Der Lüster: Roman

Buchseite und Rezensionen zu 'Der Lüster: Roman' von Clarice Lispector
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4 von 5 (1 Bewertungen)

Inhaltsangabe zu "Der Lüster: Roman"

Format:Taschenbuch
Seiten:368
Verlag: btb Verlag
EAN:9783442749058

Rezensionen zu "Der Lüster: Roman"

  1. Kreativ, poetisch, atemlos

    Zur Handlung zitiere ich mal die Beschreibung von buecher.de:
    Auf den ersten Blick ist das Leben der jungen Virgínia unauffällig: Nach ihrer Kindheit auf dem Landsitz der Großmutter führt ihr Weg sie in die Stadt, und erst nach Jahren kehrt sie wieder nach Hause zurück. Geprägt von ungewöhnlichen Kinderspielen mit ihrem Bruder Daniel, der mit ihr die mysteriöse »Gesellschaft der Schatten« gründet, führt Virgínia selbst ein Schattendasein, das im Widerspruch zu ihrem aufgewühlten Innenleben steht. Obwohl sie Beziehungen eingeht, bleibt sie einsam, unabhängig und in sich gekehrt. Doch während sie sich in Gedanken eine eigene Welt erschafft, dringen wiederholt seltsame Dialogfetzen oder flüchtige Szenen in ihr Bewusstsein - als Vorboten des Schocks*, der ihrem Leben schließlich eine dramatische Wendung gibt. (Zitatende)

    Dieser Roman ist in einer unglaublich poetischen Sprache mit mächtigen Bildern und kreativem Vokabular und mit ungewöhnlicher Interpunktion geschrieben, fast atemlos.
    Drei Beispiele:
    - Typische Beschreibung: (Virgínia ist neu in der Stadt) Seite 190
    Ihr Aberglaube war das Zarteste, das sie erfahren hatte; im Dahingleiten einer Sekunde konnte sie jene warme und rätselhaft vehemente Aussage überschreiten, dass das Ding, verstehst du?, einfach da ist, genau da, und doch ist es so, die Gegenstände, der kleine Krug hier zum Beispiel, der weiß ganz tief von sich; und selbst dieses gekippte Fenster, der kleine Tisch, der da auf drei Füßen unter der Zimmerdecke steht, verstehst du?, der weiß tief von sich; und dann gibt es da auch das, was nicht anwesend ist (und das hilft, das hilft, und alles geht vorwärts) (selbst diese (Kraft)) )ein Augenblick, der folgt, und ihm entstammen das Ja und das Nein) (und so geht es noch 8-10 Zeilen weiter)

    - Skurrile Situation: (Virgínia ist zum Abendessen eingeladen, geht in den Salon zu den anderen Gästen und kommt dabei durch das Esszimmer) Seite 109
    In wenigen Minuten würde sie unvermeidlich den Salon betreten, und alle würden nicht sehen, wie sie ihm eine Sekunde lang zulächelte, wie sich befreien? Nicht von etwas Bestimmtem, sondern einfach nur sich befreien, sie hätte nicht zu sagen gewusst, wovon. Einen Augenblick lang blieb sie gedanken-los, stand nur da, den Kopf gebeugt. Sie nahm eine Serviette, ein rundes Brötchen ... mit außerordentlicher Anstrengung, einen verblüfften Widerstand in sich brechend, gab sie dem Schicksal eine andere Richtung, warf Serviette und Brötchen aus dem Fenster – und bewahrte so dir Macht. (später folgt dem Brötchen noch ein Kristall-Weinglas)

    - Atemloser Stil: (im Bus) Seite 302
    Auf einmal die reglosen Gesichter über den Körpern, die Hitze der Reifen, der Staub, glänzend gegen die Sonne, mit einem Mal eine Bewegung ihres eigenen Arms am Sitz oder an der Brust entlang, sie weckte in ihr das Begreifen der Wollust, die in sanften, ununterbrochenen Schwingungen die Luft durchzog und mit brüchigen, bebenden Fäden die Lebewesen verband. Da bebte der Mund einer Frau, fast weinend oder fast lachend vielleicht; und der Hals jener anderen, glatt und dick, versteift durch Bewegungen, die unterdrückt und verschlossen waren; und die Hand des Mannes mit der hellen Haut, wie endlich auf den Haltegriff am Sitz gestützt, starrend von Ringen ... nur noch kurz, und der Moment würde sich auflösen in einen unterdrückten Schrei, in Wut, Wut und Schlamm.

    Virgínia fährt nach dem Tod der Großmutter aus der Stadt zurück ins Elternhaus, verschwindet einfach ohne Ankündigung. Und plötzlich wechselt das Buch aus ihrer Perspektive in die ihres Liebhabers Vicente. Das macht sie mehrfach, dass sie als Ich-Erzählerin zurücktritt und einer anderen Erzählstimme den Vortritt lässt. Die betreffende Person entfernt sich dann aus der Situation und wird zum Erzähler.

    Ich habe mich mit diesem Buch sehr schwergetan. Einerseits mochte ich den Sprachfluss, die Melodie, den kreativen Umgang mit Worten und vor allem mit vermeintlich unpassenden Adjektiven. Andererseits liegt mir der ganze Stream of Consciousness eigentlich gar nicht (deshalb ein Stern Abzug). Und trotzdem habe ich neidlos anerkannt, dass dieses Buch ein Meisterwerk und diese Frau eine große Künstlerin ist. Ich glaube, ich werde mich jetzt doch an ihre Kurzgeschichten und Erzählungen in meiner englischen Gesamtausgabe machen.

    Vier von fünf Sternen.
    * Der Schock des Klappentexts ist in der Tat ein Schock, aber irgendwie auch typisch für ihre Figuren.