Die Leben der Elena Silber: Roman
Gorbatow, Russland, 1905. Die kleine Jelena muss mit Mutter und Bruder aus der Stadt fliehen, weil der Vater von Anhängern des Zaren erschlagen wurde.
Berlin 2017, der 43-jährige Konstantin Stein, Enkelsohn Jelenas, begibt sich auf die Spuren seiner Familiengeschichte.
Alexander Osang schreibt in Die Leben der Elena Silber nicht nur Familiengeschichte sondern zeichnet auch ein Abbild des 20. Jahrhunderts in Teilen Europas. Jelena ist zwei Jahre alt, als die Erzählung beginnt. Osang erzählt vom zaristischen Russland, vom Entstehen der Sowjetunion, von Flucht und Kriegen, dem Deutschland während der Nazidiktatur, vom Berlin zu DDR-Zeiten und danach. Die Zeit und die Politik prägen Jelena und ihre Familie, ihre Töchter und Enkel.
Jelenas Geschichte ist wandelbar, je nachdem, wer die Geschichte erzählt oder wem die Geschichte erzählt wird. Es sind Mythen und Legenden, die über die Jahrzehnte kolportiert werden. Vom Vater Jelenas, dem Helden der Revolution, der getötet wird. Aber auch von Robert F. Silber, dem deutschen Ehemann Jelenas. Wer war dieser Robert F. Silber, der in den Wirren nach dem Krieg spurlos verschwand. Einer, der mithalf beim Aufbau der Sowjetunion oder doch ein Mitglied der NSDAP, ein Held, ein Verräter, ein Feigling, der sich aus dem Staub machte oder Opfer einer Flucht.
Konstantin Stein, Mittvierziger, Filmemacher, findet sein Thema nicht. Dabei liegt es vor ihm, seine eigene, dysfunktionale Familie. Die Mutter Maria, die mittlere der fünf Silber Töchter, die über alles die Kontrolle bewahren will, hat ihre eigene Sicht der Dinge. Der Vater Claus leidet an Demenz. Konstantins Tanten, jede für sich ein schwieriger Charakter. Nach und nach versucht Konstantin ein Bild seiner Familie zusammenzusetzen. will die weißen Flecken auf der Landkatze seiner Familie füllen. Im Drehpunkt aller Geschichten ist immer seine Großmutter, Baba wie er sie nannte, Jelena, später Elena Silber. Die russische Deutsche, die deutsche Russin. Von den Deutschen in Schlesien nicht gewollt. Von den Russen, die später das Land besetzten auch nicht. Später in Berlin verliert sie nicht nur einen Buchstaben ihres Vornamens, sondern Heimat, Herkunft, Identität. Die deutsche Sprache beherrscht sie nur mäßig, das Russische hat sie beinahe verlernt.
Es fällt nicht immer leicht Jelena zu mögen, sie lässt ihre Töchter bei fremden Leuten in der Obhut, baut opportunistisch auf Beziehungen. Liebe, Zärtlichkeit, Verbundenheit und Zuneigung, verlernt man diese Gefühle im Krieg, auf der Flucht? In dieser Familie jedenfalls.
Die Leben der Elena Silber ist auf der Longlist für den Deutschen Buchpreis 2019. Ob das Buch diesen literarischen Anspruch hat, mag ich nicht beurteilen. Der Handlungsverlauf ist nicht linear. Osang springt zwischen den Zeiten und Perspektiven. Es sind vor allem drei Zeitebenen, die Vergangenheit vor und während des Krieges, das Berlin der 80er Jahre und heute. Im Aufbau sehr opulent, in der Sprache oft sehr pointiert. Die eigene Familiengeschichte war dem Autor Inspiration zu diesem epochalen Roman.
Alexander Osangs Familienroman „Die Leben der Elena Silber“ ist im August 2019 im Fischer Verlag erschienen und umfasst 624 Seiten.
Konstantin Stein ist ein mäßig erfolgreicher Filmemacher. Als sein Vater, Claus, in ein Pflegeheim kommt, beginnt der Sohn, seine Familiengeschichte zu erforschen. Diese führt ihn zurück in das noch zaristische Russland, wo sein Urgroßvater einst als Revolutionär hingerichtet wurde. Für dessen Tochter, Elena, Konstantins Großmutter, beginnt damit ein neues Leben, das sie schließlich nach Deutschland führt und sich noch auf das Leben der heutigen Generation auswirkt.
Alexander Osang erzählt die gut ein Jahrhundert umfassende Geschichte dieser Familie auf verschiedenen Zeitebenen, wobei er auch anachronisch vorgeht: Die Begebenheiten in der Gegenwart werden immer wieder durch Phasen, die in der Vergangenheit spielen, unterbrochen. Dabei thematisiert er wichtige Ereignisse des 20. Jahrhunderts, die deutsche und auch russische Geschichte betreffend: Russische Revolution, Aufbau und Leben in der UdSSR, Zweiter Weltkrieg, Kriegsende und Nachkriegszeit, die Gründung zweier deutscher Staaten und schließlich das Leben in der DDR. Zudem werden die verschiedenen Handlungsorte nicht nur in der Vergangenheit, sondern auch in der Gegenwart dargestellt, wenn Konstantin zum Beispiel mit seinen Eltern nach Sorau, dem heutigen polnischen Żary, in die Niederlausitz reist, oder mit seinem Cousin zusammen in die Heimatstadt seiner Großmutter, nach Gorbatow im Oblast Nischni Nowgorod.
Blitzlichtartig werden bedeutsam Episoden aus dieser Familiengeschichte beleuchtet und sehr lebendig sowie plastisch geschildert; man hat beim Lesen fast das Gefühl, dabei zu sein. Insbesondere die letzten Kriegstage im ursprünglich deutschen Żary, der Einmarsch der Roten Armee, aber auch das Verschwinden von Konstantins Großvater, Robert Silber, haben mich sehr beeindruckt. Sicher regen solche Szenen auch dazu an, über die eigene Familiengeschichte nachzudenken – mir ging es beim Lesen jedenfalls so, da ich mit Erzählungen aus dieser Zeit groß geworden bin.
Ein weiteres Thema, das diesen Roman durchzieht, ist der Umgang mit den alternden Eltern, die man irgendwann einfach nicht mehr allein versorgen kann und die vielleicht irgendwann zu Pflegefällen werden. Hier habe ich vieles beim Lesen ebenfalls als sehr realitätsgetreu empfunden, sei es Konstantins Unverständnis für diesen letzten Schritt, sei es die Entwicklung seines Vaters selbst.
Osangs Sprache und Stil sind flüssig zu lesen. Zu Beginn eines jeden Kapitels sind Handlungsort und –zeit angegeben, weshalb es leicht fällt, sich trotz der verschiedenen Handlungsstränge zu orientieren. Zu Beginn des Romans gibt es eine Auflistung der Familienmitglieder sowie in der vorderen und hinteren Buchklappe eine Karte, auf der die Orte eingezeichnet sind, bzw. einen Familienstammbaum; auf beides habe ich beim Lesen immer wieder gerne zurückgegriffen, erleichtert es doch ebenfalls die Orientierung.
Das Cover zeigt einen Mädchenkopf mit einem geflochtenen Haarkranz von hinten, passt also sehr gut zu den unterschiedlichen Epochen sowie der Titelfigur, Elena Silber.
Insgesamt präsentiert Alexander Osang mit „Die Leben der Elena Silber“ eine eindrucksvolle Reise in die Geschichte des 20. Jahrhunderts, die sich flüssig und interessant lesen lässt, zum Nachdenken und ggf. Reflektieren der eigenen Familiengeschichte anregt, die aber auch viel Wissenswertes über diese Zeit zu bieten hat für diejenigen, die hier weniger bewandert sind. Ich kann dieses Buch jedenfalls als Lektüre wärmstens empfehlen.
Schachfigur(en) in den Wirren der Zeit
Positiv überrascht hat mich der 17. Roman, den ich von der Longlist des Deutschen Buchpreises 2019 lese. Und mehr werden es auch nicht. Dreien habe ich mich versagt.
Wer russische Folklore und Romantik a là Doktor Schiwago erwartet, muss von „Die Leben der Elena Silber“ enttäuscht sein. Aber wer relativ erwartungslos an den Roman herangeht, kann durch die Lektüre nur bereichert werden.
Der Roman zeichnet, wenig überraschend, das Leben der Elena Silber auf. In Russland geboren, wird Elena zeitlebens eine Art Flüchtling sein. Was an den Zeiten liegt, in denen sie geboren ist, den Orten, an denen sie leben muss, an der Familie, in die sie heineingeboren wird, den Menschen, auf die sie treffen wird - und an den Herrschaftsstrukturen in den Ländern Russland und Deutschland. 1905-Revolution in Russland, 1918-Revolution in Russland, Lenin, Stalin. Das Leben der Menschen oft durch Zufall bestimmt, häufig keinen Pfifferling wert. Es kommt durch, wer den Mund hält, Glück hat und sich anpasst. Oder wer die Seiten wechselt. Oder wer brutal unterdrückt. Die Seele nimmt notwendigerweise Schaden. Man muss hart sein wie Stahl oder weich wie Wachs. Je nach den Gegebenheiten. Das hält keiner aus ohne zu zerbrechen. Aber man darf es nicht zeigen, denn das ist der sichere Untergang.
Konstantin, als Vertreter der Enkelgeneration, die ihrerseits schon wieder Kinder gezeugt hat, versteht weder sich selber noch seine Eltern, besonders die mütterliche Seite nicht. Die fünf Töchter seiner Großmutter bleiben nebulös für ihn. Nebst seinem Mutterkomplex und tiefem Mitleid für seinen Vater, ist er unsicher, ein herumtastender, zögerlicher Mensch, der an seiner Vergangenheit krankt, die er doch nicht genau genug kennt, um sie abzuhaken. An der Heldenbrust des Vaters, der einzigen männlichen Bezugsperson, findet er leider auch keinen Trost, weil der eben gar kein Held ist, wie die Mutter den Vater gnadenlos herunterbricht, fast zelebriert sie den Zerfall ihres Ehemannes.
Das Leseerlebnis:
Weswegen mir der Roman „Die Leben der Elena Silber“, der sehr gut geschrieben ist, völlig ohne Floskeln daherkommt und ohne Pathos erzählt wird, besonders ans Herz wächst, ist seine Realitätsnähe. Wann kennt man seine Familie denn richtig, wenn man erst einmal über die Elterngeneration hinausgeht? Welche Familienchronik ist lückenlos? Woher weiß man und in diesem Fall, woher weiß Konstantin, was wahr ist und was erfunden, erstunken und erlogen, aus der Not geboren zusammengeschwindelt wurde. Man kann nicht dahinterkommen. Es bleiben Lücken. Dieses Lückenhaft hat mir sehr gut gefallen.
Gnädigerweise dürfen wir, die Leser, immer einen Blick mehr in die Familiengeschichte von Elena tun als der suchende Konstantin selber, der oft vor Mauern steht, mit seinen Forschungen nicht weiterkommt. Einige Dinge läßt uns Alexander Osang früh wissen, andere bleiben für immer in den Wirren von Revolution, Krieg und Flucht verborgen.
Einige Leser haben geschrieben, die vielen Wiederholungen des Romans, die immergleichen Themen, die in den Dialogen zwischen den Figuren ständig aufgeworfen und verhandelt werden, würden sie nerven. Das ist bei mir nicht der Fall. Ich kann mich in die Köpfe der Figuren gut hineinversetzen, verstehe, wie dieselben Fragen immer und immer wieder umgewälzt werden und sich nicht vertreiben lassen. Ungefragt drängen sie bei Tag und Nacht ins Bewusstsein. Das ist so gut gemacht von Alexander Osang: Chapeau!
Weder Konstantin noch wir haben die Lebensgeschichte Elenas völlig durchdrungen noch jeden Baustein der Silber/Steinschen Geschichte heben können. Ist es denn wirklich notwendig? Kann man nicht einfach die Gegenwart akzeptieren, wie sie sich darstellt? Schade, dass diese Frage gar nicht gestellt wurde. Trotzdem kam ich den Figuren sehr nahe. Sie haben mich an meine eigene Familiengeschichte erinnert. Sie haben mich nachdenken lassen, was ich über meine Großeltern eigentlich wusste. War mein Großvater ein Nazi? No idea. Meine Tanten waren jedenfalls alle in der Hitlerjugend. Zu spät, um jemanden zu fragen.
"Leben", sagt Elena, zu ihrem Enkel eines schönen Tages, sie habe ja mit 15 gedacht, sie wüssste, wie Leben geht. Aber „Leben ist anders, ganz anders.“ Da hat sie nur allzu recht!
Die Kritik darf nicht fehlen. 200 Seiten weniger hätten es auch getan und es sind zu viele Vergleiche. Insgesamt fallen diese kleinen Mängel aber nicht ins Gewicht.
Fazit: Eine sehr reale Story über eine Familiengeschichte, die gut aufgebaut und durchdacht ist. Russlands Willkürherrschaft, Hitlers Deutschland, alles eher am Rande behandelt, aber dennoch prägend für jeden, der in diesen Zeiten leben musste, faszinierend. Wie Schachfiguren herumgeschoben, so ist Elenas Familie. Und nicht nur sie: denn letzlich sind wir alle Figuren des jeweils gerade gespielten Aktes der Menschheitsgeschichte, ob als Könige oder Bauern, durch Zufall hierhin- oder dorthin geschubst.
Kategorie: Anspruchsvoller Roman
Verlag: S. Fischer, 2019
Auf der Longlist des Deutschen Buchpreises, 2019