Bin das noch ich

Buchseite und Rezensionen zu 'Bin das noch ich' von Stefan Moster
4.4
4.4 von 5 (12 Bewertungen)

Inhaltsangabe zu "Bin das noch ich"

Musik ist Simons Beruf und seine Berufung. Doch eines Tages auf einer Sommertournee durch Finnland, als er in einer Kirche Bartóks Solosonate für Violine spielt, passiert es: Zwei Finger der linken Hand verweigern ihren Dienst, Simon muss das Konzert abbrechen. Er ahnt, dass es sich nicht um einen einmaligen Aussetzer handelt, sondern um einen nicht heilbaren Defekt. Während er noch unter Schock steht, bietet eine Musikerkollegin an, ihm für eine Weile ihr Ferienhäuschen auf einer Schäreninsel zu überlassen, damit er Klarheit über seine Lage gewinnen kann. Ganz allein macht Simon sich mit der Natur der kleinen Insel vertraut, dem Meer, den Bäumen, den Möwen, lernt Bootfahren und Holzhacken. Und sucht nach einer Antwort auf die Frage, was er ohne seine Geige sein kann.

Format:Gebundene Ausgabe
Seiten:272
Verlag: mareverlag
EAN:9783866487123

Rezensionen zu "Bin das noch ich"

  1. Über die Fragilität des Selbst

    Stefan Moster ist hierzulande als Übersetzer aus dem Finnischen wie auch als Schriftsteller bekannt. Im Mare Verlag erschien nun der Roman "Bin das noch ich". Wie der Titel nahe legt, geht es darin im Kern um die Frage, was die eigene Identität ausmacht. Diese Frage spitzt sich zu durch eine massive Verlusterfahrung des Protagonisten. Er ist nun gezwungen die Identitätsfrage neu zu stellen und begibt sich in der Abgeschiedenheit und Schönheit einer finnischen Insel auf die Suche nach sich selbst. Dies ist eine allgemeine und stets brisante Thematik, die sicher viele Leser anspricht.

    Im Fall des Protagonisten Simons geht es um die Bedeutung der Musik für die eigene Identität. Simon ist Berufsmusiker. Nach der Corona bedingten Zwangspause, ist er überglücklich, wieder die musikalische Bühne betreten zu dürfen - als zweite Geige nur, aber immerhin. Man stelle sich diesen freudigen Moment vor. Und dann den tiefen Sturz ins Bodenlose, als Simon während seines Soloauftrittes, eines Stücks von Bartok, realisiert, dass sein wichtigste Kapital ihm die Dienste versagt: 2 Finger versagen ihm cen treuen Dienst. Simon muss das Konzert abbrechen. Schnell ist klar, dass dies keine vorübergehende Krise ist, sondern etwas Unheilbares, das seine alte gewohnte Welt in Stücke reißt. Durch die Absage von Konzerten lässt sich etwas Zeit gewinnen, und doch kommt Simon nicht daran vorbei, sich zu fragen, was nach dem "Tod seines Musiker-Ichs" noch von ihm bleibt?

    Weder Trost von Musikerkollegen noch der Blick auf vergleichbare Musikerschicksale allein helfen. Simon ist auf sich selbst zurückgeworfen. Er nutzt die Zeit auf einer einsamen, abgelegenen Insel im Norden Europas, um zur Ruhe zu kommen und seinem Schmerz Raum zu geben. denn solch eine Verlusterfahrung will erst mal verarbeitet werden, bevor ein beherzter Neuanfang möglich wird. Wer ist er selbst, wenn nicht mehr Musiker? Simon lässt sich auf das Inselleben ein. Moser beschreibt die Atmosphäre und Schönheit der Insel mitsamt ihrer Natur und insbesondere der faszinierenden Vogelwelt sehr plastisch. Für Simon ist es eine Art Medizin. Auch wenn er mit sich selbst sehr hadert, drauf und dran ist seine Geige zu opfern, entdeckt er am Ende doch, dass auch ein Leben ohne musikalisches Schaffen lebenswert ist - dass er zwar nicht mehr musizieren kann, aber dennoch "er" ist. Mehr sei hier nicht verraten.

    Die Thematik hat mich sehr angesprochen. Wir alle müssen uns doch irgendann im Leben mit unserer Identität, mit tieferen Konflikten auseinandersetzen und uns fragen, was uns eigentlich ausmacht? Insofern konnte ich gut mit Simon mitfühlen. Moser schreibt sehr gut und eindringlich, erweckt die Insel zum Leben, die vor dem inneren Auge ihre Schönheit entfaltet. Ich habe diesen Roman sehr gerne gelesen. Dennoch muss ich sagen, dass mir am Ende etwas gefehlt hat. Vermisst habe ich mehr Systematik und Facetten in der Behandlung und Thematisierung des Identitätskonfliktes. Das Thema an sich ist nicht neu. Ich habe schon einige ähnliche Geschichten gelesen. Trotz aller Schönheit bleibt am Ende der Eindruck einer gewissen Farblosigkeit. Es war eine schöne Lektüre für den Moment, aber neuere tiefere Erkenntnisse hat sie mir nicht gebracht. Auch hinterlässt die Geschichte bei mir keinen deutlichen Nachhall.

    Nichtsdestotrotz ein gutes und Lesenswertes Buch, das ich insbesondere musikalisch interessierten LeserInnen empfehlen kann.

  1. Symphonie der Stille

    Dieses Jahr scheint das „Jahr der leisen (Buch-)Töne“ zu sein. Anscheinend sehnen sich auch Autor:innen in diesen lauten Zeiten nach Ruhe und Zurückgezogenheit und schicken die Hauptpersonen ihrer Romane auf einsame Inseln, an (verregnete) schottische Lochs oder wie in „Bin das noch ich“ von Stefan Moster (erschienen im mare-Verlag) auf eine finnische Schären-Insel, die (hauptsächlich) von Vögeln bewohnt wird, die sich nebenbei als „heimliche Stars“ des Romans herauskristallisieren.

    Anyway: Dem Geiger Simon versagen bei einem Konzert der Solo-Sonate des Komponisten Béla Bartok die Nerven der linken Hand. Verzweifelt nimmt er das Angebot einer Kollegin wahr, sich auf einer finnischen Schäreninsel auszuruhen und über seine dramatische und karrieregefährdende Lage nachzudenken. Was macht ein Berufsmusiker, wenn ihm die Existenz buchstäblich unter den Fingern wegbricht?

    Dieser Frage geht Stefan Moster eindrucksvoll nach. Nicht nur, dass er die Leser:innen tief in Simon´s Seele, seine Gedanken und sein „sich selbst wiederfinden“ mitnimmt. Nein, er eröffnet Simon und somit auch uns (den Lesenden) eine Welt, die dem Hobby des Autors entspringt: der Ornithologie. Präzise Beschreibungen von Lauten, Wesensarten etc. verschiedener die kleine Schäreninsel bevölkernde Vogelarten stehen gleichberechtigt neben Simons Schicksal, seinen Zweifeln, Ängsten. Zwischendurch hat man als Leser:in Angst, es könnte etwas Schlimmes passieren – aber Stefan Moster umschifft gekonnt die Klippen des Schreckens und die Leser:innen können beruhigt aufatmen.

    Neben der eigentlichen Handlung gibt es immer wieder (fiktive) Briefe von Simon an eine ukrainische Geigerin, zu der er aufblickt, die er als das „Non-Plus-Ultra“ hält, an deren Klasse er nie heranreichen wird. Nun, hier möchte man Simon sagen:

    „Nur wer seinen eigenen Weg geht, kann von niemandem überholt werden.“ (Marlon Brando)

    Obwohl ein gesundes Maß an Selbstzweifel erlaubt sein sollte…Egal, das jetzt weiter auszuführen ist nicht Sinn und Zweck dieser Rezension *g*.

    Neben den schon genannten Inhalten gibt es natürlich immer wieder (musikalische) Bezüge, nicht nur auf Béla Bartok, aus dessen Leben die Leser:innen einiges erfahren, sondern auch auf etliche (klassische) Musikstücke sowie Hinweise auf Musiker:innen, die Simons Schicksal teilen. Als „Luxuskritikpunkt“ bringe ich jetzt mal die fehlende „Playlist“ zum Buch an, die es (mir) erleichtern würde, die im Buch genannten Stücke (schneller) hören zu können *g*. Aber das schmälert nicht im Geringsten meine Begeisterung für diese „Symphonie der Stille.“

    Darum gibt es 5* und eine absolute Leseempfehlung!

    ©kingofmusic

  1. 5
    07. Sep 2023 

    Ein Musiker in einer existenziellen Krise

    Stefan Moster hat sich einen Namen gemacht als Übersetzer finnischer Literatur, aber auch als Schriftsteller. „ Bin das noch ich“ ist sein sechster Roman.
    Simon Abrameit ist Berufsmusiker, Geiger. Er ist froh, nach der coronabedingten Zwangspause wieder auftreten zu können, obwohl er nur die zweite Geige spielen darf. Aber einen Soloauftritt hat er, mit dem möchte er sein Können unter Beweis stellen. „ Das Programm soll sein Phönixflug werden: das große Aufschwingen, das ihn über das Mittelmaß erhebt, zu dem er sich seit einer halben Ewigkeit verurteilt sieht.“ Die zwei Bach - Sonaten dürften keine Schwierigkeit darstellen, doch die Sonate von Bartok stellt höchste Anforderungen an den Geiger. Vor ihr fürchtet sich Simon, denn er hat seit einiger Zeit Probleme mit den Fingern seiner linken Hand. Das Befürchtete tritt ein, seine Finger versagen den Dienst, Simon muss das Konzert abbrechen.
    Seine Musikerkollegin Mai hat Verständnis für seine Situation und bietet dem völlig Zerstörten ihr Ferienhäuschen auf einer kleinen Schäreninsel an. Dort kann er in Ruhe über seine Lage nachdenken.
    Anfangs versucht Simon immer wieder Geige zu spielen. Zum einen, weil das Geigenspiel zu seiner täglichen Routine gehört, zum anderen in der Hoffnung, sein Problem mit der Hand möge sich gelegt haben. Aber: „ Die Wahrheit zu erkennen heißt nicht, sie anzunehmen.“
    Simon steht vor einer existenziellen Frage. Bisher war die Musik sein Lebensinhalt. Von Kind an hat er täglich geübt, nun verweigert sich dem sein Körper. Womit füllt er diese Lücke? Was macht ein Musiker, der sein Instrument nicht mehr bespielen kann ? Und vor allem, wer ist er noch, wenn er nicht mehr Musiker ist? Bin das dann noch ich? Um diese Fragen kreisen unablässig seine Gedanken.
    Simon hat keine engere Bindung zu anderen Menschen, seine Passion für die Musik ließ ihn einsam werden. Der Kontakt zu seiner Mutter ist nur sporadisch und beschränkt sich auf Floskeln.
    Einzig Darja scheint ihm wichtig zu sein. Darja, das Wunderkind, die früh aus der Sowjetunion geflohen ist und im Westen eine beispielhafte Karriere als Violinistin hingelegt hat. Darja, die ihm in jungen Jahren, einzig durch ihr Spiel, gezeigt hat, dass er Mittelmaß ist und bleiben wird. An sie sind die nicht abgeschickten Briefe adressiert, in denen er versucht, sich über sich und seine Lage klarzuwerden.
    Gleichzeitig ruft Simon sich die Biographien anderer Musiker mit ähnlichen Problemen ins Gedächtnis , denkt an Pianisten, die im Krieg eine Hand verloren haben. Oder an Bartok, der gezwungen war, ins Exil zu gehen und dort schwer krank starb. So erhält man als Leser gleichzeitig einen interessanten Einblick in Musikerleben, und Simons Biographie wirft einen kritischen Blick auf den unbarmherzigen Musibetrieb. Um das Ganze abzurunden, empfiehlt es sich, die im Text angesprochenen Musikstücke anzuhören.

    Der Prozess der Verarbeitung braucht Zeit. Aus der geplanten einen Woche werden mehrere, die Simon auf der menschenleeren Insel zubringt. Er ist gezwungen, hier ganz elementare Dinge zu tun, Feuer zu machen, Holz zu spalten, ein Boot zu lenken. Es erfüllt ihn mit Stolz, solche handwerklichen Verrichtungen zu beherrschen.
    Er beobachtet die Vögel und ist fasziniert von ihren Verhaltensweisen und vor allem von ihren unterschiedlich klingenden Stimmen. ( Dass Stefan Moster Hobby- Ornithologe ist, merkt man den detaillierten Schilderungen aus der Vogelwelt an.) Simon nimmt auf einmal die Klänge der Natur wahr.

    Als Leser begleitet man den Protagonisten auf diesem schmerzhaften Weg vom Erkennen zur Akzeptanz. Es passiert äußerlich nicht viel, doch umso bewegender ist das, was im Inneren der Figur passiert. Denn Simon steckt nicht nur in einer existenziellen Lebenskrise, sondern sieht auch ganz konkret sein finanzielles Fundament weg brechen.
    Moster beschreibt dies mit sehr viel Einfühlungsvermögen und mit einem genauen Blick für Details. Großartig sind aber nicht nur seine Beschreibungen der seelischen Nöte des Protagonisten, sondern die Art, wie er die Insel mit Flora und Fauna, den Wind und das Meer zum Klingen bringt.
    Ein leiser, aber intensiver Roman, der mich von Anfang an in seinen Bann geschlagen hat.

  1. Der Weg zu sich selbst

    Bin das noch ich? Diese Frage stellt sich der Geiger Simon, nachdem ihn seine Finger im Stich gelassen haben,und er ein Konzert abbrechen musste. Es kam für ihn eigentlich nicht überraschend, diese Aussetzer gab es schon häufiger. Doch nun muss er sich dem stellen. Eine Musikerkollegin handelt direkt und nimmt ihn mit auf eine kleine Insel, auf der er für sich allein zur Ruhe kommen soll. Mai, seine Kollegin, versorgt ihn mit dem nötigsten und verspricht ihm bald nach ihm zu sehen. Man merkt schnell, dass auch Mai viel mit der Insel verbindet, das sie dort ebenfalls einiges verarbeitet hat.
    Simon weiß dort mit sich erstmal nicht viel anzufangen, betrachtet seine Geige oft, berührt sie und führt eine Art Tagebuch, das er an eine befreundete Musikerin richtet, die viel erfolgreicher ist, als er es ja war. Es blitzt sehr viel Trauer um diese Tatsache durch, dabei verstand er sein Handwerk ebenfalls gut. Mir drängte sich die Frage auf, ob man immer unter den Besten sein muss, um gut zu sein. Und warum man sich nicht mit dem zufrieden geben kann, was man erreicht hat. Liegt es in der Natur des Menschen zu immer höheren Zielen zu greifen? Oder ist es ein Problem was Simon für sich allein beansprucht? Eine Frage, die ich auch nach der Lektüre nicht beantworten konnte.

    Nach kurzer Zeit beginnt Simon sich mit praktischen Dingen zu beschäftigen, er beobachtet außerdem die Vögel auf der Insel. Sieht, wie mühsam für sie alles ist, und wie selbstverständlich sie allem trotzen. Sie zerbrechen nicht an Unwägbarkeiten oder Katastrophen, sie machen weiter.
    Dieser Selbstfindungsprozess ist unterlegt mit vielen Passagen, die sich mit der Musik beschäftigen. Als Laie hatte ich erst bedenken, ob ich allem folgen kann. Doch diese Sorge war unbegründet, denn es kommt nicht auf Fachkenntnisse in diesem Bereich an. Man muss nur verstehen wie wichtig dies alles für einen Musiker ist.
    Die Hände sind das Kapital, sind sie krank wie in Simons Fall, muss man umdenken oder schauen, ob Ärzte helfen können.

    Ich nehme hier den Ausgang dieses Romans absichtlich nicht vorweg, denn jeder Leser sollte sich selbst herantasten an Simons Weg. Ich kann nur sagen, dass es mir gefallen hat Simon auf diese Insel zu begleiten.
    Die Kombination aus Selbstfindung und den Beschreibungen der Vogelwelt empfand ich als sehr gelungen und lesenswert!

  1. Aus der Stille entsteht Musik - poetisch, zart und intensiv

    Der Berufsmusiker Simon steht an einem Wendepunkt in seinem Leben. Es kündigt sich schon eine Weile an und plötzlich ist er da, der Tag, an dem nichts mehr geht. Zwei Finger seiner linken Hand versagen rigoros den Dienst und ein Leben als Violinist ist zumindest vorläufig nicht mehr möglich.

    Noch halbwegs im Schockzustand, wird Simon von einer Musikerkollegin an einen ruhigen, menschenleeren Ort gebracht. Auf eine kleine Schäreninsel mit einer Hütte. Dort soll Simon zur Ruhe kommen und sich seiner Situation bewusst werden, um alles weitere in die Wege zu leiten.

    Während Simon die Vogelwelt auf der Insel beobachtet und lieben lernt, tritt ihm die Tragweite seiner Situation immer deutlicher vor Augen. Schon bald erkennt er, dass er bisher nur zum Musizieren gelebt hat und es umkreist ihn angesichts des Verlustes seiner musikalischen Fähigkeiten nun die Frage „bin das noch ich?“. Was bleibt von ihm übrig ohne das Musizieren?

    "Und Musiker sprechen über Musik. Vor dem Auftritt sprechen sie darüber, wie sie es tun wollen, nach dem Auftritt, wie sie es getan haben, und falls sie danach nicht auseinandergehen, können sie den Rest des Abends damit verbringen, darüber zu reden, wie sie es künftig tun werden." (S.84)

    Simon ist völlig hilflos, weiß nicht, wie sich ein neues Leben anfühlen soll, worüber er ab jetzt sprechen soll, wenn nicht über das Musizieren. Und so reiht sich Woche an Woche, die er braucht, um für sich ein bisschen klarer zu sehen und zu sich neu zu finden…

    Der ganze Roman fühlt sich im Grunde an wie

    „[…] eines der Werke von Bach […], die so klingen, als bewegten sie sich außerhalb der Chronologie, weil ihre Verlaufsbogen das Ende nicht vorausahnen lassen, bis kurz vor Schluss wirken sie so, als würden sie niemals aufhören, ein endloses Gespräch mit Gott und der Welt, eine Auflehnung gegen die Diktatur der Zeit. Ein Protest gegen die Sterblichkeit.“ (S.48)

    Das Ringen mit sich selbst und dem Sinn des Weiterlebens sind immer wiederkehrende Gedanken, die sich vor und zurück bewegen, begleitet vom Klang der Natur, den Simon stetig deutlich wahrnimmt. Lange lehnt er sich auf gegen das Unvermeidliche: das Akzeptieren der Situation. Bei diesen hin- und her-schweifenden Gedanken erfahren wir einiges aus der Vergangenheit Simons, lernen sein langjähriges künstlerisches Vorbild Darjia kennen, der Simon in (nie abgeschickten) Briefen seine Gedanken nahebringt, und um deren Familie in der Ukraine er sich angesichts der schrecklichen Kriegsumstände sorgt. Nicht zuletzt erfahren wir viel Biografisches über den Komponisten B. Bartók, dessen Sonate für Solovioline Simon zuletzt gespielt hat.

    „Wenn Bartók der Sologeige Vogelstrophen schrieb, stellte er sich womöglich vor, dass statt der Vögel Geiger in den Bäumen hockten und von dort ihre Melodien aussandten, so lange, bis die Liebe zuschlug und sie daraufhin verstummten. Wo noch schön gespielt wird, herrscht die werbende Sehnsucht. Aus ihr heraus entsteht Musik. Ist der Wald dann still geworden, heißt es, dass er vor Erfüllung schweigt. Er steckt voller Liebe und ihrer Folgen.“ (S.57)

    Man könnte endlos weiter zitieren aus dem so zart-poetischen Roman, in dem das Innerste von Simon sensibel auf alle Veränderungen im Außen reagiert und die Welt neu entdeckt, wo jedes Geräusch in der Stille der Insel an Musik erinnert und Simon mehr und mehr spüren lässt, dass die Musik ihn nie verlassen wird.

    Mein Fazit: Wunderschöne Naturbeobachtungen und Klangerlebnisse in Verbindung mit Sinnfragen eines Musikers und dem Mut, einen Neubeginn zu wagen, machen den Roman zu einem intensiven, poetischen, stillen, zarten Meisterstück, dessen Klangvolumen noch sehr lange in mir nachhallen wird. Nicht nur für Musikliebhaber*innen sehr empfehlenswert. (Aber ganz besonders für diese!)

  1. Inselbeobachtungen

    Ein Mann begibt sich auf eine einsame Insel. Er muss den Verlust seiner Fähigkeiten verarbeiten. Er ist Geiger von Beruf. “Er ist nah daran, Mais These zu übernehmen, eine Insel könne einem helfen, wieder Herr über sein Leben zu werden, weil sie klar umgrenzt sei und man sich deshalb nicht so winzig vorkomme, trotz des großen Meeres ringsherum.”
    So einfach wie die Hütte ist auch der Alltag auf der Insel: Simon beobachtet Seevögel, schreibt seine Gedanken auf, denkt nach. Man merkt, dass er durch und durch Musiker ist, hört er doch überall Tonfolgen, Klänge, die er mit seiner Leidenschaft verbindet. Zum Vogelbeobachter wird er erst dort beim Anblick brütender Möwen.
    “Bin das noch ich” ist die Frage, die es zu beantworten gilt. Was bleibt, wenn die Musik geht? Stefan Moster behandelt dieses Thema auf eine feinfühlige Art, die bei seinen Lesern Saiten zum Klingen bringt. Darüber hinaus hätte ich mir gewünscht zu erfahren, wie der Protagonist neben seiner Kontemplation die Umgebung erlebt, dass er auch mal Hunger bekommt oder die Wand anschreit. Der Roman schafft ansonsten eine gelungene Atmosphäre für die Auseinandersetzung mit Musik und Ornithologie.

  1. Die ganze Welt ist Klang - Ein großartiger Künstlerroman

    Simon Abrameit ist Violinist. Er selbst bezeichnet sich nicht als Virtuose, denn es gibt weit bessere als ihn. Dennoch hat er sein Auskommen. Er reist durch die Welt, um als Solist aufzutreten. Neuerdings zeichnen sich allerdings Probleme mit seiner linken Hand ab, die in schwierigen Passagen ihren Dienst verweigert und schmerzt. Dieses Handicap versetzt Simon in Unruhe und während eines Solokonzerts kommt es zum Eklat: „Als der dritte Finger das A und der vierte das Cis greifen soll, schmerzt die Hand nicht nur, (…), sondern erstarrt in einer Qual, die den ganzen Arm sowie die linke Schulter lahmlegt. Und wer die Schwingen nicht mehr strecken kann, stürzt ab.“ (S. 20)

    Kollegin Mai kann diesen Absturz gut nachempfinden und bietet Simon Zuflucht in ihrem Haus auf einer finnischen Schäreninsel an, um nachzudenken und sich neu zu orientieren. Tatsächlich ist Simon der einzige Mensch dort. Ohne nennenswerte Ablenkungen und Pflichten hat er genug Zeit, um seine Gedanken zu ordnen. Die Musik war ihm bis jetzt alles. Mit seiner Mutter hat er nur sporadisch Kontakt, Freunde außerhalb der Musikerblase gibt es nicht. Sein Metier hat ihn einsam gemacht. Simon beginnt, ein Tagebuch zu führen. Adressatin ist unter anderem die gleichaltrige Darja, die stets sein Vorbild war und eine bemerkenswerte Karriere auf den größten Bühnen der Welt absolviert hat. Sie ist sein fiktives Gegenüber, von ihr fühlt er sich verstanden. „Was, wenn man keinen Bach mehr spielen kann? Und auch nichts sonst. Was dann, Darja?“ (S. 31)

    Was Stefan Moster in diesem Roman leistet, ist große Kunst. Es gelingt ihm, dass man von Beginn an eine große Nähe zum Protagonisten empfindet, der in eine existentielle Krise geraten ist. Seine Frage: Was bleibt von mir, bin das noch ich?, wird zur Kernfrage und zum Leitmotiv des Romans. Simon streift über die Insel, nimmt die Landschaft, das Meer und vor allem die Vogelwelt mit allen Sinnen wahr. Geräusche verwandeln sich in seinem Innern in Tonfolgen und Melodien. Als Leser erschließt sich das fragile Wesen eines Musikers, der seine Geige zwar immer wieder hervorholt, jedoch an seiner linken Hand scheitert. Seine Gedanken, Ängste, Emotionen, seine innere Leere und Verzweiflung bekommen vor der Kargheit und Stille der Inselwelt einen weiten Resonanzraum. Simons besondere Aufmerksamkeit gilt einem Möwenpärchen, dessen Nest sich direkt vor der Hütte befindet und mit dem er sich auf vorsichtige Weise anfreundet. Er erkennt immer mehr Parallelen zwischen sich und den Vögeln, die auch regelmäßig mit Verlust und Schmerz zurechtkommen müssen – das Leben muss weitergehen.

    Der Autor arbeitet sich perfekt in die Figur ein. Die naturverbundene Erzählweise entfaltet große Intensität. Simons Reflexionen führen zu seiner Herkunft, zu den Anfängen seiner musikalischen Karriere, zur Bedeutung der Musik für sein Leben. Von den Sonaten Bartóks wird er zur Biografie des Komponisten geführt, der auch mit Krankheit und sogar dem Verlust der Heimat konfrontiert wurde. Seine bewunderte Kollegin Darja stammt aus der Ukraine: Hat sie nicht ein ungleich größeres Schicksal zu erleiden vor dem Hintergrund des aktuellen Kriegsgeschehens? Es ist fabelhaft, wie Moster hier das persönliche Thema des Protagonisten mit aktueller Weltgeschichte verbindet. Hier wirkt nichts gewollt, sondern jeder Puzzlestein fügt sich harmonisch an seinen Platz. Bezüge werden in den richtigen Kontext gestellt.

    Ich bewundere die stimmige Poesie und vielschichtige Symbolik, die sich aus dem Text ergibt, der in einem ruhigen, leisen Fluss dahinfließt. Zahlreiche einprägsame Sprachbilder kann man entdecken, die den Prozess der Veränderung begleiten. Moster ist ein Meister der Sprache! Wie er Worte für etwas findet, für das es nur bedingt Worte gibt, nötigt mir größten Respekt ab. Der Sound des Buches hat mich von der ersten Seite an fasziniert.

    Auch wenn das Grundthema ein ernstes ist, wird der Text immer wieder durch Perspektivwechsel und zuweilen humorvolle Episoden abgerundet. Alltagsverrichtungen wie Holzhacken oder auf dem Festland Einkaufen müssen erledigt werden. Langeweile kann beim Lesen nicht aufkommen. Dieser Roman wurde auf geniale Weise komponiert. Sobald man am Ende angekommen ist, blättert man interessiert zurück, um weitere textuelle Bezüge aufzustöbern. Der Erzählbogen wird stimmig über die verschiedenen Stationen des Inselaufenthaltes gespannt, Anfang und Ende stehen im Verhältnis zueinander.

    „Bin das noch ich“ ist ein Buch für alle Menschen, die Musik lieben. Es sind aber definitiv keine profunden Kenntnisse derselben vonnöten. Alles, was man wissen muss, ergibt sich von selbst. Der Roman portraitiert einen Menschen, der glaubt, nicht nur seine berufliche Grundlage, sondern sein gesamtes Ich verloren zu haben. Ich glaube, dieses Buch kann eine wunderbare Bereicherung für alle Menschen sein, die sich schon einmal in einer ähnlichen Ausnahmesituation befunden haben; ebenso wie für alle anderen auch. Der Text beruhigt. Man genießt jede Zeile. Aus meiner Sicht ist der Roman ein meisterliches Werk. Ich möchte unbedingt weiteres von Stefan Moster lesen.

    Ein Highlight! Riesige Leseempfehlung!

  1. Selbstfindung auf einer einsamen Insel

    Der Geiger Simon Abrameit hat Probleme mit seiner linken Hand. Er sorgt sich, aber erst als es bei einem Solokonzert Probleme gibt, muss er sich der Realität stellen. Auf einer einsamen Schäreninsel versucht er herauszufinden, wer er ist und was sein Handikap für ihn bedeutet. Doch auch hier auf der Insel vermeidet er, sich mit seinem Problem auseinanderzusetzen. Lieber beobachtet er das Meer und die Vögel, hackt Holz und repariert ein Baumhaus. Darüber hinaus vergleicht er sich mit Künstlern, die ein ähnliches Schicksal getroffen hat. Besonders das Schicksal von Bela Bártok beschäftigt Simon. Er schreibt Briefe an Darja, die er als Jugendlicher bei einem Vorspiel kennenlernte und mit der er sich immer wieder vergleicht. Diese Briefe wird er nie absenden. Bei allem was er auf der Insel tut, ist auch stets die Musik in und um ihn.

    Es ist ein ruhiger, etwas melancholischer Roman, der mich trotzdem gepackt hat. Immer wieder habe ich zwischendurch die Musikstücke angehört, die im Buch erwähnt wurden. Die Beschreibung der Natur, vor allem der Vögel, hat mich beeindruckt. Ich habe beim Lesen das Meer rauschen hören und das Konzert der Vögel.

    Auch den inneren Konflikt von Simon konnte ich gut nachvollziehen, denn was bleibt, wenn das Wichtigste im Leben plötzlich nicht mehr möglich ist. Simon hat zwar Schwierigkeiten Geige zu spielen, doch die Musik ist in ihm und wird ihm auch nicht verloren gehen. Doch bis Simon das erkennt und sich seinen Problemen stellt, benötigt er eine ganze Weile.

    Mir hat dieser leise, aber dennoch intensive Roman mit seiner bildhaften, poetischen Sprache gut gefallen.

  1. 4
    19. Aug 2023 

    Selbstfindung eines Musikers in den finnischen Schären

    Simon ist Berufsmusiker, sein Instrument ist die Geige. Während eines Konzerts in Helsinki muss er seinen Auftritt wegen starker Schmerzen in der linken Hand abbrechen. Er kann nicht mehr spielen und zieht sich auf eine kleine Insel in den finnischen Ostseeschären zurück. Hier spielt der Hauptteil des Romans.

    In einer einfachen Hütte, als einziger Bewohner der Insel, ist Simon auf sich selbst zurückgeworfen und reflektiert sein Leben, hadert mit seiner Karriere als Musiker, hackt Holz, geht schwimmen, beobachtet fasziniert die Natur, insbesondere die Vogelwelt mit ihren vielfältigen Tönen. Unterbrochen wird sein Alltag nur von kurzen Besuchen seiner Musikerkollegin Mai, die ihn mit Lebensmitteln versorgt.

    Auf der Insel versucht er immer wieder, seine täglichen Übungen mit der Geige aufzunehmen. Es ist zwecklos, die Schmerzen sind zu groß. Dabei lebte er doch bisher nur für die Musik, das Geigespielen war sein Leben. Was geschieht, wenn ein Vollblutmusiker nicht mehr spielen kann, sein ganzer Lebensinhalt quasi wegbricht, davon handelt dieser Roman.

    In nie abgeschickten Briefen an Darja, eine aus der Ukraine emigrierte Stargeigenspielerin, die er in einem Wettbewerb in der Jugend kurz kennenlernte, setzt Simon sich mit seiner eigenen, durchschnittlichen Karriere auseinander. Gleichzeitig findet das Thema des aktuellen Ukrainekriegs durch diese Briefe Eingang in den Roman.

    Die klassische Musik nimmt einen großen Teil des Romans ein. Der Leser erfährt u. a. viel über Bach und Bartok. Sehr viel Raum gibt der Autor auch den Naturbeschreibungen, insbesondere der Vogelwelt. Ein brütendes Möwenpaar wird von Simon liebevoll besorgt beobachtet. Graureiher, Seeschwalben, Gänsesäger, ein Schwarzspecht und immer wieder Möwen und deren Stimmen begleiten den Leser.

    Der Autor beschreibt die Atmosphäre auf der Insel, den Wind in den Espen und Birken, das Rauschen des Meeres, das Licht in den hellen finnischen Sommernächten in ausdrucksstarken, geradezu poetischen Bildern. Dadurch erzeugt der Roman einen gewissen Klang, in dem sich selbst die Stille nachempfinden läßt.

    Dieses Leise, Melancholische, die Verknüpfung der Naturgeräusche mit der Musik in Simons Innerem, hat mir sehr gefallen. Auch die Entwicklung, die Simon durchmacht, fand ich eindrucksvoll beschrieben. Einzig die Erwähnungen des Ukrainekrieges waren mir etwas zuviel, hier wäre weniger mehr gewesen.

    Ich vergebe 4 Sterne für einen stillen, tiefgründigen Roman. Für Natur- und Musikliebhaber sehr zu empfehlen.

  1. Identitätskrise eines Violinisten

    Simon Abrameit ist Berufsmusiker - Violinist - und zu einem Konzert in Helsinki eingeladen. Er reist mit gemischten Gefühlen aus Deutschland an.

    "Es hat mit seiner linken Hand zu tun. Sie ist unzuverlässig geworden" (S.9). Alle anderen freuen sich jedoch auf diesen gemeinsamen Auftritt, da sie nach der Corona-Pandemie endlich wieder vor Publikum musizieren dürfen.

    "Nur aus Russland ist diesmal niemand dabei" (S.10), während die Musikerinnen und Musiker aus der Ukraine herzlich begrüßt werden. Der Roman spielt folglich im Sommer 2022.

    Simon trifft auch die Violinistin Mai wieder, deren Eltern zur Zeit des Vietnamkrieges nach Deutschland geflüchtet sind und die einen Finnen geheiratet hat. Nachdem seine linke Hand ihn bei der schwierigen Sonate für Violine solo von Béla Bartok im Stich lässt, denn sie "erstarrt in einer Qual, die den ganzen Arm sowie die linke Schulter lahmlegt" (S.20), bietet sie ihm an, sich in ihrem kleinen Ferienhaus auf einer einsamen Schäreninsel zurückzuziehen.

    In der Auseinandersetzung mit seinem Handicap schreibt er auf der Insel in sein Notenheft Briefe an Darja, ebenfalls eine Violinistin, die einst aus Russland in den Westen geflohen ist und ukrainische Großeltern hat. Gemeinsam mit ihr hat Simon vor Jahrzehnten auf einem Wettbewerb gespielt und "erkannte sofort (ihre) überragende Begabung und erkannte sie auch an, neidlos, wie man so sagt, mit Bewunderung." (S.81)

    Seine Vergleiche und Erinnerungen an Darja zeigen, dass er von der Angst, nicht gut genug zu sein, schon seit jenem Wettbewerb beherrscht wird. Schon damals hatte er Zweifel, ob Violinist als "Beruf(ung)" für ihn noch in Frage kommt.
    Und auch jetzt auf der Insel stellt er sich die Frage, wer er denn sei, wenn er nicht spiele.
    Simon ist in einer Existenzkrise und braucht offenkundig Zeit, um sich damit auseinanderzusetzen, was er außer Violinist noch sein kann. Die Frage "Aber bin das noch ich?" (S.132) treibt ihn um und gleichzeitig zur Natur, zu den Vogelstimmen. Wie eine Teilnehmerin aus der Leserunde recherchiert hat, ist Moster Hobby-Ornithologe. Das merkt man den Beschreibungen der einzelnen Vogelarten, deren Brutverhalten sowie deren Singstimmen deutlich an. Gleichzeitig ist dies eine Stärke des Romans sowie die detaillierte Darlegung dessen, was Simon beobachtet, was er hört, wie er sich auf der Insel fühlt und sich zwingt, nicht zu üben.
    Nebenbei lesen wir auch eine Art Biographie des ungarischen Musikers Béla Bartok, ebenfalls ein Exilant, und schlüpfen in das Denken eines Musikers, der die Stücke, die er spielt, innerlich hören kann. Sehr faszinierend geschildert. Auch die Geräusche der Natur klingen für ihn wie Musik - "Die Welt ist Klang" als Leitmotiv.
    Obwohl der Roman sehr handlungsarm ist, ist er weder langweilig noch langatmig, da die Identitätskrise Simons und sein Erleben der Natur auf der Insel die Lesenden gefangen nehmen.
    Der Roman ist in der personalen Perspektive Simons verfasst, bis auf die Briefe an Darja, die er in sein Notenheft schreibt, sowie einen Teil, der sozusagen einen Auszug aus jenem Heft bildet.

    Diese Briefe und das Notizbuch aus der Ich-Perspektive haben mir am besten gefallen. Gerade, weil Darja ein Gegenüber, ein positives Vorbild für den Protagonisten ist. Eine Adressatin seiner Gedanken, weil er glaubt, sie verstehe ihn.
    Der letzte Teil hätte für mein Empfinden etwas kürzer ausfallen können, ansonsten - ein wunderschöner Roman.

  1. Boot, Wasser, Vogel und Note.

    Kurzmeinung: Roman zum Entschleunigen viel Musik, viel Natur.

    Ausnahmsweise einmal möchte ich das ausdruckstarke Cover dieses Romans loben; es passt perfekt zum Geschehen. Denn der Protagonist, Simon Abromeit, lebt ein paar Wochen lang allein auf einer Insel mit reicher Vogelwelt. Er ist Musiker und geschockt, weil seine Finger ihm den Dienst versagen. Berufskrankheit. KarriereEnde.
    Stefan Moster verknüpft das Erleben der Natur mit dem Erleben der Musik. Die Vogelwelt der Insel mit seinen besonderen kleinen Höhepunkten nimmt den Musiker allmählich gefangen. Den Leser auch. Dennoch kreisen die Gedanken des Violonisten unaufhörlich um die beiden Stücke, die er zuletzt einstudiert hat, zwei Solostücke für Violine, eins von Bach und eins von Bártok.

    Der Kommentar:
    Insel und Natur funktionieren immer. Auf dieser Schiene funktioniert Mosters Roman ganz hervorragend.
    Was nicht so recht funktioniert, ist das Zwiegespräch des Violonisten Simon Abromeit mit einer imaginierten berühmten Violinistin in Briefen, wodurch der Musiker seinen zwiespältigen Gefühlen auf die Spur kommen möchte.
    Warum muss diese Violonistin ausgerechnet eine Ukrainerin sein? Man merkt das Anliegen Mosters: unbedingt muss in den Roman hinein, wie nahe ihm das Kriegsgeschehen in der Ukraine geht. Davon hat aber niemand etwas. Die Ukrainer nicht und der Roman auch nicht, diese Linie wirkt krass aufgesetzt.

    Weil der Protagonist das Leben und Leiden Bachs und Bártoks während seiner musikalischen Studien akribisch recherchierte und während seiner Inselzeit darüber resümiert und in Beziehung zu seinem eigenen Erleben setzt, erfährt auch die Leserschaft Details aus den schwierigen Lebensphasen dieser beiden Musiker. Insoweit hat man im dem Roman „Bin das noch ich?“ eine Minibiografie Bela Bártoks. Die intensiven Passagen über Details einzelner Musikstücke sind zum Teil jedoch langatmig. Stefan Moster reizt die Beschreibungen der musikalischen Werke zu sehr aus. Denn er muss damit rechnen, dass, wer die vorgestellten Stücke nicht kennt und zwar sie nicht in- und auswendig kennt, damit wenig anfangen kann, selbst dann nicht, wenn diese Beschreibungen vom Autor lyrisch verpackt werden. Inwieweit man Musik verbal transportieren kann, steht sowie so in Frage. Jeder, der es versucht, muss scheitern.

    Was im Roman schmerzhaft fehlt, ist indes die Identitätssuche des Musikers. Wer er ist, wenn er kein Musiker ist, erfahren wir nicht. Denn der Violonist setzt sich zwar mit Musik auseinander und mit dem Verlauf seiner bisherigen Musikerkarriere, wie könnte es anders ein in einem Musikerroman, aber letztlich erfährt man kaum etwas über den Protagonisten und seine Persönlichkeit.
    Eine Identitätskrise liegt vor, aber eine Identitätssuche im eigentlichen Sinne findet nicht statt. Deshalb kann der Roman bei mir nur bedingt punkten. Ein wenig Ornithologie hebt diesen Mangel nicht auf. Die Frage, „Bin das noch ich“, lautet im Buch nämlich schlicht und einfach, „wieviel Musik kann ich behalten, wenn ich nicht mehr aktiv musizieren kann“ – und damit geht der Roman in eine Engführung und an seinem durch den Titel suggerierten Thema vorbei. Er ist hübsch geschrieben, ohne Zweifel, beschränkt sich aber auf musikalische Details und ornithologische Beobachtungen.

    Fazit: Sehr spezieller Roman für Musikliebhaber und Musikkenner. Hübsch geschrieben; geht aber nicht unter die Haut.

    Kategorie: Mit Anspruch.
    Verlag: Mare, 2023

  1. Ein leiser, intensiver Roman

    „Wenn die Noten verstummen und nicht einmal mehr Bachs notierte Freiheit der Artikulation hilft, den Ton zu treffen, weil es keinen Ton mehr gibt. Was, wenn man keinen Bach mehr spielen kann? Und auch nichts sonst.“ (Zitat Seite 31)

    Inhalt
    Simon Abrameit ist Geiger, Musik ist sein Leben. Er vermutet schon länger, dass etwas mit zwei Fingern seiner linken Hand nicht stimmt. Im Rahmen eines Sommerfestivals spielt er ein Solokonzert, Bach und Bartók, und genau hier passiert es endgültig, er muss den Auftritt abbrechen. Er braucht Zeit zum Nachdenken, wie es weitergehen soll. Das einfache Ferienhaus seiner Musikerkollegin Mai auf einer kleinen, abgelegenen Insel wird sein Rückzugsort. Nur er, die Natur der endlos hellen Mittsommertage, die Seevögel und hier besonders ein brütendes Möwenpaar in Hausnähe, und dazu die notwendigen Tätigkeiten des Alltags. Zwischen Hoffnungslosigkeit und Aufbruch schwebend, macht er sich Gedanken über die vielen Facetten der Musik, über sein Leben als Musiker, beobachtet täglich gespannt den Ablauf der Natur und versucht dabei, sich selbst nicht zu verlieren.

    Thema und Genre
    In diesem Roman geht es um die Musik und die damit eng verbundenen Themen, um die Vielseitigkeit der Natur auf einer einsamen Insel im finnischen Mittsommer und um die Suche nach einem Neubeginn, wenn plötzlich nichts mehr so ist, wie es war.

    Charaktere
    Simons Leben ist die Musik und seine Geige, die ihn viele Jahre lang durch sein Musikerleben geführt hat, obwohl er nie der herausragende, international berühmte Konzertsolist war. Er ignoriert die Probleme mit seinen Fingern, bis es nicht mehr möglich ist und er gezwungen ist, sich mit der Situation auseinanderzusetzen.

    Erzählform und Sprache
    Im Mittelpunkt dieses Romans steht Simon, der sich ein Leben ohne Musik nicht vorstellen kann und durch äußere Umstände gezwungen ist, genau darüber nachzudenken. Er steht im Mittelpunkt einer personalen Erzählform, die ihm in die Einsamkeit der kleinen Schäreninsel folgt, auf der es nur das Ferienhäuschen gibt und die Natur – das Meer, die Bäume, die vielen Vogelarten, das Rauschen der Wellen an sonnigen Tagen und bei stürmischem, wildem Seegang, die ungewohnte Helligkeit der Mittsommernächte. Es sind diese Schilderungen, poetisch, leise und doch bildintensiv, die zusammen mit der Hauptfigur und ihren Konflikten den beeindruckenden Sog dieses Romans ausmachen. Die Spannung der Sprache entsteht aus dem Wechsel in der Erzählformen, personal, doch unterbrochen durch Simon im gedanklichen Gespräch mit Darja, einer berühmten Geigerin, deren Karriere er von Jugend an mitverfolgen konnte, und Simon als Ich-Erzähler, der seine Sicht einer entscheidenden Situation der personalen Schilderung des Erzählers gegenüberstellt. Spannung erhält die Handlung selbst besonders durch die Frage, wie Simon mit seiner Situation umgehen wird.

    Fazit
    Es gibt Bücher, in denen man sich von der ersten Seite an „zu Hause“ fühlt, so ging es mir mit diesem Roman. Mein Interesse an Simon mit seinen einfühlsam und präzise dargestellten Problemen und Fragen war sofort geweckt, die Naturschilderungen in ihrer Vielfalt sind beeindruckend und packend, dazu noch interessantes, für mich neues, Musikwissen, besonders über Bela Bartók, auch Bach hatte ich bisher nicht mit Violinkonzerten verbunden. Ein leiser und gleichzeitig starker Roman, ein in allen Bereichen positives, überzeugendes Leseerlebnis.