Serge: Roman
Die Geschwister Serge, Jean und Nana stammen aus einer französisch jüdischen Familie. Es verbindet sie nicht viel Gemeinsames. Der Vater ist vor einigen Jahren verstorben. Als nun auch die Mutter stirbt verfallen sie auf die seltsame Idee, miteinander die Gedenkstätte des ehemaligen Konzentrationslagers Auschwitz aufzusuchen.
Die französische Autorin Yasmin Reza hat selbst jüdische Wurzeln. Überzeugt hat mich seinerzeit ihr Werk Der Gott des Gemetzels vor allem wegen der pointierten Dialoge in diesem Kammerspiel der Eitelkeiten. In „Serge“ stellt sie uns nun die Familie Popper vor.
Serge, der mit seinen gut 60 Jahren der Älteste der drei, geschieden, mit einer Tochter aus erster Ehe ist ein unsensibler Egoist. Unbedacht stößt er seine Mitmenschen und Angehörigen vor den Kopf. Nana ist verheiratet mit Ramos. Dessen Herkunft aus dem Arbeitermilieu ist oft genug Futter für Serges herablassenden Spott.
Jean steht ein bisschen in der Mitte, er ist auch der Ich-Erzähler in diesem Roman, ein bemühter Vermittler und Beobachter.
Meistens kreist die Handlung um alltägliche Probleme, Beziehungsgeschichten, aufgefüllt mit Anekdoten früherer Ereignisse. Der Versuch, die Familie durch die gemeinsame Reise nach Auschwitz zu einen, scheitert.
Was dieses Buch an Fragen aufwirft, was es bedeutet jüdisch zu sein, was Familie bedeutet, wie mit dem Alter, Krankheit und Tod umgehen – große Fragen – allein auch dieses Buch findet dazu keine Antworten.
Diskussionswürdig ist allerdings die Haltung der Autorin zu den Gedenkstätten, wie weit Orte wie Auschwitz benutzt werden dürfen, das Gedenken aufrecht zu erhalten. Ist es gerechtfertigt Besucherströme durch diese Orte zu schleusen, diese faktisch touristisch aufzubereiten? Braucht es einen physischen Zugang um „niemals zu vergessen“? In mir jedenfalls erzeugt es ein extremes Unbehagen, einen Ort wie Auschwitz als Ausflugsziel zu verstehen. Für diese Überlegungen hat es sich wohl doch gelohnt den Roman „Serge“ zu lesen.
Lasst euch von der Überschrift nicht ablenken, liebe Leser:innen! Denn genial finde ich „Serge“ von Yasmina Reza (erschienen 2022 im Carl Hanser Verlag und aus dem Französischen übersetzt von Frank Heibert und Hinrich Schmidt-Henkel) weiß Gott nicht. Banal – ja, das trifft es (leider) eher.
Yasmina Reza erzählt auf gut 200 Seiten die Geschichte einer nicht gerade typischen jüdischen Familie aus Paris. Die Geschwister Popper (Serge, Jean – aus dessen Ich-Perspektive der Roman geschrieben ist – und Nana) machen sich nichts aus der Religion ihrer Eltern, aber in erster Linie auch nichts aus sich selbst.
Nach dem Tod der Mutter, die „[…]diese Kuddelmuddelkiste, unsere Familie geschaukelt [hat]“ (S. 13) erst recht nicht. Da mutet der Vorschlag von Serge´s Tochter Josephine, einen Ausflug nach Auschwitz zu machen, augenrollend merkwürdig an, wird aber trotz aller Unwägbarkeiten und Fragezeichen nach der Sinnhaftigkeit (auch im Nachhinein)
„Ich antwortete, ich hätte mir nichts Bestimmtes von dieser Reise erwartet und sei noch unschlüssig, was sie gebracht habe." (S. 156)
von den drei Geschwistern und Josephine angetreten.
Und die groß angekündigte Besichtigung von Auschwitz und Birkenau nimmt dann (leider) nur einen geringen Teil der Handlung ein. Und ist genau DER Teil, der mich am meisten überzeugen konnte. Hier zeigt Yasmina Reza meiner Meinung nach, wozu sie schriftstellerisch in der Lage ist – nämlich kritisch den Massentourismus an Orten der Erinnerungskultur mit Selfies vor den Gaskammern („Seht, ich war in Auschwitz!“ = 100.000 Likes; überspitzt dargestellt!) anzuprangern und zu hinterfragen. Ja, wir brauchen Orte, an denen wir an die Grauen des Nazi-Regimes erinnert werden. Und ja, wir brauchen von Generation zu Generation Autor:innen, die sich damit auseinandersetzen, um aus den Fehlern der Vergangenheit zu lernen. Ja, ich weiß – im Angesicht der momentanen Situation klingt das zynisch. Was wir jedoch nicht brauchen, sind 100 Millionen Fotos auf Smartphones und in (a)sozialen Netzwerken von diesen Orten – mit Shorts, Sonnenbrille etc. und dem perfekten Filter perfekt in Szene gesetzt.
Vor und nach dieser Episode strotzt der Roman jedoch vor Banalitäten und absurden Situationen, die mich mehr haben gähnen und Fragezeichen auf der Stirn erscheinen lassen als dass ich davon begeistert war. Die Charaktere sind durchweg unsympathisch und wenn an einer Stelle doch mal vernünftiges Personal auftritt, bleibt es bei einem (unpersönlichen) Kurzauftritt.
Für einige Leser:innen mag Yasmina Reza einen feingeistigen Humor haben; ich konnte an genau EINER Stelle im Buch herzhaft lachen. Aber was für die Banalitäten gilt, kommt auch hier zur Anwendung: jede:r sieht es anders und darf es auch anders bewerten.
Für den Ausflug der Geschwister Popper nach Auschwitz, den dadurch gewonnenen neuen Kenntnissen (die Judenrampe kannte ich zuvor nicht) und die zwei/ drei gelungenen Absätze vom Schlage eines
„[...] der außerstande ist, sich an irgendeinem Ort zu erfreuen, ohne sogleich darauf zu hoffen, ihn wieder zu verlassen, unter dem Vorwand, er müsse sein Leben lang fliehen. Unser Vater sagte, er hat Hummeln im Hintern, immer ist es irgendwo anders besser! In seinen Augen war das kein gutes Omen. Er sah in dieser Ruhelosigkeit nur Eitelkeit, er sah darin nur Irrsinn oder Krankheit. Ich habe nie geglaubt, dass es sich um schlichte Ruhelosigkeit handelte. Die Vögel sind weder ruhelos noch verrückt. Sie suchen den besten Ort und finden ihn nicht. Alle Welt glaubt an einen besseren Ort.“ (S. 161/162)
vergebe ich 2,5 (3)*.
Schade; ich hatte definitiv mehr erwartet.
©kingofmusic
Irgendwie sind sie alle verkorkst, die drei jüdisch-säkularen Geschwister Popper aus Paris. Aus Serge, mit 60 Jahren der Älteste und an Führerschaft gewöhnt, ist ein „König der nebulösen Unternehmungen“ und Aufschneider geworden, ein Egozentriker und Besserwisser, dessen Beziehungen regelmäßig scheitern. Jean, der mittlere Bruder und Ich-Erzähler mit teils auktorialem Wissen, für den sich der Vater nie interessierte, ist ein Zauderer, Beobachter und „Würstchen“ und fürchtet, das wahre Leben verpasst zu haben. Er schreckt vor einer dauerhaften Partnerschaft zurück, kümmert sich aber einfühlsam um den entwicklungsverzögerten Sohn seiner Ex-Partnerin. Die Jüngste ist Anne, genannt Nana, einstiger Liebling der Eltern, deren intakte Ehe mit einem Spanier in der Familie als Mesalliance gilt und belacht wird. Sie sucht ihr Glück in ihrer Familie und in der Wohltätigkeit.
Ein Tod zu Beginn
Jahre nach ihrem Mann Edgar Popper stirbt zu Beginn des Romans die Mutter Marta:
"Diese Kuddelmuddelkiste, unsere Familie, die hast du geschaukelt, Omi, sagte meine Nichte Margot auf dem Friedhof." (S. 13)
Als Jüdin mit ungarischen Wurzeln verlor sie ihre Familie in Auschwitz, wehrte sich aber lebenslang gegen eine Opferrolle. Legendär für die drei Geschwister sind die erbitterten Streitereien der Eltern über das Thema Israel, das der Mutter regelmäßig den Vorwurf des Antisemitismus eintrug. Über Vergangenes wurde kaum gesprochen, die Kinder fragten nicht nach, und nun ist es zu spät.
Von Serges Tochter Joséphine, einem „Sprössling in der Identitätskrise“, stammt der Vorschlag zu einer Auschwitzreise. Ohne wirkliche Motivation, ohne gemeinsame Vorstellung vom Umgang mit dem Gedenken und mit viel zu vielen eigenen Problemen im Gepäck wird der Familienausflug nach Auschwitz zum Fiasko:
"Wir gehen über einen Weg, der zu keiner Zeit gehört. Und wir selbst haben keine Ahnung, was uns hierhergeführt hat." (S. 116)
Schwieriges Erinnern
Es wird viel gestorben in diesem Roman und mit der alten Generation gehen Erinnerungen an den Holocaust verloren. Braucht es deshalb Gedenkorte wie Auschwitz? Oder verkommt die Erinnerung dort zur Touristenattraktion, also quasi zu einem Disneyland des Gedenkens? 2,3 Millionen Besucherinnen und Besucher verzeichnete das Museum Auschwitz-Birkenau 2019, ein Grund zur Freude? Die 1959 geborene jüdisch-französische Autorin Yasmina Reza zweifelt, indem sie die Geschwister Popper orientierungslos durch das KZ stolpern lässt, die Berechtigung solcher Orte und die gängigen Bewältigungsstrategien an:
"Von der Erinnerung ist nichts zu erwarten. Dieser Fetischismus der Erinnerung ist bloßer Schein." (S. 106)
Gute Unterhaltung und wertvoller Denkanstoß
Was den Roman "Serge" für mich so lesenswert macht, ist die gelungene Verbindung aus Komik und Tragik, die bühnenreifen, temporeichen, teils skurrilen, teils bitteren, teils urkomischen Dialoge bei melancholischer Grundstimmung, und die sehr kreativen Wortschöpfungen in der deutschen Übersetzung von Frank Heibert und Hinrich Schmidt-Henkel. Obwohl nicht unbedingt sympathisch, habe ich sehr gerne über die Geschwister Popper gelesen, die bei allen Differenzen doch nicht voneinander loskommen, eine gemeinsame Geschichte teilen und im Ernstfall füreinander da sind. Die Mischung aus unterhaltsamen, völlig alltäglichen, aber nie banalen Episoden und tiefgreifenden Fragen nach der „richtigen“ Erinnerungskultur für die Zeit nach dem Tod der Augenzeugen ist Yazmina Reza vorzüglich gelungen. Obwohl ich ihre Ansichten nach meinem Besuch im würdigen, stillen KZ Ravensbrück nicht pauschal teile, hat mich der Roman zu Fragen geführt, die ich mir vorher so noch nie gestellt hatte.
Der Klappentext von „Serge“ verspricht Antworten auf „große Fragen“: „Was bedeutet Familie? Was heißt jüdisch sein? Wie umgehen mit Alter, Krankheit und Tod?“ Tja, was soll ich sagen, auch nach der Lektüre von „Serge“ weiß ich nicht mehr über diese Themen.
Zur Frage nach der Bedeutung von Familie: Nach Yasmin Reza ist Familie ein mehr oder weniger loser Menschenverbund aus Geschwistern samt Anhang, die sehr wenig voneinander wissen, sich nicht besonders leiden können, nicht gut miteinander umgehen, sich gegenseitig unter Druck setzen und, um Zusammenhalt zu beschwören, in unregelmäßigen Abständen in Anekdoten aus der Vergangenheit schwelgen.
Was jüdisch sein bedeutet, kann ich dem Roman beim besten Willen nicht entnehmen. Die, durchaus zentrale, Reise nach Auschwitz begründet keine jüdische Identität, sie dient der Autorin vielmehr als berechtigte Kritik an der massentauglichen Inszenierung von Gedenkstätten und dem damit verbundenen wenig sensiblen Tourismus.
Bezüglich des Umgangs mit den bedrückenden Drei - Alter, Krankheit und Tod - hat „Serge“ mir nur sehr eindrucksvoll und überspitzt dargelegt, dass Männer offensichtlich gar nicht mit diesen Themen umgehen können. Mit zunehmendem Alter offenbart sich die Unreife der männlichen Figuren stärker, im Angesicht der Krankheit werden Untersuchungen am liebsten vertagt und Tod ist etwas das eher abgewickelt und absolviert wird – wobei ich zugeben muss, dass ausgerechnet die Einäscherung der Mutter noch die „humorvollste“ Episode dieses Romans, der angeblich „bissig, zärtlich und herzzerreißend komisch“ ist, darstellt.
Bissig mag der Roman in Passagen sein, vor allem in seinem tatsächlich besten Augenblick, dem Auschwitz-Aufenthalt von Serge, seinen Geschwistern und der Nichte. Hier wird nicht nur schonungslos der Umgang mit Erinnerung und Gedenken enthüllt, sondern es kommt auch so etwas wie eine sinnvolle, durchgängige und nachvollziehbare Handlung auf – das einzige Mal im gesamten Roman. Leider ist die Reise recht kurz und mit der Heimkehr nach Paris gleitet der Roman wieder in öde, langweilig zu lesende und willkürlich erscheinende Alltagsepisoden ab, die sich vor allem durch Banalität auszeichnen.
Die Hauptfiguren dieses Romans, der Erzähler Jean und sein Bruder Serge, sind träge, langweilige, alternde Männer aus der Kategorie nerviger Onkel, neben dem man auf Familienfesten ungern sitzen würde, weil er nur an sich selbst interessiert ist und nichts geregelt bekommt, aber immer noch der verklärten Selbstwahrnehmung verhaftet ist, sehr bald ganz groß rauszukommen.
Sprachlich und stilistisch ist der Roman ebenfalls enttäuschend. Der Humor mag für viele Leute funktionieren – meiner ist es nicht, von der angeblichen Zärtlichkeit ist allenfalls auf den letzten, sehr bemühten Seiten etwas zu spüren. Diese sind dann aber inhaltlich so mit künstlicher Tragik überfrachtet, dass man den Eindruck bekommt, die Autorin hätte auf den letzten Metern an ihren Figuren noch etwas gutmachen wollen.
Eine langweilige Leserfahrung, die ich nicht weiterempfehlen kann.
Yasmina Reza führt uns im Roman „Serge“ in eine französisch-jüdische Familie ein, für deren inzwischen erwachsene Kinder das Jüdischsein nie eine besondere Rolle gespielt hat. Allein in Auseinandersetzungen der Eltern über den Staat Israel hat sich dieser Aspekt ihrer Familiengeschichte immer mal wieder bemerkbar gemacht. Nun sind die Eltern – Bindeglied in der Familie – verstorben und die Kinder suchen irgendwie nach einem neuen Verhältnis zueinander. Alle drei, Jean, Serge und Nana sind sehr unterschiedliche Charaktere, leben in unterschiedlichen Beziehungskonstellationen und sind eingebunden in ihre eigenen, individuellen Probleme und Herausforderungen mit Kindern, Partnern, Berufen. Eine der Töchter findet im Buch einen sehr passgenauen Ausdruck für ihre Familie: sie bezeichnet sie als "Kuddelmuddelkiste". Und in diesem Kuddelmuddel verschlungen entschließen sich die drei Geschwister doch gemeinsam mit ihren Familien zu einer gemeinsamen Reise, die sie ausgerechnet nach Auschwitz führen soll.
Hier wird das bisher im Roman angerissene Thema „Geschwister im Erwachsenenalter“
"Ich weiß gar nicht mehr, wie wir Geschwister es geschafft haben, diese ursprüngliche Komplizenschaft zu bewahren, wir waren uns nie besonders ähnlich oder besonders nah. Geschwisterbeziehungen zerfasern, leben sich auseinander, hängen nur noch am seidenen Faden von Sentimentalität oder Konvention."
- ein Thema, das mir literarisch eher unterbelichtet erscheint - leider aus den Augen verloren. Ebenso wie die Fragen der Geschwister nach der Kenntnis über die Geschichte der Eltern – eine auch für mich immerwährend schwelende Frage. Noch dazu wo ich in einem Alter bin, in dem die Eltern als Zeugen und zur Beantwortung von Fragen immer seltener zur Verfügung stehen.
"Unsere Eltern sind dahingegangen und haben uns nicht mehr hinterlassen als Fragmente, womöglich erdichtete biografische Restbestände, man kann kaum behaupten, dass wir uns für ihre Saga interessiert hätten."
Zwei Gedankenstränge also in dem Roman, die, verknüpft mit den jüdischen Ursprüngen mein Interesse zu Beginn sehr stark geweckt haben.
Allerdings verliert der Roman diese Stränge bald aus dem Sinn und Blickfeld. Die Schilderung des Lebens der Geschwister und ihres Anhangs und der Familien in Paris und Umgebung im Einerlei der persönlichen Problemlagen bleibt für mich leider ohne großen Spannungsbogen, ohne sprachliche Highlights und für mich auch ohne Lachen hervorbringender Humor. Und auch die therapeutische Familienreise nach Auschwitz konnte meine Erwartungen nicht wirklich erfüllen. Zwar ist es eine interessante Haltung, die hier geschildert wird: ein Besuch bei vollkommenem Ausbleiben des Schreckens angesichts des Ortes bei den handelnden Figuren - das ist schon ein Wagnis der Autorin.
"Ich denke nicht an die Tausende von Deportierten, die in einem anderen Jahrhundert auf absurde Weise dort hingeschafft wurden, sondern an den gealterten Körper meiner Schwester."
Auch diese „unerhörte“ Stimmung und Haltung hätte ich gern in dem Roman näher ausgeführt bekommen, doch schon rast der Roman wieder weiter und kommt wieder im Alltagseinerlei in Paris und Umgebung an. Und da wird es für mich wieder beliebig, etwas belanglos und eher nichtssagend. Ja, Serge scheitert mit seiner egomanischen Hilfsaktion für seinen Neffen beim schweizerischen Sternekoch. Und ja, Maurice stirbt allein und Serge erfährt vom nagenden Krebs in ihm. Doch das alles geht irgendwie unter in einer "Kuddelmuddelkiste", die tiefere Eindrücke nicht mehr hergibt. Schade! Ich hatte mich auf interessante Einblicke der Geschwisterbeziehungen gefreut und auf eine besondere jüdische Haltung zum modernen jüdischen Leben mit seiner Verarbeitung der Vergangenheit.
Ich kann dem Roman deshalb leider nur 3 Sterne geben.
Yasmina Reza hat sich v.a. als Autorin von Theaterstücken weltweit einen Namen gemacht. Daneben schreibt sie aber auch Prosatexte. Nun ist ein neuer, schmaler Roman von ihr erschienen, „ Serge“, in dem es u.a. um jüdische Identität geht. Yasmina Reza, 1959 in Paris geboren, ist selbst Tochter jüdischer Eltern. Der Vater stammt aus dem Iran, die Mutter aus Ungarn.
Jüdische Wurzeln haben auch die Geschwister Popper aus ihrem Roman. Doch sie sind ohne jüdischeTradition aufgewachsen, leben als assimilierte Juden in Paris. Die Eltern legten keinen Wert auf jüdisches Brauchtum und Religion und sprachen kaum von ihrer Vergangenheit. Obwohl die ungarische Familie der Mutter in Auschwitz ermordet wurde, war das kein Thema in der Familie. Die Mutter wollte „ um nichts in der Welt …Opfer sein.“ Dagegen war die Existenz Israels ein ständiges Streitthema zwischen dem Ehepaar. Für die Mutter schuf der Staat Israel nur neue Probleme, während der Vater ihn für einen „ Ort der Wiedergutmachung und des jüdischen Geistes“ hielt.
Die Geschwister Popper, das sind der titelgebende Serge, sein zwei Jahre jüngerer Bruder Jean und Nana, die Jüngste.
Serge, 60 Jahre alt, hat eine Tochter aus erster Ehe und lebt nun mit Valentina zusammen. Er ist ein Frauenheld und Lebemann und ein etwas windiger Unternehmensberater. Obwohl selbst wenig erfolgreich, fühlt er sich anderen überlegen und sagt jedem ungefragt ,
was er denkt. Er ist ein eher unangenehmer Zeitgenosse, der jeden seine Dominanz spüren lässt.
Dagegen hat Jean, der Ich- Erzähler der Geschichte, die Funktion des Vermittlers innerhalb der Familie. Er steht beruflich sehr gut da, ist unauffällig, mehr ein Beobachter und Zauderer. „Ich hingegen bin der Mitläufer ohne Eigenschaften…“, so beschreibt er sich selbst. Dabei ist er fähig zur Empathie. Das zeigt sich vor allem im Umgang mit dem kleinen Sohn seiner Freundin.
Nana ist die Einzige, die mit Mann und zwei Kindern eine intakte Familie vorweisen kann. Ihr Mann Ramos, ein aus dem Arbeitermilieu stammender Spanier, ist Zielscheibe beständigen Spotts der beiden älteren Brüder, zum Ärger von Nana. Sie ist impulsiv und direkt, wie Serge. Seit die Kinder groß sind, hat sie Zeit für soziale Projekte.
Die Poppers sind eine typische, leicht dysfunktionale Familie, die Yasmina Reza hier in pointierten Dialogen aufeinandertreffen lässt. Die Geschwister sind, wie oft üblich, im Verlaufe der Jahre auseinandergedriftet; jeder ist mit seinem eigenen Leben beschäftigt. Einzig die gemeinsamen Mittagessen bei der Mutter sorgten für einen gewissen Zusammenhalt. Doch nach deren Tod fällt auch das weg.
Nun hat Josephine, Serges Tochter, den Wunsch, gemeinsam mit ihrem Vater Auschwitz zu besuchen. Sie möchte den Ort kennenlernen, wo ihre Vorfahren den Tod gefunden hatten. Serge hält überhaupt nichts von dieser Idee, während Nana sich sofort anschließen möchte. Als Puffer sozusagen reist Jean mit. Nana organisiert, Jean zahlt und „ weil Josephine, Sprössling in der Identitätskrise, sich vorgenommen hat, das Grab ihrer Vorfahren aufzusuchen,…, reißt sie uns mit, dieses geschichtsvergessene, ungezwungene Trio aus ihrem Vater, ihrer Tante und ihrem Onkel.“
Diese Reise bringt die Familie aber nicht näher zusammen, im Gegenteil. Angesichts der Gedenkstätte verweigert sich Serge dem ganzen Unternehmen, versteht nicht, was das mit ihm zu tun haben soll, Jean bleibt distanzierter Betrachter, während die Frauen akribisch und mit Betroffenheit jedes Detail kommentieren .
Völlig zerstritten fahren sie nach Hause und finden erst Monate später wieder im Krankenhaus zusammen, wo Serge auf seine Diagnose wartet. „ Nana sagt, zum letzten Mal waren wir in Auschwitz zusammen und jetzt zum PET- CT im Madeleine- Bres. Wir könnten uns wirklich mal was Lustigeres vornehmen.“
Im Zentrum des Buches steht die Auschwitz- Reise der Protagonisten. Yasmina Reza übt hier deutliche Kritik am Holocaust- Tourismus. Besucher in Freizeitkleidung strömen über die Gedenkstätte, machen Selfies vor dem Eingangstor oder dem Stacheldraht, fotografieren die Kratzspuren an den Wänden des Vergasungsraums, immer auf der Suche nach Authentischem. Abends dann drängen sich die gleichen Leute auf den Straßen von Krakau , „ morgens Horror, abends Mittelalterfestival“.
Doch es geht Yasmina Reza um weitaus mehr, nämlich um die Sinnhaftigkeit von Gedenkstätten. Welche Funktion haben sie noch, wenn die Überlebenden von damals alle tot sind ? Als Mahnung für die Nachfahren spricht die Autorin ihnen ihre Wirkung ab. „ Vergesst nicht. Aber warum? Um es nicht wieder zu tun? Aber du wirst es wieder tun. Ein Wissen, das nicht zutiefst mit einem selbst verbunden ist, bleibt folgenlos. Von der Erinnerung ist nichts zu erwarten.“
Eher in der Literatur, so Yasmina Reza, findet man noch die wahre Begegnung mit dem Holocaust.
Der Besuch hat die Familie nicht geeint, das wäre auch unglaubwürdig gewesen. Dazu sind die Figuren zu selbstbezogen, zu verstrickt in ihr tägliches Einerlei. Die Auschwitz- Reise ist auch nur eine von vielen Episoden im Leben der Protagonisten , wenn auch eine zentrale. Die Autorin greift neben der Frage nach der richtigen Erinnerungskultur viele verschiedene Themen in ihrem Roman auf. Es geht ihr um die Bedeutung von Familie, um Geschwisterbeziehungen, um Krankheit, Alter, und Tod.
Mit einem scharfen und kühlen Blick beschreibt Yasmina Reza ihre Figuren. Dabei bleibt sie feinfühlig und lässt auch Mitleid mit ihnen zu. Sie zeigt die Menschen mit ihren Fehlern, mit ihrem Scheitern und ihren Lebenslügen. Die Popper-Geschwister sind alt geworden; die Generation ihrer Eltern stirbt nach und nach. Bald sind sie an der Reihe.
Der Roman lebt von seinen Dialogen. Darin ist Yasmina Reza eine Meisterin. Pointiert und witzig entlarven sich hier die Protagonisten. Zwischen scheinbar banalen Sätzen finden sich immer wieder viele nachdenkenswerte Sequenzen.
Kleiner Kritikpunkt: Die Ich- Perspektive wird nicht durchgängig eingehalten, sondern vermischt sich ab und zu mit der eines allwissenden Erzählers.
Der Roman liest sich leicht und unterhaltsam, ist aber keineswegs banal. Auch wenn ich Yasmina Rezas Schlussfolgerung, dass Erinnerungsorte wie Auschwitz unnötig werden, nicht in aller Konsequenz teile, so bin ich doch ihrer Meinung, dass Erinnern uns nicht davor schützt, Ähnliches wieder zu tun.
„ Serge“ist ein kluger, elegant geschriebener Familien- und Generationenroman, tragisch und komisch zugleich.
In dem Roman „Serge“ der französischen Schriftstellerin Yasmina Reza begegnet uns eine Sippe der besonderen Art. Die Familie Popper, die betagte Mutter ist vor Kurzem gestorben, der Vater lebt schon seit ein paar Jahren nicht mehr. Die nachrückende Generation der drei Kinder Jean, Nana und Serge haben mittlerweile selbst eine Familie gegründet oder leben bzw. lebten in einer Beziehung.
Serge, der ältere der Geschwister hat eine Tochter aus erster Ehe und lebt nun mit einer Frau zusammen, die selbst ein Kind mit in die Beziehung gebracht hat.
Nana ist mit einem Spanier verheiratet. Das Ehepaar hat zwei Kinder.
Jean, der Ich-Erzähler dieses Romans, ist kinderlos, liebt aber den kleinen Sohn seiner Freundin, als ob er sein eigener wäre.
Man trifft sich zu Familienfeiern, Beerdigungen etc., bei denen es in der Regel hoch hergeht. Man lacht zusammen, man streitet zusammen, jeder macht sein eigenes Ding, aber irgendwie machen sie die Dinge auch gemeinsam. Wie das mit Familien halt so ist. Wenn es darauf ankommt, hält die Familie zusammen.
Die Poppers, die in Paris leben, haben jüdische Wurzeln. Insbesondere für den verstorbenen Vater war dies von Bedeutung. Die Geschwister Popper haben aber mit Religion nichts am Hut. Umso erstaunlicher ist der Wunsch von Serges erwachsener Tochter Joséphine, sich auf Spurensuche nach der jüdischen Identität der Familie zu begeben und das Konzentrationslager in Auschwitz zu besuchen. Denn hier sind Familienmitglieder vorheriger Generationen ums Leben gekommen. Der Wunsch von Joséphines richtet sich in erster Linie an ihren Vater Serge, der nun seine beiden Geschwister bittet, ihn und seine Tochter bei dieser Reise zu begleiten.
Serge ist kein Vorzeigevater. Das Verhältnis zwischen Tochter und Vater ist eher oberflächlich und beschränkt sich auf finanzielle Dinge. Daher verwundert die Bitte der Tochter umso mehr. Vielleicht ist diese Reise ein Versuch, die Verbindung der beiden zu vertiefen?
Serge ist ein Mensch, der wenig Sympathien weckt. Er ist Ich-bezogen, einer, der keine Meinung neben seiner gelten lässt; er weiß, was gut für andere ist und lässt sich durch nichts davon abbringen. Serge will immer die Kontrolle über sich und andere haben. Er nutzt seine Dominanz, um von seinem eigenen Unvermögen abzulenken. Denn Serge hat im Leben bisher nicht viel erreicht, zumindest nichts, was ihn dazu berechtigt, auf andere herabzublicken und alles und jeden in Frage zu stellen. Serge ist gut darin auszuteilen, kann allerdings nicht einstecken, ist daher resistent gegen jegliche Kritik. Kein einfacher Mensch, dieser Serge! In der Familie Popper ist er derjenige, der für Streit sorgt. Insbesondere Schwester Nana steht in seinem Fadenkreuz, denn sie ist diejenige, die ihr Leben am ehesten im Griff hat und somit ihrem Bruder sein Versagen vor Augen führt.
Jean nimmt die Vermittlerrolle in der Familie ein. Er ist entspannter im Umgang mit Serge, lässt sich selten provozieren und weiß ihn zu nehmen.
Die Reise der drei Geschwister und Joséphine nach Auschwitz nimmt einen wichtigen Teil dieses Romans ein, dominiert die Handlung aber nicht in dem Ausmaß, wie die Buchbeschreibung andeutet. Die Autorin Yasmina Reza beschreibt den Besuch der Familie als touristisches Ereignis mit sämtlichen Begleiterscheinungen, die eine Besichtigungstour mit sich bringt: Touristen aller Nationen, Hautfarben und Bekleidungsstilen tummeln sich in dieser Gedenkstätte, permanent auf der Suche nach dem ultimativen Fotomotiv für ihr Handy. Nicht das Gedenken der jüdischen Opfer steht im Mittelpunkt sondern Auschwitz als Attraktion.
Die Autorin, die selbst jüdische Wurzeln hat, hinterfragt mit dieser Darstellung den Sinn einer Gedenkstätte und bringt den Leser dazu, sich mit dieser Problematik auseinanderzusetzen.
Yasmina Reza erzählt die Geschichte der Familie Popper mit einem beißenden und gnadenlosen Humor, der manchmal in Slapstick ausartet. Insbesondere der Anfang des Romans stimmt den Leser auf diesen Humor ein. Die Erzählweise ist sprunghaft, wechselt von banalen Momenten zu Szenen, die einen tieferen Einblick in die Psyche der Charaktere gewähren. Der Roman erscheint zunächst chaotisch, zumal die Autorin die unterschiedlichsten Fragen anreißt, die ein Familienleben beschäftigen. Trotz Humor und Chaos gelingt der Autorin immer wieder Tiefe in den Roman zu bringen. Dies geschieht nicht, in dem die Autorin die angesprochenen Fragen vertieft, sondern den Leser in die Situation bringt, sich selbst mit diesen Fragen auseinanderzusetzen.
Sprachlich ist der Roman an vielen Stellen ein Genuss. Yasmina Reza beweist ein hohes Maß an Kreativität in ihrer Ausdrucksweise, so dass man sich manchen Satz auf der Zunge zergehen lassen möchte.
Fazit:
Chaotisch, humorvoll, tiefsinnig. Ein Familienroman, den man sacken lassen muss, erst dann entwickelt er seine besondere Wirkung.
© Renie
Viel erwartet habe ich mir von diesem Roman der jüdischen Autorin Yasmina Reza, welche schon die Vorlage zu dem grandiosen Kammerspiel "Der Gott des Gemetzels" geschrieben hat, über die Reise von drei jüdischen Geschwistern und der Tochter des titelgebenden Serge nach Auschwitz nach dem Tod der Mutter dieser Geschwister.
Tatsächlich lassen sich die stärksten Sequenzen des Romans auf den wenigen Seiten des tatsächlichen Besuchs der Gedenkstätten zu den ehemaligen KZs Auschwitz sowie Birkenau finden. Nur 70 Seiten des Romans umfasst diese Reise, welche nicht nur berechtigte Kritik an dem skandalösen, freizeitparkhaften Katastrophentourismus zu den Gedenkstätten übt, sondern ebenso (meines Erachtens zu hinterfragende) Kritik an der allgemeinen Sinnhaftigkeit solcher Gedenkstätten und der Erinnerung an die Vernichtung in solchen Lagern, nun da die letzten Überlebenden versterben.
"Vergesst nicht. Aber warum? Um es nicht wieder zu tun? Aber du wirst es wieder tun. Ein Wissen, das nicht zutiefst mit einem selbst verbunden ist, bleibt folgenlos. Von der Erinnerung ist nichts zu erwarten. Dieser Fetischismus der Erinnerung ist bloßer Schein."
Der Rest des Romans besteht aus nervtötendem und ziellosem Geplauder diverser Familienangehöriger der Pariser Familie. Die Figuren - erzählt aus der Sicht von Jean, dem mittleren Bruder, - bleiben flach und unsympathisch. Unsympathisch dürfen sie durchaus sein, aber sie sollten schon ein Anliegen vermitteln. So wird im Roman über einen fernen Bekannten der Familie gesagt: "André Ponchon ist dorthin zurückgekehrt, wo er hergekommen war, eine konturlose Form, die wegbröselt wie grauer Sand." Das beschreibt nicht nur alle Figuren des Romans, sondern auch die Erzählung an sich. So kann man nach der Lektüre nur Jean zustimmen, der auf eine Frage zur vergangenen Auschwitz-Reise sagt: "Ich antwortete, ich hätte mir nichts Bestimmtes von dieser Reise erwartet und sei noch unschlüssig, was sie gebracht habe." Auch von diesem Buch sollte man nichts Bestimmtes erwarten und wird unschlüssig, was die Lektüre gebracht hat, zurückgelassen. Für einen Familienroman ist es nicht tiefgründig genug, für eine amüsante Geschichte einfach nicht witzig genug (m.E.), das Thema Tod und Sterben wird immer wieder angerissen aber nicht zu Ende gedacht und die Auseinandersetzung mit der Gedenkkultur zum Holocaust zu schlicht ausgearbeitet. Die Erzählperspektive aus den Berichten Jeans heraus hat Probleme mit zu allwissenden Schilderungen sowie essayistischen Passagen, die die - in einigen Interviews kundgetane - Meinung der Autorin darlegen. Diese werden mir nicht stimmig genug aus der Figurenzeichnung Jeans ersichtlich.
An vielen Stellen hat der Roman also nicht meine Erwartungen erfüllen können und bleibt hinter seinen Möglichkeiten bzw. den Möglichkeiten, die der Themenkomplex zu bieten gehabt hätte, weit zurück. Der Stil der Autorin sagt mir, zumindest in der vorliegenden prosaischen Form, gar nicht zu. Nach einem sehr bizarren Einstieg in dem Roman überwiegt das groteske Geplänkel der Familienmitglieder untereinander und das Erzählen von mitunter stark unerheblichen Familien- und Bekanntenkreisanekdoten. Man springt beim Lesen ständig zwischen diesen Sequenzen hin und her und kommt dadurch den Figuren kaum bis gar nicht nahe, höchstens ihren meist wenig interessanten Befindlichkeiten. Die Familiendynamik hätte als solche besser ausgearbeitet werden können und bleibt mir bis zur Abschlussszene mit den drei Geschwistern über weite Strecken nicht authentisch.
Insgesamt: Die Bloßstellung der Touristenströme in die ehemaligen KZs ist gut gelungen und die Gedanken von Jean währenddessen finde ich durchaus nicht schlecht umgesetzt. Nach dem bekannten Motto: "There's no business like shoah business." Dem Rest des Romans kann ich hingegen nicht viel abgewinnen. Schade, obwohl ich sehr optimistisch in die Lektüre gegangen bin, gibt es meinerseits hierfür keine Leseempfehlung.
„Ich weiß gar nicht, wie wir Geschwister es geschafft haben, diese ursprüngliche Komplizenschaft zu bewahren, wir waren uns nie besonders ähnlich oder besonders nah. Geschwisterbeziehungen zerfasern, leben sich auseinander, hängen nur noch am seidenen Faden von Sentimentalität oder Konvention.“ (Zitat Seite 23)
Inhalt
Bis zuletzt hält Marta Popper die chaotische Familie zusammen, zum sonntäglichen Mittagessen haben sich alle einzufinden, ihre Kinder und Enkelkinder. Serge, sechzig Jahre alt und der älteste Sohn, Jean, immer noch das mittlere Kind und Nana, die Tochter und jüngste der drei Geschwister. Nun ist Marta tot und nach dem Begräbnis teilt Joséphine, Serges Tochter, ihrem Vater mit, dass sie nach Auschwitz fahren will, auf der Suche nach der Geschichte der ungarischen Verwandten, über die Marta nie gesprochen hatte. Serge soll seine Tochter begleiten, Nana will ebenfalls mitfahren und so kommt auch Jean mit. Doch statt die Geschwister zu einen, brechen auf dieser Reise lang unterdrückte Konflikte auf.
Thema und Genre
In diesem Generationen- und Familienroman geht es um moderne Beziehungsgefüge, Alltagskonflikte unserer Zeit und Kritik an der touristischen Gedenkkultur am Beispiel Auschwitz. Kernthemen sind familiäre Bindungen, Patchworkstrukturen, Alter, Krankheit, Tod.
Charaktere
Jean, Experte für Materialleitfähigkeit, ist das typische mittlere Kind und der Vermittler zwischen Serge und Nana, denn Familie ist für ihn wichtig, obwohl oder gerade weil er keine eigene Familie will. Serge ist der kreative Lebenskünstler und Frauenheld und beide, Serge und Jean, pflegen seit Jahren ihre Vorurteile gegenüber Ramos, Franzose mit spanischen Wurzeln, Nanas Ehemann. Es ist eine weit verzweigte Großfamilie mit eigenwilligen Charakteren, die alle Facetten der menschlichen Eigenheiten zeigen.
Handlung und Schreibstil
Dieser Roman besteht aus Momentaufnahmen, kurzen Episoden in der Gegenwart, unterbrochen von Erinnerungen und Fragmenten. Es sind die Dialoge, welche die Geschichte tragen, denn hier treten die Konflikte auf, zeigt sich die Problematik, die Suche der einzelnen Figuren, ihre Alltag zu bewältigen. Man diskutiert heftig, wirft Sätze, Meinungen und Themen durcheinander und Jean, der Ich-Erzähler, ergänzt mit vielen eigenen Gedanken, Überlegungen und auch Schilderungen des Umfeldes. Die Sprache ist leicht, flüssig zu lesen, die „herzzerreißende Komik“, von der der Klappentext spricht, blieb mir mit Ausnahme einiger skurril-witziger Szenen allerdings verborgen.
Fazit
Eine Mischung aus Familien-, Generationen- und Beziehungsroman, in dem es um Alltagsprobleme und Konflikte unserer Zeit geht.
Groteska Pilgerfahrt
Beschreibung
Die Geschwister Popper: Serge, verkrachtes Genie und homme à femmes, Jean, der Vermittler und Ich-Erzähler, und Nana, die verwöhnte Jüngste mit dem unpassenden spanischen Mann. Eine jüdische Familie. Nach dem Tod der Mutter entfremdet man sich immer mehr. Zu ihren Lebzeiten hat keiner die alte Frau nach der Shoah und ihren ungarischen Vorfahren gefragt. Jetzt schlägt Serges Tochter Joséphine einen Besuch in Auschwitz vor. Virtuos hält Reza das Gleichgewicht zwischen Komik und Tragik, wenn bei der touristischen Besichtigung die Temperamente aufeinanderprallen. Hinter den messerscharfen Dialogen ist es gerade die existentielle Hilflosigkeit dieser Menschen, die berührt.
Meinung
Ich bin eigentlich ein recht langsamer Leser, aber dieses Buch macht es einen einfach es recht locker, flockig wegzulesen. Vorweg muss man sagen, wenn man der Meinung ist, man darf Auschwitz und den Nationalsozialismus nicht für eine Art Komödie missbrauchen, sollte gleich von vorne weg einen Bogen um dieses Buch machen. Allerdings wird in diesem Buch die heutige Gesellschaft auf die Schippe genommen und es werden keinerlei Witze über die damalige Zeit gemacht. Im Gegenteil, die Grausamkeit der damaligen Zeit ist immer präsent im Hinterkopf.
Das Buch lebt von starken Dialogen. Es werden immer kleine Episoden dargestellt, Angelegenheiten, Ärgernisse, die in jeder Familie vorkommen. Man erkennt sich in vielen Dingen wieder, vielleicht war man selber schon in solch einer Situation und war der Meinung, schlimmer kann es nicht werden, doch diese gesellschaftlichen Probleme relativieren sich immer wieder, schließlich ist die Familie in Auschwitz (im Buch als Touristenmagnet dargestellt), wo unsere Probleme oder die Ärger der Familie Popper belanglos wirken.
Man darf sich von diesem Roman keine Spannung erwarten und auch keine Aufklärung über den Holocaust. Es ist ein einfacher Familien-, Generationenroman, der unsere aktuellen, unwichtigen Probleme, einer ganz anderen Zeit gegenüberstellt.