Schönwald
Mein Hör-Eindruck:
Familientreffen – wer kennt das nicht?
Familie Schönwald, eine bildungsbürgerliche Wohlstandfamilie, trifft sich in diesem Roman zwei Mal, und zwischen diesen beiden Treffen entspinnt sich dieser opulente Roman.
Das erste Treffen endet mit einem Eklat: auf die neu eröffnete queere Buchhandlung der Tochter Karolin in Berlin wird ein Anschlag verübt, und die Familie wird mit dem Vorwurf konfrontiert, dass sie vom ererbten „Nazigold“ ihrer Großeltern profitiere. Die Kontinuität von „Nazi-Gold“ in der jungen Bundesrepublik: eine interessante Form von Geldwäsche!
Dieses Treffen in Berlin ist der erzählerische Knotenpunkt, von dem aus dem Leser die Geschichte zunächst nur eines Familienmitglieds erzählt wird, bis sich in der Rückschau ein weiterer kleiner Knotenpunkt ergibt, an den der Erzähler die Geschichte eines anderen Familienmitglieds anknüpfen kann. Insofern erinnert der Roman mit seinen vielen Verästelungen an einen Stammbaum, der sich jedoch auf zwei Generationen beschränkt, dafür aber auch die Schwiegerkinder und deren Familien ins Visier nimmt.
Im Fortgang des Erzählens ergibt sich so ein dichtes Psychogramm dieser Menschen, die sich als Familie empfinden und die auch den Schutz durch die Familie gelegentlich erlebt haben. Hier erzählt der Autor eine anrührende Geschichte, wie sich der Älteste für seinen jüngeren Bruder einsetzt und sogar seine akademische Karriere für ihn aufs Spiel setzt.
Dennoch schottet sich jeder von ihnen ab und fürchtet sich davor, den Erwartungen der anderen nicht zu entsprechen. Jeder von ihnen schafft es nicht, sich der Familie so zu zeigen, wie er ist und seine beruflichen und privaten Probleme offenzulegen. Das Cover, das an ein Bild von Edvard Hopper, den Maler der Stille, erinnert, zeigt diese Beziehungslosigkeit sehr deutlich: die Figuren stehen nebeneinander, sie befinden sich in keinem Austausch, die Blicke richten sich in unterschiedliche Richtungen. Sehr passend gewählt!
Das entspricht der Familie Schönwald, wie wir sie als Leser erleben. Der äußere Schein wird gewahrt, da wird geblendet und simuliert, Konflikte werden unterdrückt, und vor allem: es wird geschwiegen und verschwiegen. Hier sind es die Mutter Ruth und ihre eigene Erziehung, die sich unheilvoll auswirken. Sie ist davon überzeugt, dass mit Reden noch nie eine Situation bereinigt worden sei. Sie ist so erzogen worden und gibt diese Überzeugung unreflektiert an die Kinder weiter: die „Oberflächenrealität“ der Familie soll immer unverändert bleiben. Und so kehrt sie ihre eigenen verpassten Chancen und ihr berufliches Scheitern, ihren „Lebensskorbut“, ebenfalls unter den Teppich.
Das zweite Treffen findet vor den Toren Berlins statt, und auch dieses Treffen endet mit einem Eklat. Die „Normalitätssimulation“ funktioniert nicht mehr, das Konstrukt einer Familie bricht zusammen. Es geht jedoch nicht um die Bereicherung der Familie durch die Nazi-Vergangenheit der Großeltern, sondern die alten Konflikte brechen auf, das Schweigen wird gebrochen, zumindest ansatzweise, und zurück bleiben die alten Eltern, auf sich selber zurückgeworfen.
Hinter diesem vielerlei verästelten Psychogramm einer Familie steht ein großes Panorama der Zeitgeschichte, und gelegentlich verlässt der Autor seine Rolle als Erzähler und zeigt sich als Journalist, wenn sein Bedürfnis zu groß wird, den Leser mit Hintergrund-Informationen und Analysen zu versorgen.
Der Roman besticht durch seine messerscharfen Formulierungen und seinen verhaltenen, oft ironischen Witz, mit dem manche Zeiterscheinungen bedacht werden. Ob das die MAGA-Bewegung Donald Trumps ist (die Beschreibung ihrer Mechanismen scheint Oehmke ein Anliegen zu sein!) oder die Beschreibung eines Vierseit-Bauernhofs, der sich mit modischen Angeboten an das Schicki-Micki-Klientel der Provinz richtet oder wenn ein Gesprächsteilnehmer im Gespräch gendert – man erkennt die Zeit und ist erheitert.
Auffällig sind die vielen Hinweise auf Thomas Mann. Namensgleichheiten, der Spitzname „der Zauberer“, Promotion und versuchte Habilitation der Mutter über Thomas Mann etc. und schließlich vor allem ein Foto vor dem Thomas-Mann-Haus in Pacific Palisades, das für den akademischen Absturz des glamourösen Professors Schönwald sorgt – die Hinweise sind unübersehbar. Der Grund? Knüpft Oehmke an den Familienroman „Buddenbrooks“ von Thomas Mann an bzw. will das Genre des Familienromans in Deutschland wieder beleben? Schön wäre es.
Das Hörbuch (17 Stunden!) wird eingesprochen vom Autor, und an seine verrauchte Stimme gewöhnt man sich sehr schnell. Beide, Buch und Hörbuch, hätten eine leichte Einkürzung vertragen.
Die Schönwalds sind sicherlich keine Familie zum Liebhaben, aber sie bieten einiges an Erzählstoff. Ruth, Hans-Harald und ihre drei längst erwachsenen Kinder Chris, Karolin und Benni haben sich in ihrem „Familienleben“ gut eingerichtet, das zumindest oberflächlich nur deshalb so reibungslos funktioniert, weil jeder hier alles für sich behält, niemand über Gefühle oder Wahrheiten spricht und mehr oder minder zufrieden damit ist, belanglos nebeneinander her zu existieren.
Wie bei einem Kammerspiel treibt Familie Schönwald nach Jahrzehnten milde interessierter Koexistenz auf einen großen Showdown zu, als sich alle Familienmitglieder treffen zur Eröffnung von Karolins Buchladen für queere Literatur treffen, bei der es zu einem Skandal kommt. Dieses Ereignis nutzt Philipp Oehmke als Auftakt für tiefe Einblicke in die Vergangenheit und Gegenwart der Familienmitglieder. Ausführlich beleuchtet er Schlüsselmomente in der Entwicklung seiner Figuren, zeigt eindrücklich auf, warum diese so werden mussten, wie sie sind. So wird der Roman zu einer breitangelegten, überaus durchdachten Charakterstudie einer ganzen Familie, ihres Beziehungsgeflechts und ihrer mangelnden Kommunikation.
Darüber hinaus gelingt es Oehmke äußerst vergnüglich, mitunter haarscharf an der Satire vorbeistreifend, den Finger in die Wunden heutiger und vergangener deutscher Befindlichkeiten zu legen. Der Text ist sehr oft frech, politisch zum Glück nicht immer korrekt, dafür aber ehrlich, genau auf den Punkt und durchaus auch subtil ironisch. Hier wird mit allerlei Hysterie und vermeintlich gerade herrschendem Mainstream aufgeräumt – es tut tatsächlich sehr gut, mal einen Text zu lesen, der sich etwas traut und die Absurditäten unserer Zeit (wie z.B. Wohlstands-Bio-Kost, Dorf-Lifestyle und völlig ahnungslose Social-Media-Moralisten) vom Podest holt. Oehmkes Beobachtungsgabe ist messerscharf und mitunter fast respektlos, aber stets zutreffend und manchmal auch mit einem Hauch von Nostalgie verbrämt (ein Highlight ist z.B. die Beschreibung der Senator-Lounge der Lufthansa).
Eingebettet sind diese sehr unterhaltsamen Kommentare in einen äußerst lesbaren Text, der einen enorm hohen Unterhaltungswert bietet. Die Handlungsorte und einzelnen Handlungsaspekte sind ausgezeichnet beschrieben und bilden den passenden Hintergrund für die Irrungen und Wirrungen der Familie Schönwald. Vom Tennisclub über den Unibetrieb bis hin zum Hospital in Islamabad und der teuren psychologischen Praxis in Köln-Hahnwald – in diesem Roman wirkt alles authentisch und lebensecht, sicherlich auch, weil der Bezug zu realen Personen wie der Trump-Gefolgschaft geschaffen wird. Oehmke ist mit „Schönwald“ – was für ein Name für eine sehr deutsche Familie – ein unterhaltsames, punktgenaues und sehr zeitgeistiges Porträt von Menschen gelungen, die nicht mit, aber auch nicht ohne einander leben können.
Das Einzige, was man an dem Roman bemängeln könnte, ist, dass er aufgrund seiner Konstruktion der Rückschauen und Perspektivenwechsel oftmals den Eindruck erweckt, in jedem Kapitel zwei Schritte vor und einen zurück zu machen. Einige Ereignisse werden mehrfach aufgegriffen und dann aus der Sicht verschiedener Figuren betrachtet. Dies ist sowohl für das Verständnis der Situation als auch der Figur sinnvoll, führt aber mitunter zu einem Hauch von Langatmigkeit und dem Eindruck, dass der Text etwas auf der Stelle tritt.
Dennoch: „Schönwald“ ist absolut lohnenswert, sicherlich ganz besonders wenn man selbst der Generation X angehört. Feiner Humor, eine gründliche Auseinandersetzung mit Figuren, ein klarer und kritischer Blick auf deutsche Befindlichkeiten und die Fallstricke familiären Miteinanders wurden selten so gekonnt vereint.
Insgesamt fällt es mir nicht leicht, etwas über das Buch zu schreiben. Ich könnte beim Lesen nicht wirklich dran bleiben. Und die Tatsache, dass ich immer längere Unterbrechungen machen musste, half natürlich nicht wieder in das Buch reinzufinden. Für mich gabe es hier zu viele unterschiedliche Stränge, Themen und Sichtweisen. Zwar werden wie angekündig auch aktuelle Themen im Buch angesprochen, aber davon leider auch zu viele. Und die Übertragung des Buches ins normale Leben, das mache ich gerne bei Familiengeschichten, gelingt hier überhaupt nicht. Dazu ist der ganze Hintergrund für mich zu aufgebläht. Alle sind total intelligent und machen Karriere oder könnten es zumindest. Geld wird geerbt und auch die gesellschaftliche Ebene bietet ihnen viel. Keine Normalos eben.
Dazu muss es noch einen Abstecher in die LSBT*Q Szene geben und auch Donald Trump ist Thema. Vieles ist mir so fremd, dass ich auch nicht mit Genuss davon lesen kann. Vielleicht fehlt mir auch der Hintergrund für dieses Buch, so dass es einfach zu schwer zu verstehen ist für mich.
Klappentext:
„Anders als Harry findet Ruth Schönwald nicht, dass jedes Gefühl artikuliert, jedes Problem thematisiert werden muss. Sie hätte Karriere machen können, verzichtete aber wegen der Kinder und zugunsten von Harry. Was sie an jenem Abend auf einem Ball ineinander gesehen haben, ist in den kommenden Jahrzehnten nicht immer beiden klar. Inzwischen sind ihre drei Kinder Chris, Karolin und Benni erwachsen. Als Karolin einen queeren Buchladen eröffnet, kommen alle in Berlin zusammen, selbst Chris, der Professor in New York ist und damit das, was Ruth sich immer erträumte. Dort bricht der alte Konflikt endgültig auf.“
Autor des Romans „Schönwald“ ist Philipp Oehmke. Die Geschichte rund um die Familie Schönwald mit ihren Sorgen und Problemen las sich in meinen Augen einfach zäh und wahrlich langweilig. Mal passierte etwas, dann lange Zeit nichts und dann war wieder mal ein kleiner Knaller aber es bedarf schon viel Durchhaltevermögen es immer bis zum nächsten Knaller überhaupt zu schaffen. Der Spannungsbogen ist hier,
für meine Begriffe, recht steif und kaum erkennbar. Die Figuren und ihrem Handeln zu folgen war doch recht müßig. Der Plot der Story der Story hat viele vielversprechende Züge aber mir fehlte einfach die Intensität und so manche Blicke hinter die Gesichter. Ruth ist nunmal wie sie ist und durch ihre schweigsame Art manchmal nicht ganz einfach zu mögen. Ihr innerlicher Kampf bzgl. ihrer unerfüllten Karriere wird zum Krampf. Verständlich irgendwo, aber woran hat es denn gescheitert? Was waren denn nun die genauen Beweggründe? Bei solchen Entscheidungen gehören ja immer eigentlich zwei dazu. Irgendwo wollte sie nicht das „Heimchen am Herd“ sein, hat es dann aber doch so „gewollt“ - da hätte ich gern mehr Tiefgang erwartet oder ich konnte ihn schlicht weg nicht aus der Geschichte erlesen. Zudem werden zwar aktuelle Themen wie Corona oder eben die queere Szene mit eingebracht, aber der zentrale Punkt fehlt irgendwie. Alles scheint einfach zu weitläufig und nur bedingt beleuchtet. Schlussendlich passt das Cover perfekt auf den Punkt - der Blick gesenkt, ein leicht verbittertes Gesicht, ja, das ist Ruth Schönwald in Bestform. Und irgendwie war es das einzige Bild was mir von ihr geblieben ist nach beenden des Buches. Selbst der Konflikt im Buchladen ihrer Tochter war jetzt nicht Zünder.
2 von 5 Sterne
Vielschichtige Familiengeschichte (Kurzrezension)
Kurzrezension zum Hörbuch:
Ehepaar Ruth und Harry Schönwald senior sind um die 80 Jahre alt. Sie hat einst ihre Karriere als Literaturwissenschaftlerin und Fachfrau für Thomas Mann zu Gunsten der Familie aufgegeben. Er war Staatsanwalt, kümmerte sich primär um den Beruf und das Tennisspiel - Kinderkram war Frauensache. Drei erwachsene Kinder hat die Ehe hervorgebracht: Chris ist Literaturprofessor in NY, Karolin eröffnet einen queeren Buchladen in Berlin und Nesthaken Benny lebt mit schwieriger Frau und zwei Söhnen auf dem Brandenburger Land.
Sie alle kommen zur Buchladeneröffnung zusammen. Schnell spürt der Leser, dass es hinter den bürgerlichen Fassaden ordentlich brodelt. So wurde Chris an der Uni gefeuert und arbeitet jetzt im Wahlkampfteam Trump mit, wovon die Familie nichts weiß. Karolin hat schwieriges Fahrwasser hinter sich, ist offenbar lesbisch, steht aber nicht dazu. Benny hat beruflich trotz großer Begabung bis heute nicht Fuß gefasst. Seine Familie lebt vom Geld des Schwiegervaters, seine Frau Emilia ist reichlich extrovertiert und kann sich schwer anpassen.
Nach und nach tauchen wir in die verschiedenen Charaktere ein, erfahren Hintergründe über ihr Leben, über besonders einschneidende Erlebnisse. Warum können die Kinder sich ihren Eltern gegenüber nicht öffnen? Welche Rolle spielen dabei Ruths Verschwiegenheit und ihre Auszeit vor vielen Jahren? Was ist bei Schönwalds schief gelaufen?
Ich bin sehr angetan von der Art und Weise, wie Oehmke seinen Roman aufbaut. Er lässt reichlich Zeitgeist einfließen. Den Wokeness-Trend fand ich anschaulich und satirisch ad absurdum geführt. Dabei ist der Roman an keiner Stelle lächerlich, typisch bildungsbürgerlich stellt sich die Familie dar als Beispiel für die Nachkriegsgeneration. Es menschelt an vielen Enden, die Beziehungen der einzelnen Familienmitglieder werden sensibel und glaubwürdig offengelegt, halten Überraschungen bereit. Stilistisch erinnert das Buch tatsächlich an die Korrekturen von J. Franzen. Allerdings sind die Themen überwiegend deutsch und an die Gegenwart angeglichen.
Das Hörbuch liest der Autor selbst, und er kann das. Schnell hatte ich mich an seine gut betonte Stimme gewöhnt. Ich wäre gerne noch bei den Schönwalds geblieben und empfehle den Roman vollumfänglich!