verurteilt.
    Sorj Chalendon war einer der 700 Journalisten, die den Prozess verfolgten. Dabei plagten ihn Zweifel, als er von seiner Zeitung den Auftrag dazu erhielt. „ Hatte der Sohn eines Verräters überhaupt das Recht, …( davon ) Zeugnis abzulegen?“
    Denn dass er ein solches „ Verräterkind“ war, wusste er seit seiner Kindheit. Damals hatte ihn sein Großvater mit diesem Vorwurf konfrontiert. „ Dein Vater stand im Krieg auf der falschen Seite.“
    Schon immer war das Verhältnis zwischen dem Autor und seinem Vater angespannt. Der Vater war ein gewalttätiger, tyrannischer Mensch, der gerne mit seinen vermeintlichen Heldentaten im Zweiten Weltkrieg prahlte. Was war davon wahr und was entsprang der ausufernden Phantasie des Vaters? Nie bekam der Sohn befriedigende Antworten auf seine Fragen nach des Vaters Vergangenheit. War er ein Held und Widerstandskämpfer oder ein Deserteur und ein
    Kollaborateur ? Hat er für die Deutschen gearbeitet, seine Landsleute verraten? Und warum saß er im Gefängnis? Statt eindeutigen Antworten verstrickt sich der Vater in Widersprüchen, erzählt immer neue abenteuerliche Geschichten.
    Um endlich Klarheit zu erhalten, besorgt sich Chalandon mit Hilfe eines Freundes die Akten von der Gerichtsverhandlung kurz nach Kriegsende, die dem Vater ein Jahr Gefängnis und einen fünfjährigen Verlust der bürgerlichen Ehrenrechte einbrachte.
    Diese Recherche über die Vergangenheit seines Vaters erzählt der Autor parallel zur Gerichtsverhandlung gegen Barbie. „ Ich hatte den Prozess meines Vaters an den Ort gebracht, wo über Klaus Barbie verhandelt wurde. Die kleine und die große Geschichte vor demselben Gericht.“ Und auch dort wird er ständig mit seinem Vater konfrontiert, der dem Prozess als Zuschauer beiwohnt.
    Erschüttert von den Zeugenaussagen der Überlebenden erhofft sich Chalandon eine Reaktion bei seinem Vater. Doch der ist mehr an der Figur Barbie interessiert als an dem, was die Opfer aussagen.
    Während man aber im öffentlichen Prozess eine deutliche Vorstellung von den Gräueltaten der Nazis bekommt, bleibt das Bild des Vaters bis zum Ende hin unklar. Ein Opportunist, einer der sich Geltung verschaffen will, ein Blender, so erscheint er dem Sohn. „ Du hast die Uniformen gewechselt wie Theaterkostüme…“ und „ Du bist nicht desertiert, nein, du hast nur den Krieg geschwänzt.“ wirft der Autor dem Vater vor. Trotzdem versucht er immer wieder zum wahren Ich seines Vaters vorzudringen, wünscht sich, dass der wenigstens ihm die Wahrheit sagt und ihm so sein Vertrauen schenkt. Doch am Ende muss Chalandon einsehen, dass er das, was er sich erhofft, nie bekommen wird. Denn „ Seine Illusionen hatten ihn immer aufrechterhalten. Sie waren sein Sockel, sein Gerüst,… ein Panzer aus falschen Wahrheiten.“
    Während mich der Bericht über den Barbie- Prozess, hier besonders die erschütternden Zeugenaussagen und das Schicksal der Kinder von Izieu, für deren Deportation Barbie verantwortlich war, zutiefst berührt hat, konnten mich die detaillierten Nachforschungen zum Leben des Vaters nicht im gleichen Maße erreichen. Für mich war schon bald klar, dass der alte Mann nicht bereit war, irgendetwas einzusehen oder zu bereuen. Zu sehr war er in seinem eigenen Lügengebilde verstrickt. Und beinahe unerträglich war das Verhalten des Vaters während des Prozesses. Gelangweilt gähnend verfolgt er die Aussagen der Opfer, die von ihrem unfassbaren Leid erzählen und bestreitet danach deren Glaubwürdigkeit.
    Angesichts des Grauens, von dem der Barbie- Prozess berichtet, erscheinen mir die Spielchen des Vaters banal.
    Auf sprachlich hohem Niveau entwickelt Chalandon seine Geschichte, mal reportagehaft nüchtern und präzise, dann wieder höchst emotional und einfühlsam. Immer findet er den richtigen Ton und erzeugt dabei beim Leser eine tiefe Anteilnahme.
    Das Buch ist autofiktional, doch die Schlussbemerkung zeigt, dass Chalandon die Fakten verdichtet hat. Diese Konstruktion hat mich nicht völlig überzeugt.
    Trotzdem ist „ Verräterkind“ ein wichtiges, ein gutes Buch, ein eindringlicher Text zur Vergangenheitsbewältigung -gerade die französische Perspektive ist für deutsche Leser interessant - und eine intensive Vater - Sohn - Geschichte.

  1. Auf der Suche nach Schuld und Wahrheit

    Im Mai 1987 beginnt in Lyon der ergreifende Prozess gegen den NS-Funktionär Klaus Barbie, dem man grausame Verbrechen gegen die Menschlichkeit zur Last legt. Eng mit dem Prozess verbunden ist der Ich-Erzähler, der ihn als Journalist begleitet und den einzelnen Sitzungen beiwohnt. Gleich zu Beginn des Romans wird der Leser auf eine berührende Reise ins Kinderheim von Izieu mitgenommen, aus dem am 6. April 1944 auf Befehl Barbies über 40 überwiegend jüdische Kinder und Jugendliche abgeholt und in Konzentrationslager verschleppt wurden. Man hatte das Versteck verraten. Wer ist zu einer solchen Tat fähig, wer tut so etwas, was muss das für ein Mensch sein?

    Der Erzähler recherchiert im Fall Klaus Barbie, dem weitere ruchlose Verbrechen zur Last gelegt werden. Die Auseinandersetzung im Rahmen des bevorstehenden Prozesses wecken im Erzähler weitere persönliche Geister, denn auch sein Vater scheint einst mit den Nationalsozialisten kollaboriert zu haben. Wie weit ging diese Zusammenarbeit, inwiefern könnte er sich schuldig gemacht haben? Diese Fragen sowie umfangreiche Erinnerungen aus der Kindheit kommen im Zusammenhang mit dem Prozess um Barbie hoch. Es wird auf mehreren Zeitebenen erzählt. Wir erfahren, dass der Erzähler von Kindheit an unter seinem unberechenbaren, zu Gewalt neigenden Vater litt. Einem Vater, der sich in Erzählungen selbst stets überhöhte und wahre Heldengeschichten über sich und sein ehrenhaftes Verhalten während des Krieges zu berichten wusste. Erste Risse bekamen diese Darstellungen bereits, als der Großvater den Erzähler vor einer Ewigkeit als „Verräterkind“ beschimpfte – einen Vorwurf, der das Kind nachhaltig beschäftigt und es jahrzehntelang nicht mehr loslässt. Mit den Vorwürfen, ein Verräter gewesen zu sein, konfrontiert, streitet der Vater jedoch alles ab. Die zurückhaltende Mutter führt nur ein Schattendasein in der Familie, der Sohn leidet unter der mangelnden Akzeptanz.

    Sehr geschickt lässt der Autor die beiden Erzählebenen ineinander fließen. Er verbindet die berufliche große Geschichte um Verbrecher Klaus Barbie mit der eigenen kleinen Familienhistorie des Erzählers. Die Recherchen wechseln sich ab, es gibt Zusammenhänge und Überschneidungen. Über einen Freund bekommt der Erzähler Zugang zu Gerichtsunterlagen seines Vaters, über die jener sich ausgeschwiegen hat. Akribisch rekonstruiert der Erzähler die väterlichen Stationen während des Krieges, gleicht die überlieferten Geschichten mit der juristisch belegten Wahrheit ab und spürt den daraus resultierenden Diskrepanzen und Lügen hinterher. Gleichzeitig nimmt der Erzähler als Gerichtsreporter am Prozess gegen Klaus Barbie teil, den auch sein Vater von der Zuschauertribüne aus beobachtet. Wo steht der Vater, wie positionierte er sich damals, was interessiert ihn heute an Barbie? Fragen über Fragen, die den Erzähler intensiv beschäftigen und woran er den Leser teilhaben lässt. Die verschiedenen Prozesstage entwickeln ihre eigene bedrückende Dynamik. Die Aussagen der überlebenden Nebenkläger sind schwer zu ertragen. Die Erwiderungen von Barbies Anwalt, die Zeugen, die Plädoyers wirken sehr authentisch und lassen niemanden kalt. (Sorj Chalandon war beim tatsächlichen Prozess in Lyon dabei und wurde für seine diesbezüglichen Reportagen ausgezeichnet.)

    Zunehmend rückt die Vater-Sohn-Beziehung ins Zentrum des Romans. Der Sohn schämt sich für die Taten seines Vaters und sehnt sich nach einer Aussprache, nach Wahrheit, nach Verstehen. Er möchte begreifen, warum sich der Vater über Jahrzehnte hinter seinem Lügengebäude versteckte. Alles läuft auf eine entscheidende Konfrontation zu…

    Chalandon ist es in diesem Roman wieder hervorragend gelungen, emotionale Verstrickungen einer Vater-Sohn-Beziehung abzubilden. Man wird sehr schnell vom Geschehen eingefangen. Die Konstruktion des Romans auf den zwei Ebenen wird sehr gut umgesetzt. Stellenweise empfinde ich jedoch die Recherchen rund um die Tätigkeiten des Vaters während des Krieges als zu ausufernd und in Teilen repetitiv erzählt. Die Detailfülle wäre für mein Verständnis verzichtbar gewesen, weil sie den Vater stets in derselben unbelehrbaren Rolle zeigt. Gleichfalls fiel es mir persönlich schwer, die verzweifelte Wahrheits- und Aussöhnungssehnsucht des Erzählers zu verstehen. Meines Erachtens schulden Eltern ihren Kindern keinen kompletten Rapport über ihr Leben. Andererseits kann ich mir vorstellen, wie schwer es dauerhaft schmerzen muss, wenn man immer wieder über wesentliche Dinge belogen wird.

    Der Roman leistet ein Stück Vergangenheitsbewältigung. Man lernt viel über den laxen Umgang mit Nazi-Schergen nach Ende des Krieges, über die ambivalente Einstellung in vielen Familien, über den aufsehenerregenden Prozess gegen den „Schlächter von Lyon“. Dass die Protagonisten in diesem Fall Franzosen sind, macht den Roman für uns deutsche Leser besonders interessant und zeigt, wie gut vernetzt und weitreichend die Nationalsozialisten gewirkt haben und wie sehr eine familiäre Nazi-Vergangenheit in die nachfolgenden Generationen hineinwirkt.

    „Verräterkind“ ist ein Buch, das ich interessiert gelesen habe und für das ich gerne eine Leseempfehlung ausspreche. Der Roman eignet sich hervorragend für Lesekreise.

  1. Verrat hat viele Gesichter

    Vor meiner Lektüre von Verräterkind kannte ich keines der Werke des Autors. Doch nun bin ich mir sicher, dass noch weitere folgen werden, der Stil und die Art von Sorj Chalandon haben mich vollends überzeugt.

    Hier im Buch berichtet Chalandon als Journalist über den Prozess gegen Klaus Barbie im Jahr 1987 in Frankreich. Die einzelnen Stationen dieses Prozesses werden dem Leser sehr detailliert geschildert. Die Überlebenden, die damals der Deportation entkamen oder diese überlebten kommen zu Wort. Sie erzählen von ihren Erlebnissen, die Anwesenden im Saal sind durchweg betroffen, der Schmerz wird fast greifbar. Dem Angeklagten, der nur kurz zu Anfang und am Ende anwesend ist, wirkt kühl und überheblich, er zeigt keine Reue. Ein Prozess, der ganz Frankreich erschüttert hat.

    Doch die Handlung beschränkt sich nicht ausschließlich auf dieses Ereignis, auch das private Leben des Journalisten hat einen wichtigen Anteil. Das Verhältnis zu seinem Vater wird durchleuchtet, genauer gesagt Chalandon hat herausgefunden, dass sein Vater damals im Krieg auf der gegnerischen Seite stand, eine Tatsache die er aber durch Lügengeschichten in nie stattgefundene Heldentaten umkehrte.
    Der emotionale Prozess und die Erkenntnis, dass der eigene Vater selbst ein Verräter war, bringen den Erzähler an seine Grenzen. Er versucht immer wieder den Vater dazuzubekommen sich endlich der Wahrheit zu stellen. Eine Aufgabe die sich als sehr schwer erweist.
    Als der Vater dann auch dem Prozess beiwohnt, wird klar, dass er dem Angeklagten sehr zugetan ist. Es ist als Leser schwer auszuhalten, denn man stellt sich ständig die Frage wie ein Mensch gutheißen kann was Barbie schreckliches getan bzw. veranlasst hat.

    Dieses Buch zeigt einen ergreifenden Prozess, schildert schonungslos alle schrecklichen Dinge, und stellt dem das Verhältnis des Vaters und des Sohns gegenüber. Viele interessante Fakten fließen in die Handlung, einiges, vor allem über Klaus Barbie war mir neu, der Schrecken über die Deportation haben mir sehr zugesetzt.

    Dieses Buch regt zum nachdenken an, lässt einen alles noch einmal überdenken, hoffen, dass so etwas nie wieder geschieht. Aber nicht nur die historischen Fakten regen zum nachdenken an. Die Vorstellung jahrelang vom eigenen Vater belogen worden zu sein, lässt ebenfalls in sich gehen und sich fragen, wie man selbst mit so einem Verrat umgehen würde.

    Absolute Leseempfehlung!

  1. 5
    15. Dez 2022 

    Verräterkind – Schweigerkind – ein Ruf nach Kommunikation!

    Sorj Chalandon verknüpft in seinem Roman „Verräterkind“ auf ganz besonders ausgeklügelte Weise die Faktensammlung zu zwei ganz unterschiedlich gearteten Fällen aus der Zeit des Dritten Reiches in Frankreich.
    Die eine ist die historisch belegte Faktensammlung zum bedeutenden Gerichtsprozess gegen Klaus Barbie in Frankreich, in dem er für seine Vergehen als Gestapochef von Lyon verurteilt wird. Als journalistischer Beobachter und Kommentator dieses Prozesses nimmt auch der Erzähler des Romans an den Verhandlungstagen, den Zeugenaussagen und der Beweisführung teil. Dabei spielt sich in seinem Kopf parallel ein für ihn persönlich noch viel ergreifenderer Klärungsprozess ab: eine Faktenermittlung zur Rolle seines Vaters in dieser Zeit. Dessen Wege haben sich wohl einige Male mit denen Barbies gekreuzt, aber seine Rolle in diesem grausamen Spiel rund um zum Beispiel das Kinderheim von Izieu blieb dem Erzähler und Sohn stets verborgen und ungeklärt. Das lag zum großen Teil an der Haltung des Vaters, die geprägt wurde durch Verschweigen und Lügen. Aber trotz aller Unklarheiten hatte der Erzähler den Ruf eines "Verräterkindes" weg, weil dessen Vater in dieser Zeit eindeutig auf der falschen Seite gestanden habe. Doch den Erzähler quält nicht so sehr diese Rolle als vielmehr die weiterhin mannigfaltigen weißen Flecken in der Geschichte seines Vaters. Und so beginnt der Sohn mit einer intensiveren Recherche zu dessen Historie mit Hilfe französischer Archive. Sobald der Erzähler sich dann tatsächlich in die Fakten über die Geschichte seines Vaters hineinversenken kann, werden diese weißen Stellen zwar mehr oder weniger aufgelöst, ergeben aber sehr häufig so wenig Sinn, dass sich kein wirklich glaubhaftes, konsistentes Bild über den Vater in dieser Zeit ergeben kann – nicht für den Sohn-Erzähler
    „Du bliebst eine offene Frage und dein Krieg der reine Irrsinn. So konnte ich dich weder verstehen noch dir verzeihen.“
    und auch nicht für den Leser des Romans. Genauso inkonsistent und unverständlich sind auch die Reaktionen des Vaters auf den Verlauf des Barbie-Prozesses, an dem er als interessierter Zuschauer teilnehmen kann. So wird der Roman, auch wenn vordergründig der historische Barbie-Prozess im Mittelpunkt steht, zu einem sehr interessant gestalteten Vater-Sohn-Roman, in dem die Zeit in dem sich diese beiden noch nicht kennen konnten, in ihre Beziehung hineinbricht und für deren Verhältnis maßgeblich bestimmend wird.
    Das Buch schildert so ein intensives Ringen um Wahrheit angesichts einer blutigen, unverständlichen, grausigen Vergangenheit. Der Autor macht darin auch deutlich, dass ein Verstehen letztlich wohl gar nicht möglich ist. Ein Verzeihen darum um so mehr?! So gerne hätte der Erzähler seinem Vater verziehen, doch dafür waren die aufgehäuften Lügen und das aufgehäufte Schweigen einfach zu schwergewichtig. Und so ist das Buch ein Schrei nach offener Kommunikation, nach einem Gespräch zwischen den Generationen, nach Aufarbeitung des Vergangenen um jeden Preis – um den Preis, die Gerichtsbarkeit eines demokratischen Landes an den Rand ihrer Möglichkeiten zu bringen genauso wie um den Preis, das Zusammenleben und Verständnis im engeren Kreis der Familie zu riskieren. Und verdient dafür und für die ausgesprochen gelungene Konstruktion und die einfühlsame Sprache von mir 5 Sterne.

  1. Wahrheit und Schuld

    Der 1952 in Tunis geborene Sorj Chalandon gehört nicht nur zu den wichtigsten zeitgenössischen Schriftstellern Frankreichs, sondern auch zu den renommiertesten Journalisten. In seinen zehnten Roman, "Verräterkind", mit dem er auf der Shortlist des Prix Goncourt 2021 stand, fließen beide Tätigkeiten ein, basiert doch ein Teil dieses autofiktionalen Werks auf seiner preisgekrönten Reportage für die linksliberale Tageszeitung Libération über den Prozess gegen Klaus Barbie im Jahr 1987, den Gestapo-Chef und „Schlächter von Lyon“. Mit diesem weltweit aufsehenerregenden Gerichtsverfahren verknüpft Sorj Chalandon private Ermittlungen gegen seinen Vater, der ihn über seine Vergangenheit während des Zweiten Weltkriegs stets belogen hatte.

    Ein Held, der keiner war
    Prägend für die Kindheit des Ich-Erzählers waren eine unscheinbare, furchtsame Mutter und ein gewalttätiger, manipulativ mit eigenen Heldentaten prahlender Vater. 1962, als der Sohn zehn war, geriet dieses Heldenepos durch eine Bemerkung des Großvaters jäh ins Wanken:

    "Dein Vater stand im Krieg auf der falschen Seite." (S. 28)

    Die Bürde des "Verräterkindes" drohte in fortan zu ersticken:

    "Du durftest mich nicht einfach mit deiner Geschichte allein lassen. Sie war zu schwer zu tragen für einen Sohn." (S. 231/232)

    Fünf Uniformen, vier Desertionen
    Während der Ich-Erzähler aus dem Gerichtssaal in Lyon berichtete und die erschütternden Aussagen der Überlebenden und Hinterbliebenen hörte, versuchte er gleichzeitig, die Lügengebilde des als Zuschauer anwesenden, in Barbie-Verehrung erstarrten Vaters zu entlarven. Dokumente aus der Hinterlassenschaft seiner Tante und illegal angeeignete Unterlagen eines Prozesses gegen den Vater wegen „Schädigung der Landesverteidigung“ sollten Klarheit bringen, die Konfrontation damit sein Schweigen brechen. Fünf Uniformen trug er in vier Jahren, die der französischen Armee, der Vichy-Kollaborationsarmee, als Freiwilliger der von der Wehrmacht zum Kampf gegen den Bolschewismus gegründeten „Légion Tricolore“, der Waffen-Grenadier-Brigade der SS „Charlemagne“ und schließlich der Résistance, viermal desertierte er. Was davon auf Überzeugung, was auf kühler Berechnung und was auf dem schlichten Wunsch, auf der Seite der Sieger zu stehen, beruhte, blieb sowohl im Prozess 1945 als auch für den Sohn und damit für uns Leserinnen und Leser unklar. Gesichert scheint, dass der Vater immer ein „Leichtgewicht ohne viel Talent“ (S. 243) war, dass er nicht mehr als die Grundschule besucht und keinen Beruf hatte, als er sich mit 17 Jahren freiwillig zur Armee meldete, und dass er schon immer ein notorischer Lügner und Hochstapler war.

    Gerichtsreporter und Sohn
    "Verräterkind" ist ein autofiktionaler Roman, dessen Fiktionalität vor allem in der Parallelität der beiden Handlungsstränge besteht. Während die Teile über den Barbie-Prozess und der Exkurs zum Schicksal der Kinder von Izieu mich mit ihrer einerseits reportagenhaften Klarheit, andererseits großen Emotionalität und atmosphärischen Brillanz vollkommen überzeugt haben, rückte die verzweifelte Wahrheitssuche des Sohnes für mich zunehmend in den Hintergrund, verblasste das Dickicht der Rollenwechsel dieses unbelehrbaren Charakters. Auch die Frage, ob Eltern ihren Kindern tatsächlich Rechenschaft schulden, vermag ich nicht so kategorisch zu bejahen wie Sorj Chalandon. Mehr noch als durch die Taten des Vaters fühlte sich der Ich-Erzähler verletzt durch dessen fehlendes Vertrauen und damit einen weiteren Verrat:

    "Du bliebst eine offene Frage und dein Krieg der reine Irrsinn. So konnte ich dich weder verstehen noch dir verzeihen." (S. 209)

    Ein zweifellos wichtiger, in Teilen grandioser Roman, der zeigt, wie die Vergangenheit fortwirkt.

  1. Emotional und aufwühlend

    Du meine Güte – was für einen Kracher hat Sorj Chalandon denn hier gezündet? Nichts Anderes als das (mein) ultimative(s) Jahreshighlight hat er mit „Verräterkind“ (aus dem Französischen übersetzt von Birgit Große, erschienen bei dtv) veröffentlicht.

    Dabei stößt man (ich) bei der Lektüre der 304 Seiten öfter an seine emotionale Grenze, als einem lieb ist. Zu aufwühlend erzählt Sorj Chalandon z. B. von seinem Besuch im ehemaligen Kinderheim von Izieu, aus dem am 6. April 1944 44 jüdische Waisenkinder verschleppt und anschließend deportiert wurden – veranlasst von dem Lyoner Gestapo-Chef Klaus Barbie, dessen Prozess im Mai 1987 einen Handlungsstrang des autofiktionalen Romans darstellt.

    Den anderen Prozess führt Sorj Chalandon mit bzw. gegen seinen Vater und dessen Lebenslügen. Schon als Kind wurde Sorj mit der Aussage seines Opas konfrontiert, er wäre ein „Verräterkind“. Im Lauf der Jahre erzählt der Vater dem Sohn immer neue ihn als strahlenden Helden darstellenden Geschichten. Doch dann bricht das Lügengerüst gnadenlos zusammen und es kommt zu einer tragischen Konfrontation…

    Sorj Chalandon ist nicht nur Schriftsteller, sondern auch Journalist. Als „Augenzeuge“ war er tatsächlich beim Prozess gegen Klaus Barbie dabei und wurde für seine Reportage 1988 auch mit dem Albert-Londres-Preis ausgezeichnet.

    In beeindruckenden Bildern und Sätzen macht Sorj Chalandon den ganzen Schmerz, die Trauer, die Wut der am Prozess beteiligten Personen für die Leserinnen und Leser sichtbar und stellt sich zwischen den Prozesstagen immer wieder den Fragen, die das Leben seines Vaters als Hochstapler und notorischen Lügner bei Sorj hervorrufen. Die zeitgleichen Prozesse haben so nie stattgefunden, aber es liest sich alles wie aus einem Guss – brillant.

    Durch die enorme Emotionalität und Tragik der Geschichte lässt sich der Roman nur bedingt am Stück „genießen“; ich brauchte z. B. immer wieder Pausen, um das Gelesene verarbeiten zu können.

    Trotzdem spreche ich hiermit eine absolute Leseempfehlung aus und vergebe 10 von 5* für dieses eindrucksvolle Dokument eines tragischen Kampfes zwischen Vater und Sohn, den ich keinem wünsche.

    ©kingofmusic

  1. Der Vater lügt, und der Sohn leidet ein Leben lang.

    Das Buch handelt zum einen von einer schwierigen Vater-Sohn-Beziehung und zum anderen vom Prozess um Klaus Barbie, der 1987 in Lyon stattfand.

    Dem Autor wurde im Alter von zehn Jahren von seinem Großvater erzählt, sein Vater habe zeitlebens „auf der falschen Seite“ gestanden, er selbst sei ein „Verräterkind“ (= Buchtitel).

    Chalandon versucht später, die Geschichte seines Vaters herauszufinden und vor allem aus den ganzen Erzählungen die Wahrheit herauszufiltern, denn der Vater war ein notorischer Lügner und hat sich vor allem immer wieder selbst seine eigene Wahrheit zurechtgelegt und erfunden.

    Erst als Chalandon über drei Ecken die Gerichtsakte seines Vaters samt Vernehmungsprotokollen und Zeugenaussagen in Händen hält, erfährt er, dass sein Vater Zeit im Gefängnis verbracht hat und stellt vor allem auch fest, dass sein Vater damals, im Alter von 22 Jahren, den ihn vernehmenden Offizier ebenso belogen hat, was sogar im Protokoll vermerkt wurde. Diesen Umstand – der allerdings erst nach dem Tod des Vaters vor ein paar Jahren stattgefunden hat – benutzt der Autor, um die Geschichte seines Vaters mit dem Barbie-Prozess zu verquicken. Denn der Vater sitzt Gerichtssaal und begegnet Barbie mit Verehrung und den Zeugenaussagen mit Häme.

    Der Satz mit der falschen Seite wird immer wieder im Buch erwähnt. Gegen Ende heißt es, er sei für den Zehnjährigen ein kleines schwarzes Steinchen gewesen, sei aber jetzt, in Lyon, 1987, zu einem Sack Steine mutiert, der für den Erwachsenen zu schwer zu tragen ist. Daher will Sorj seinen Vater mit den Unterlagen konfrontieren, es kommt zum Streit. Und zum Ende, das man nur als Wunschtraum interpretieren kann.

    Ich habe nicht aus dem Buch zitiert, weil ich das französische Original gelesen habe.

  1. 5
    04. Dez 2022 

    Verrat und wie man seine Wunden heilt – vielleicht.

    Zu was für einem Menschen wächst man heran, wenn man sich auf nichts, was einem der eigene Vater erzählt, verlassen kann? Wenn dieser ein notorischer Lügner und Trickser ist, cholerisch, unvorhersehbar, manipulativ? Wird man ein Mensch, der sich als Lebensinhalt die Suche nach der Wahrheit auf die Fahnen schreibt?

    Man könnte vermuten bei Sorj Chalandon sei dies der Fall gewesen, denn er ist ein hoch angesehener Journalist, Kriegsreporter und Schriftsteller geworden, nachdem er ein Leben lang seinem Vater kein Wort hat sicher glauben können. Der Vater des Autors, so entnehmen wir dem autofiktionalen Roman „Verräterkind“, soll während der deutschen Besatzung in Frankreich auf Seiten der Feinde, der Deutschen, gekämpft haben. So deutet es zumindest der Großvater des Erzählers an, als er dem Jungen an den Kopf wirft, er sei ein „Verräterkind“. Der Vater jedoch erzählt dem jungen Sorj immer wieder, wie er für die Résistance gekämpft und heldenhaft das Vaterland verteidigt habe. Was Wahrheit und was Lüge ist, versucht nun der Ich-Erzähler, gerade während in seiner Heimatstadt Lyon in 1987 der große Prozess gegen Klaus Barbie, der Gestapo-Mann, der in Lyon und Umgebung für schlimmste Gräueltaten verantwortlich war, stattfindet und der Erzähler selbst als Gerichtsreporter von vor Ort berichten soll, herauszufinden.

    Von der ersten Seite an nimmt einen die Erzählweise Chalandons gefangen. „Gefangen“ erscheint hier das richtige Wort, denn man ist gefangen in scheußlichen Taten gegen Kinder, Frauen, Männer – Menschen. Entsetzt liest man von einer Massenverschleppung aus einem französischen Kinderheim, welches jüdischen Kindern ein sicherer Ort hätte sein sollen. Ab diesem Punkt des Buches wechselt die Erzählung stets zwischen der Gerichtsverhandlung um Barbie und der ganz persönlichen Wahrheitssuche des Ich-Erzählers bezüglich der Taten seines Vaters hin und her. Ganz meisterhaft verknüpft hier Chalandon zeitlich zwei Prozesse. Einen Gerichtsprozess und einen Prozess der steten Annäherung und wieder Entfernung eines Sohnes von seinem Vater. Anhand von historischen Dokumenten aber auch immer wieder der direkten Konfrontation mit dem eigenen Vater versucht der Erzähler zu verstehen, was der Vater wirklich getan und warum er so gehandelt hat. Auf welcher Seite der Vater wirklich stand und ob er irgendetwas von dem, was der Erzähler von seinem Vater als Kind und noch als Dreißigjähriger gehört hat, glauben kann. Was das mit dem Erzähler macht, wird sprachlich stets auf den Punkt genau in kurzen Vignetten zwischen und auch während der Prozesstage um Klaus Barbie immer wieder eindrücklich verdeutlicht. So wandelt sich innerhalb des Romans der Begriff „Verrat“ und „Verräter“ immer wieder aufs Neue. Ist doch der Vater ein vermeintlicher Verräter, so fühlt es sich für den Sohn so an, als würde er mit seinem „Prozess“ am Vater diesen verraten, aber auch der Sohn fühlt selbst vom Vater verraten.

    Dass es sich bei Sorj Chalandon um einen großartigen Schriftsteller handelt, weiß man spätestens seit „Am Tag davor“. Präzise Formulierungen wie „Ich war dabei, die Kriege meines Vaters zu entdecken. Ob falsch oder wahr, das wusste ich nicht mehr, aber ich wollte nicht zum Ende seiner Geschichte gelangen, wie man ein Buch querliest.“ oder „Alles, was du behauptet hattest, war falsch, und alles, was du erzählt hattest, war wahr.“ brennen sich ins Gedächtnis der Leser:innen ebenso ein wie die schrecklichen Zeugenaussagen der Opfer während des Barbie-Prozesses. Vor allem mit der Konstruktion dieses Romans – und daran sieht man, warum ein Roman manchmal die bessere Form für eine Auseinandersetzung mit der eigenen und Familienbiografie sein kann – liefert der Autor ein Meisterstück ab. Diese kluge Dichtung und Verdichtung überzeugt auf allen Ebenen und unterstreicht, dass es sich bei Chalandon nicht nur um einen reinen Reporter sondern auch Romanautor handelt. Und wie schon bei „Am Tag davor“ hält der Autor eine überraschende Wendung am Ende des Romans für uns bereit.

    Ich bin durch und durch begeistert von Sorj Chalandon sowohl als Autor als auch von seinem vorliegenden autofiktionalen Roman „Verräterkind“, welches erneut ein absolutes Highlight für mich darstellt. Also lest diesen eindrücklichen Roman um Wahrheit und Lüge, um Annäherung und Abstoßung sowie vielleicht auch um ein wenig Heilung durch den Prozess der Wahrheitssuche.

    5/5 Sterne

  1. Nichts als die Wahrheit

    Als der Erzähler im zarten Alter von zehn Jahren von seinem Großvater erfährt: "Dein Vater stand im Krieg auf der falschen Seite", ist das eine solch prägende Information, dass sie das weitere Leben des Jungen erheblich beeinflussen wird. Noch dazu, weil der Großvater ergänzt, er sei ein "Verräterkind". Ein Begriff, der nicht nur den Vater brandmarkt, sondern auch das Kind. Dabei hatte ihm der Vater doch ausführlich über seine Heldentaten in der französischen Résistance berichtet. Was macht es mit einem Menschen, wenn er erkennt, dass sein Vater ihn jahrelang belogen hat? Wie fühlt es sich an, ein "Verräterkind" zu sein? Darüber schreibt Sorj Chalandon in seinem neuesten gleichnamigen Roman, der in der deutschen Übersetzung von Brigitte Große jetzt bei dtv erschienen ist. Dass "Verräterkind" als Autofiktion und damit als äußerst persönliches Werk angesehen werden kann, erfahren die Leser:innen schon in der Widmung. Er dankt seiner Lektorin, die ihn seit 2005 "auf dem steinigen Weg zu meinem Vater, meinem ersten Verräter, begleitete".

    Bereits das erste Kapitel zieht der Leserschaft mit ungemeiner Wucht den Boden unter den Füßen weg. Der Ich-Erzähler reist im April 1987 nach Izieu, um sich auf die Spuren der 1944 aus dem dortigen Kinderheim deportierten jüdischen Kinder und ihrer Betreuer:innen zu begeben. Er bereitet sich auf seine Reportage über den Gerichtsprozess gegen den deutschen Gestapo-Leiter Klaus Barbie vor, jenen "Schlächter von Lyon", der unter anderem auch für diese Deportation verantwortlich war. Unschwer sind bereits hier die Gemeinsamkeiten zwischen Sorj Chalandon und dem Ich-Erzähler zu erkennen, denn für diese Reportage wurde der Autor und Journalist 1988 mit dem Albert-Londres-Preis gekrönt. Chalandon erzählt in kurzen, pointierten Sätzen und macht das Grauen von Izieu unmittelbar deutlich. Er findet in einer tieftraurigen Szene die Schultafel eines getöteten Kindes mit dem Wort "Apfel" und richtet verzweifelt später in einem eindringlichen "Du" das Wort erstmals direkt an seinen Vater: "Warum wurdest du zum Verräter, Papa?" Fast scheint es, als könnte dieses erste Kapitel die Grundlage des gesamten Romans sein. Hätte Sorj Chalandon "Verräterkind" vielleicht gar nicht geschrieben, wenn er sich die Maison d'Izieu nicht selbst angeschaut hätte? Eine Spekulation, gewiss, doch eine zentrale Rolle kann man diesem Besuch kaum absprechen.

    In der Folge verknüpft Chalandon äußerst klug und geschickt die zwei entscheidenden Prozesse des Buches miteinander. Abwechselnd erzählt er vom Gerichtsprozess gegen Klaus Barbie und seinem eigenen, inneren Prozess: das Leben als Kind eines Lügners und Hochstaplers. Denn tatsächlich entpuppt sich die Geschichte des Vaters als so unglaublich, dass sie allein für einen mehrere hundert Seiten starken Roman ausgereicht hätte. Vater Jean wechselte im Zweiten Weltkrieg nämlich ständig die Seiten und Uniformen. Von französischen Legionären im Kampf gegen den Bolschewismus zur französichen Armee, von der deutschen Uniform zur französischen Résistance und wieder zurück. Ganz nebenbei erhält man zudem als Leser:in dabei einen hervorragenden Überblick über die verschiedenen politischen Strömungen und Bewegungen im besetzten Frankreich. Die Volten und Desertationen des Vaters sind so widersprüchlich, dass man ihnen kaum folgen kann. Und auch der Ich-Erzähler weiß gar nicht mehr, welche der zahlreichen Geschichten aus seiner Jugend er überhaupt noch glauben kann.

    So leistet sich "Verräterkind" in der Darstellung der Figuren seine einzige kleine Schwäche, die aber aufgrund der zahlreichen Stärken kaum ins Gewicht fällt. Denn der Vater wird nahezu durchgehend als ungebildeter Taugenichts dargestellt und auch die Mutterfigur wirkt zwar warmherzig, aber äußerst schwach und einfach gestrickt. Es mag zwar keine positive Eigenschaft sein, aber wenn ein Mensch sich über mehrere Jahre immer wieder aus lebensbedrohlichen Situationen befreit, indem er als "Wendehals" seine Fühler mal in diese, mal in jene Richtung ausstreckt, so ist es doch kaum eine Figur, die nichts kann und nichts auf die Reihe bekommt. Zudem dauert es geschlagene 295 Seiten, bis einmal so etwas wie eine zärtliche Szene zwischen Vater und Sohn aufkommt.

    Besonders stark sind die Szenen, in denen der Ich-Erzähler über seinen Vater und sich selbst sinniert. Still lässt Chalandon hier visuelle Eindrücke und Geräusche poetisch in seine ansonsten doch so prägant-schmerzhaften Sätze einfließen. Überhaupt dominiert der Schmerz, der auch für mich fast körperlich spürbar war. Diese Verletzungen und Zweifel, die Ängste und die Wut.

    Und auch das Finale gelingt Chalandon brillant. Die letzte Schlüsselszene ist so bewegend und vieldeutig konstruiert, dass man als Leser:in in einem Rausch aus Trauer und Erstaunen versinkt, nur um mit dem Umblättern auf die letzte Seite des Romans wieder in eine ganz andere Richtung gelenkt zu werden.

    Insgesamt ist "Verräterkind" ein grandioser Roman, der mit Sicherheit nicht zu Unrecht für den Prix Goncourt nominiert war. Intensiv, schmerzhaft, berührend, spannend und lehrreich lässt er die Leserschaft ungläubig zurück. Mit seinen zentralen Themen Schuld, Verrat, Schmerz und Moral leistet er auch mit Blick auf die heutige Gesellschaft einen wertvollen und unbedingt lesenswerten Beitrag.