Martha und die Ihren
Martha lebt mit ihrer Familie in ärmlichen Verhältnissen in der Schweiz. Da der Vater wegen eines Unfalls nicht mehr in der Lage sie zu versorgen, fehlt es an allen Ecken und Kanten, die Familie ist auf Zugaben der Nachbarn angewiesen.
Als der Vater stirbt, greift der Staat ein, Martha und ihre Geschwister werden aufgeteilt, sie ist nun ein Verdingkind in einer anderen Familie. Dort muss sie sich um den behinderten Jungen der Familie kümmern, was keine leichte Aufgabe ist. Sie fühlt sich schlecht dabei, weil sie ihn dominieren muss, ansonsten liefe er weg und es könne schlimmeres geschehen. Das Gefühl nicht zur neuen Familie zu gehören bleibt, doch Martha entwickelt einen großen Ehrgeiz in der Schule und schafft es früh eine Anstellung zu finden, wo sie sogar ein wenig Geld zur Seite legen kann. Sie erfüllt sich einen Traum und kauft sich ein Fahrrad.
Als sie dann später heiratet merkt sie schnell, dass auch hier Arbeit bis zur Erschöpfung an der Tagesordnung stehen. Ihr Mann kränkelt und sie übernimmt, trotz Kind, der kleine Toni ist mittlerweile geboren, einen großen Teil der Aufgaben des Mannes.
Liebe verteilt Martha dabei nicht, wie auch, denn in ihrem eigenen Leben vermisste sie diese ja schon in ganz jungen Jahren.
Im weiteren Verlauf der Handlung durchlebt der Leser, wie sich dieser Umstand durch die weiteren Generationen frisst.
Durch „Martha und die Ihren" verarbeitet der Autor Lukas Hartmann die Lebensgeschichte seiner eigenen Großmutter. Meiner Meinung nach ist ihm dies außerordentlich gut gelungen. Als Leser kann man sich gut in die einzelnen Charaktere hineinversetzen, obwohl der Erzählstil eher nüchtern gehalten ist. Es wird aufgezeigt, wie Wunden in den weiteren Generationen immer wieder zu Problemen führen. Er zeigt aber auch, wie die Nachkommen diesen Teufelskreis unterbrechen, und es vielleicht besser machen können. Doch, auch das wird klar, das Leben hält nicht immer das für einen bereit was man sich wünscht. Oder besser gesagt, dass was man für das Beste hält, muss nicht immer das Beste sein.
"Verdingkinder wurden sie oft wie Sklaven oder Leibeigene behandelt und für Zwangsarbeit ohne Lohn und Taschengeld eingesetzt. Wie Augenzeugen berichten wurden sie häufig ausgebeutet, erniedrigt oder gar vergewaltigt." (Wikipedia)
Nach dem viel zu frühen Tod des Vaters werden Martha und ihre Geschwister der Mutter weggenommen. Die Mutter, die im Armenhaus unterkommt, wird sie nie wiedersehen, genauso wie ihre Geschwister. Die 8-jährige Martha selbst kommt zu einer Bauernfamilie ins Berner Umland, wo sie hart arbeiten muss und nur, wenn sie Glück hat, genug zu Essen bekommt. Doch Martha ist fleißig, und als sie älter ist, beginnt sie als Fabrikarbeiterin in einer Spinnerei und später dann als Ehefrau eines Schusters. Keinerlei Schwäche zeigen, das prägt Marthas Leben, und so erzieht sie auch später ihre Kinder. Selbst als Marthas Ehemann viel zu früh verstirbt, kämpft sie weiter für sich und ihre Kinder. Jedoch geht die Kaltherzigkeit der Mutter vor allem am Ältesten nicht spurlos vorbei. Erst Marthas Enkel rebellieren und wagen, von einem freieren Leben zu träumen.
Meine Meinung:
Dieses Buch umfasst das Leben von Matha und deren Familie über drei Generationen. Martha ist die Großmutter des Autors. Es ist die Zeit kurz vor dem Ersten Weltkrieg, als der kranke Vater verstirbt. Da die Mutter ihre sechs Kinder nicht ernähren kann, werden sie aus der Familie herausgerissen. Selbst wenn das Leben von Martha hart ist in ihrer neuen Familie, hätte sie es noch weitaus schlimmer erwischen können. Verdingkinder wurden sie damals in der Schweiz genannt. Sie mussten oft Schläge und Misshandlungen erdulden. Man schätzt, dass von 1800 bis in die 1960er-Jahre zwischen 4 und 10 Prozent der damaligen Kinder verdingt wurden. Einige Kinder kamen dabei sogar ums Leben. Andere, so wie Martha, sind für ihr weiteres Leben gezeichnet. Es ist vor allem die Liebe, die diesen Kindern fehlt und die sich bei ihren eigenen Kindern fortsetzt. So kann Martha nicht nur ihren Mann, sondern vor allem ihren ersten Sohn Anton nie richtig lieb haben. Sie erträgt nicht einmal seine Nähe. Während sie sich schnell wieder in die Arbeit der Schusterei stürzt, kümmert sich Schwägerin Hedwig wie eine Mutter um den Säugling. Und trotzdem folgt danach Peter ein zweites Kind. Doch auch in Marthas Familie wiederholt sich das gleiche Schicksal. Ihr kränklicher Ehemann verstirbt viel zu früh, allerdings sind ihre Kinder schon älter. Sie muss die Schusterei verkaufen, denn Frauen dürfen nicht einfach so Schuhe herstellen. Der hier erwähnte Anton (Toni), Lukas Hartmanns Vater, der sich sein Leben lang nach der Liebe seiner Mutter sehnt. Er selbst dagegen lässt sich als junger Mann vieles, was ihm widerstrebt, nicht gefallen. Oft haben sein Vater und er heftige Auseinandersetzungen. Allerdings kommt irgendwann die Zeit, als er mehr über Marthas Leben erfahren möchte. Erst ab da begreift er, wie sich die Verletzungen der früheren Martha wie ein roter Faden von Generation zu Generation ziehen. Ein wenig enttäuscht bin ich, weil man doch recht wenig über Marthas Leben hier in dieser Geschichte erfährt. Dagegen nimmt das Familienleben ihres Sohnes Toni einen großen Raum ein. Wahrscheinlich liegt es daran, dass der Autor einfach viel zu wenig von der verschlossenen, alten Martha erfahren hat. Denn er selbst hat von seiner Großmutter als Kind relativ wenig gehabt. Was natürlich an Marthas verschlossenem Wesen lag. Erschreckend ist zu erleben, wie ein Schicksalsschlag doch ganze Generationen prägen wird. Hier musste ich vor allem an meine Eltern denken, die von ihren vom Krieg verletzten Eltern geprägt wurden. Es wäre sicher schön gewesen, wenn der Autor einiges noch ausführlicher dargestellt hätte. Allerdings wäre diese Familiengeschichte dann sicher zu ausufernd geworden. Für mich bleibt es ein empfehlenswertes Buch, das zum Nachdenken anregt und dem ich gerne 5 von 5 Sterne gebe.
Familiengeschichten sind oft wertvolle Quellen für Historiker und Sozialwissenschaftler, da sie Einblicke in die sozialen und kulturellen Verhältnisse vergangener Zeiten geben. Das Dokumentieren der Familiengeschichte unterstützt die genealogische Forschung und kann helfen, Familienstammbäume und historische Ereignisse zu vervollständigen.
Genau das hat Lukas Hartmann in seinem Roman „Martha und die Ihren“ umgesetzt.
Der Roman beginnt mit der Geschichte von Martha, einem klugen, jungen Mädchen, das schon früh die Fähigkeit zum Lesen und Schreiben entwickelt. Doch trotz ihres Talents ist Marthas Leben von Anfang an von Entbehrungen geprägt. Die Familie lebt in Armut, und der Vater ist schwer krank. Nach seinem Tod verschlechtert sich die Situation dramatisch. Die Mutter und ihre sechs Kinder werden auseinandergerissen, und Martha wird als Verdingkind in eine fremde Familie gegeben.
Exkurs Verdingkind:
"Verdingkind" ist ein Schweizerdeutscher Begriff, der Kinder bezeichnet, die aus ihren Familien genommen und bei anderen Familien untergebracht wurden, oft um auf Bauernhöfen oder in Haushalten zu arbeiten.
Die Praxis der "Verdingkinder" (Pluralform) wird heute als dunkles Kapitel der Schweizer Geschichte anerkannt. In den letzten Jahren hat die Schweizer Regierung dieses Unrecht anerkannt, sich entschuldigt und Entschädigungen an die Opfer geleistet.
In dieser neuen Umgebung fühlt sich Martha nicht wirklich zu Hause. Sie bleibt immer eine Außenseiterin, eine Fremde, die sich nur schwer integrieren kann. Ihr wird die Hauptaufgabe übertragen, sich um den behinderten Sohn der Familie zu kümmern. Diese Verantwortung ist für Martha eine große Belastung, aber sie prägt auch ihr weiteres Verhalten und entwickelt in ihr eine bemerkenswerte Ausdauer und Stärke.
»Wenn man es zu etwas bringen will«, sagt sie später zu Jakob, »muss man selbst aufsteigen durch Fleiß und guten Willen. Und meinem Kind werde ich diesen Grundsatz beibringen.« (S. 74)
Marthas Einstellung spiegelt ihren Glauben wider, dass persönlicher Erfolg und Eigenverantwortung der Schlüssel zu einer besseren Zukunft sind. Diese Werte möchte sie ihrem Sohn vermitteln, in der Hoffnung, dass die nächste Generation sie ebenfalls annimmt.
Der Verlauf der Geschichte und damit Marthas Leben wird erst durch ihren Enkel Bastian durchbrochen. Als Enkel hat Bastian einen emotionalen und zeitlichen Abstand zu den direkten Ereignissen und beteiligten Personen. Dies erlaubt ihm, die Situation objektiver zu betrachten, ohne die unmittelbare emotionale Betroffenheit, die sein Vater empfindet. Da Bastian einer anderen Generation angehört, bringt er eine andere Perspektive und Lebenserfahrung mit, die es ihm ermöglicht, Zusammenhänge zu erkennen, die seinen Vorfahren verborgen blieben.
Bastian, der Autor, besucht seine Großmutter im Altersheim und erfährt so ihre Geschichte, die er schließlich aufschreibt.
„Immer wieder staunte er, woher seine Familie kam, und wenn er allmählich den Drang seines Vaters besser verstand, um jeden Preis voranzukommen, so verurteilte er innerlich doch, was Toni dafür alles aufgab.“ (S. 264)
Lukas Hartmann erzählt seine Geschichte in chronologischer Reihenfolge. Sein Stil ist zurückhaltend, sachlich und lässt Emotionen nur sparsam zu. Der Roman besticht durch seine detaillierte und lebendige Schilderung der historischen Kontexte und die tiefgehende Charakterentwicklung. Hartmanns Fähigkeit, historische Ereignisse mit persönlichen Geschichten zu verbinden, verleiht dem Roman Tiefe und Authentizität.
Fazit
Der Roman "Martha und die Ihren" von Lukas Hartmann hat mich tief beeindruckt. Besonders hervorzuheben ist, dass der Autor seine eigene Familiengeschichte aufgeschrieben hat und uns somit einen authentischen und berührenden Roman präsentiert. Die Erzählung zeigt emotionale Tiefen wie Verlust, Liebe, das damalige Frauenbild und das Leben auf dem Land.
Die Perspektive von Martha, der Protagonistin, hat mir besonders gefallen. Hartmann gelingt es, die Herausforderungen und Veränderungen des 20. Jahrhunderts eindrucksvoll darzustellen. Die Themen des Romans erinnern mich sehr an Robert Seethaler "Ein ganzes Leben", der ebenfalls sehr emotional und aufwühlend ist. Beide Romane spielen in der Schweiz, was mich zu der Frage bringt: Ist dieses Leben auf dem Land nur in der Schweiz so vorstellbar? Wie wäre es bei uns gewesen? Diese Überlegungen lassen mich noch tiefer über die erzählten Geschichten nachdenken.
Mir hat der Roman sehr gut gefallen,und ich werde ihn definitiv für unsere nächste private Lesekreisrunde vorschlagen.
Der Schweizer Autor Lukas Hartmann, Jahrgang 1944, ist bekannt für seine historischen literarischen Porträts. Hier nun erweist er sich als Chronist in eigener Sache. In „ Martha und die Ihren“ hat er seine eigene Familiengeschichte verarbeitet; die titelgebende „ Martha“ ist seine Großmutter.
Die wuchs als zweitjüngstes Kind in ärmlichen Verhältnissen auf. Als der Vater nach einem Arbeitsunfall bettlägerig ist, wird die Lage für die achtköpfige Familie noch härter. Und nach dem Tod des Vaters ist die Mutter nicht in der Lage, allein für ihre Kinder zu sorgen. So kommt die achtjährige Martha als Verdingkind auf einen kleinen Bauernhof im Berner Umland. Auch ihre fünf Geschwister werden anderen Familien zugeteilt, Martha wird sie nie wiedersehen.
„ Die Kinder werden verdingt, auch das ist ein neues Wort für Martha. Später wird sie denken, dass das Wort ja stimmt, sie sind zu Dingen geworden.“
Ein Schicksal, das sie mit vielen Kindern und Jugendlichen in der Schweiz teilte.
Martha lebt nun bei der frommen Familie Bürgi, doch sie wird nie wirklich zur Familie gehören. Für das bisschen Essen und für den Schlafplatz in einer winzigen Kammer muss sie hart arbeiten. Doch sie darf zur Schule gehen und findet einen Fürsprecher in ihrem Lehrer. Der erkennt früh Marthas Intelligenz, aber den Besuch der Oberschule kann er nicht durchsetzen, dafür fehlt das Geld.
Mit seiner Unterstützung findet Martha eine Anstellung in einer Strickerei in Bern und damit einen Weg heraus aus der Abhängigkeit. Sie lernt den Schuster Jakob kennen, die beiden heiraten und bekommen zwei Söhne, Toni und Peter. Nach dem frühen Tod ihres Mannes setzt Martha alles daran, dass sich das, was sie in ihrer Kindheit erleben musste, nicht wiederholt. Ihre Söhne sollten es besser haben, vor der Schande, „armengenössig“ zu sein, bewahrt werden, nie Hunger leiden müssen.
Das ist Marthas Ehrgeiz und das bestimmt ihr Leben. Dafür geht sie eine zweite Ehe ein und dafür ist sie bereit, unablässig zu arbeiten und auf alles Unnötige zu verzichten. Doch was sie sich selbst abverlangt, erwartet sie auch von ihren Söhnen. Für Muße und für Gefühle ist kein Platz. Das harte Leben hat auch sie hart werden lassen. Martha hat kaum Liebe und Zuwendung erfahren und ist deshalb auch nicht in der Lage, eine zärtliche und liebevolle Mutter zu sein.
Das erfahren ihre Söhne und auch die geben das mütterliche Erbe weiter. Toni, der Älteste, hat den gleichen unbedingten Willen zum sozialen Aufstieg wie seine Mutter. „ Erst das würde die Familie davon erlösen, dass sie von einem Verdingkind abstammte.“ Er kämpft um eine berufliche Position, der er nicht gewachsen ist. Das macht ihn unglücklich und für seine Familie schwer erträglich. Gerade sein ältester Sohn Bastian, in dem man unschwer den Autor erkennen kann, leidet unter dem väterlichen Ehrgeiz und kämpft vergeblich um dessen Anerkennung.
Toni hat sein steter Kampf und die Unfähigkeit, Schwäche zuzulassen, zu viel Kraft gekostet. Er stirbt früh.
Erst die Enkelgeneration schafft tatsächlich den Aufstieg und sie erst kann es sich leisten, ihren künstlerischen Neigungen nachzugehen. Bastian wird seinen Lehrerberuf aufgeben und sich fortan dem Schreiben widmen. Was bei Martha nur ein Traum war „ Ich würde Blumen malen in allen Farben“ und bei Toni nur ein Hobby neben der Arbeit, nämlich das Trompetenspielen, wird beim Enkel zum Broterwerb.
Denn dieser Roman zeigt an vielen Beispielen, was ein Aufwachsen in ärmsten Verhältnissen bedeutet: Verlorenes Potential, ein Leben unterhalb seiner Möglichkeiten, auch auf der emotionalen Ebene.
Versöhnlich stimmt die Annäherung Bastians an seine Großmutter. Bei Besuchen im Altersheim wird ihm Martha von ihrer Vergangenheit erzählen und dadurch kann er mehr Verständnis für seine Familie aufbringen. „Trug er etwas von ihr in sich, war es möglich, dass auch sein Vater unter diesem Erbe litt.“
Lukas Hartmann ist nicht der Versuchung erlegen, aus Martha eine Heldin zu machen. Sie ist zäh und tüchtig, aber ebenso streng und dominant. Auch die anderen Figuren werden mit ihren Schwächen und Fehlern gezeigt. Der Leser hadert deshalb öfter mit ihren Verhaltensweisen und Handlungen. Doch alle verdienen unser Mitleid und Verständnis und unsere Achtung. Sie führen ein unspektakuläres Leben, das es trotzdem wert ist, aufgeschrieben zu werden.
Lukas Hartmann erzählt ohne literarische Raffinessen; streng chronologisch und in einer einfachen und nüchternen Sprache. So wie es für Schnörkel und Poesie im Leben von Martha und den Ihren keinen Platz gab, so findet sich auch davon wenig im Text. Trotz der lakonischen Erzählweise vermag der Autor beim Leser Gefühle wecken und Empathie für seine Charaktere schaffen.
Auf weniger als dreihundert Seiten hat Lukas Hartmann eine berührende Familiengeschichte über drei Generationen hinweg entwickelt. Dabei hat er sich auf das Wesentliche beschränkt; Wichtiges breiter erzählt, anderes gerafft. Der Autor lässt Leerstellen, erzählt nicht alles aus, muss er auch nicht.
Für Marthas Werdegang hat er sich Zeit gelassen; sie ist die zentrale Figur im Roman, von der aus alles seinen Lauf nimmt. Ihr Schicksal ist prägend für die nachfolgenden Generationen. Dazu passt der Titel des Romans „ Martha und die Ihren“.
Lukas Hartmann hat viele Bücher geschrieben, dies ist wohl sein persönlichstes und für mich sein bestes. Es ist ein Buch, das den Leser auch auf sich selbst zurückwirft, Familienstrukturen besser verstehen lässt und Verständnis schafft für die Generationen vor uns.
Ein Buch, dem ich sehr viele Leser wünsche und das sich wunderbar für Diskussionen in Lesekreisen eignet.
Lukas Hartmann, 1944 in Bern geboren, erzählt in diesem Roman die Geschichte seiner Großmutter Martha, beginnend Anfang des 20. Jahrhunderts und endend in der Nachkriegszeit nach dem 2. Weltkrieg.
Martha wächst in armen Verhältnissen auf. Ihr Vater, ein Brunnenbauer, stirbt früh und läßt Frau und sechs Kinder mittellos zurück. Wie damals in der Schweiz üblich, werden Mutter und Kinder getrennt und die Kinder auf verschiedenen Bauernhöfe als sog. Verdingkinder verteilt. So kommt auch Martha mit erst acht Jahren zur Familie Bürgi. Dort muß sie sich um den behinderten 14jährigen Sohn der Familie kümmern. Völlig überfordert von dieser Aufgabe vertraut sie sich ihrem Dorfschullehrer an, woraufhin der behinderte Sohn ins Heim kommt. Dennoch bleibt Marthas Leben bei den Bürgis hart und entbehrungsreich.
Martha ist eine gute Schülerin, intelligent, lernt schnell. Ihr Lehrer setzt sich erneut für sie ein, so dass sie eine Anstellung in der Strickfabrik in Bern erhält. Dort arbeitet sie bis zu ihrem 18. Lebensjahr und bis zu ihrer Heirat mit dem Schuhmacher Jakob.
Soweit die ersten Kapitel des Romans, die im Verhältnis zum Rest der Geschichte viel Raum einnehmen. In kurzen Sätzen und in sachlicher, beinahe distanziert wirkender Sprache erzählt der Autor von den Härten des Lebens, dem dieses zarte, kluge und doch so zähe Kind und die junge Frau Martha ausgesetzt ist. Die schnörkellose, fast emotionslose Sprache Hartmanns ist durchaus gewohnungsbedürftig, führt aber dazu, die raue Wirklichkeit umso intensiver nachvollziehen zu können. Als Leser empfindet man Sympathie für die Protagonistin.
Im weiteren Verlauf des Romans wird die Geschichte chronologisch geraffter erzählt. Die Jahre vergehen wie im Flug. Jakob der Schuhmacher stirbt jung, wie seinerzeit Marthas Vater, hinterläßt sie mit zwei Söhnen, Toni und Peter. Martha gelingt es, die Kinder bei sich zu behalten, sie müssen nicht "verdingt" werden. Ihre Söhne Toni und Peter wachsen jedoch wenig liebevoll auf. Alles wird Marthas Ziel, durch harte Arbeit und Gehorsam der Armut zu entkommen, untergeordnet. Die anfängliche Sympathie des Lesers für Martha schwindet. Relativ fassungslos ist man angesichts der Härte Marthas sich selbst und ihren Kindern gegenüber. Die Söhne heiraten ihrerseits. Toni arbeitet sich zum Büroangestellten hoch, die Enkel Bastian ( = der Autor Lukas Hartmann ) und Ferdi werden geboren.Toni aber opfert für sein berufliches Fortkommen seine Gesundheit und sein Familienleben, seine Ehe ist nicht glücklich. Der zweite Weltkrieg ist vorüber, Martha ist alt geworden und über die Zeit hart und verbittert.
Durch die ausführliche Darstellung der Kindheit Marthas als Verdingkind wird nun sehr deutlich, warum Martha und später auch ihr erster Sohn Toni zu den Menschen geworden sind, die sie am Ende ihres Lebens sind: verhärtet duch den ständigen Existenzkampf, kaum fähig, liebevolle Zuneigung zu zeigen. Anders ergeht es dem zweiten Sohn Marthas, Peter, dessen Ehe glücklich erscheint, und der mehr als Toni auf Distanz zu Martha geht. Im Verhältnis zwischen Martha und ihrem Sohn Toni scheint sich ein Muster durch diese Familie zu ziehen. Es gilt, der Armut zu entfliehen und um jeden Preis "etwas aus sich zu machen". Den Enkeln Bastian und Ferdi gelingt es dagegen, sich frei von den Prägungen ihrer Vorfahren zu entwickeln und der Leser schöpft Hoffnung, dass in der dritten Generation endlich ein selbstbestimmtes, glücklicheres Leben gelingen wird.
Die Geschichte von Martha und den Ihren wird trotz des reduzierten Sprachstils plastisch vermittelt, ohne die Protagonisten auf- oder abzuwerten. Sehr viel steht zwischen den Zeilen. Der Leser zieht unwillkürlich Parallelen zum eigenen Leben, zu den eigenen Großeltern, Eltern, Geschwistern und Kindern. Kann man den durch die Kindheit erfolgten Prägungen entkommen, warum gelingt dies dem einen Geschwisterkind, während ein anderes Kind den Prägungen so stark verhaftet bleibt ? Wie wirken sich äußere Umstände wie mangelnde staatliche Sozialfürsorge, harte durch Krieg und Hunger gekennzeichnete Zeiten auf die eigene Geschichte, die charakterliche Entwicklung aus ? Wie selbstbestimmt waren die eigenen Eltern/Großeltern, wie selbstbestimmt ist das eigene Leben ?
Lukas Hartmann gibt mit diesem Roman einen bemerkenswert mutigen Einblick in seine eigene Biographie und verarbeitet seine Geschichte zu großartiger Literatur. Zudem gewinnt der Leser mit der Schilderung des Schicksals des Verdingkindes Martha einen Eindruck vom unrühmlichen Kapitel dieses Teils der Schweizer Geschichte.
Der Roman hat mir sehr gefallen. Ich vergebe 5 Strene und eine große Leseempfehlung.
Bis zur Einführung der Invalidenversicherung, dem Ausbau der Alters- und Hinterlassenenversicherung sowie der obligatorischen Arbeitslosenversicherung in den 1960er- und 1970er-Jahren war die soziale Absicherung in der Schweiz überwiegend außerstaatlich organisiert: in den Familien, Kirchen, Firmen oder Gewerkschaften. Eines der dunkelsten Kapitel in der neueren Schweizer Geschichte ist auf diese fehlende Sozialstaatlichkeit zurückzuführen und dauerte von 1800 bis in die 1960er-Jahre: die behördlich angeordnete Fremdunterbringung von Kindern, das sogenannte Verdingwesen.
Das Verdingkind
Auch die Großmutter väterlicherseits des 1944 geborenen Schweizer Autors Lukas Hartmann erlitt das Schicksal eines Verdingkinds. Nachdem ihr Vater durch einen Arbeitsunfall zum Pflegefall geworden war, konnte die Mutter zunächst die Verdingung ihrer sechs Kinder abwenden. Nach dessen Tod jedoch wurden sie rasch auf verschiedene Pflegefamilien im Berner Umland aufgeteilt, auch die Zweitjüngste, die erst achtjährige Martha:
"Die Kinder müssen mitgehen, auch wenn sie die Leute nicht kennen, denn darunter sind solche aus anderen Dörfern, aber nur Männer. Die Kinder werden verdingt, auch das ist ein neues Wort für Martha. Später wird sie denken, dass das Wort ja stimmt, sie sind zu Dingen geworden." (S. 17)
Martha kommt zur Bauernfamilie Bürgi, gläubige „Stündeler“ aus einer evangelischen Gemeinschaft. Obwohl sie im Gegensatz zu vielen anderen Verdingkindern weder körperlichen noch sexuellen Missbrauch erfährt, muss sie doch hart arbeiten, leidet als letzte am Tisch unter Hunger, erfährt keinerlei Zuwendung und bleibt eine Fremde.
Alles opfern für den Aufstieg
Wäre "Martha und die Ihren" ein leichter Unterhaltungsroman, aus dem um seine Kindheit betrogenen, entwurzelten Verdingkind würde eine liebende Ehefrau und Mutter, die ihrer Familie die Wärme und Geborgenheit schenkt, die sie selbst so schmerzlich vermisst hat. Stattdessen macht das Schicksal aus ihr jedoch eine zähe, harte und dominante Frau, die weder Nähe noch Schwäche zulassen kann, und der kein glückliches Leben beschieden ist. Nach dem Tod ihres ersten Ehemanns, eines kränkelnden Schusters, für den sie heimlich die Werkstatt führte, steht sie mit den beiden ihr fremdgebliebenen Söhnen erneut vor dem Nichts. Selbst als sie durch das Milchgeschäft ihres zweiten Ehemanns und mit dem von ihm ererbten Haus bescheidenen Wohlstand erlangt, kommt sie nicht zur Ruhe.
Marthas Dämonen gehen über auf ihren älteren Sohn Toni, der wie sie nur für die Arbeit und den sozialen Aufstieg seiner Familie lebt und daran zugrunde geht. Gegen seine Strenge, sein kleinbürgerliches Leben und die patriarchalisch geprägte Ehe lehnt sich sein ältester Sohn Bastian auf, hinter dem sich der Autor versteckt.
Bewegung durch Öffnung
Erst mit dem Abstand der Enkelgeneration gerät etwas in Bewegung: Angeregt durch die bruchstückhaften Erzählungen seiner Großmutter im Altersheim beginnt Bastian, Martha und die Folgen ihres Traumas auf ihre Nachfahren zu verstehen – als Voraussetzung für die eigene Gesundung.
Chronologisch, mit viel psychologischem Gespür und einem mit seiner knappen Nüchternheit hervorragend zu den Figuren passenden Stil erzählt Lukas Hartmann über drei Generationen und die langen Schatten der Vergangenheit. Besonders gut gefallen hat mir, dass er mit viel Wärme, besonders für die weiblichen Familienmitglieder, erklärt, anstatt zu werten oder gar anzuklagen. Es gelingt Lukas Hartmann hervorragend, Denkprozesse über die eigene Familie aus veränderter Blickrichtung in Gang zu setzen, damit wir im besten Falle verstehen, warum wir so geworden sind, wie wir sind. Was kann man mehr verlangen von Literatur?
"Man holt sie ab, eines nach dem andern, auf freundliche Weise oder auf missmutige.(...) Die Kinder werden verdingt (...). Später wird sie denken, dass das Wort ja stimmt, sie sind zu Dingen geworden."
In einem kleinen Dorf nahe Bern Anfang des 20. Jahrhunderts stirbt der Vater einer achtköpfigen Familie . Die Mutter kann sich und die sechs Kinder nicht mehr ernähren,. Von bitterer Armut und dem Hungertod bedroht wird die Familie auseinandergerissen, Die Kinder kommen getrennt voneinander auf Bauernhöfe und müssen dort als sogenannte Verdingkinder für Kost und Logis arbeiten. Die kleine Martha, klug und fleißig, muss in der Bauersfamilie, in der sie geduldet, nicht erwünscht ist, in einer Welt voller emotionaler Kälte, Hunger und harter Arbeit ihren Weg gehen. Zeit für persönliche Entwicklung oder Hobbys bleibt ihr nicht. Doch Martha scheitert nicht an ihren Aufgaben, sie kämpft sich durch, geht früh in der Strickfabrik arbeiten, auch wenn sie das Talent für einer weiterführende Schule gehabt hätte. Sie heiratet einen kränkelnden Schuster, bekommt zwei Kinder, die sie mit den gleichen Ansprüchen groß zieht: Macht was aus euch, arbeitet hart und seid strebsam. Sowenig Liebe und Zuneigung sie erfahren hat, so wenig kann sie an ihre Kinder weitergeben. Ihr ältester Sohn, der sensibel und weniger gemütsstark ist, verhärtet unter den Ansprüchen der Mutter und der fehlenden Zuneigung. Auch Tonis Ziel ist es, im Leben voran zu kommen, es zu etwas zu bringen und jemand zu sein.
Erst Marthas Enkel erkennt, was für einen Preis seine Großmutter und sein Vater für die Sicherheit und den Wohlstand, den sie sich erarbeiteten, bezahlen mussten. Später besucht Bastian, der älteste Enkelsohn, seine Großmutter Martha und kommt mit ihr in Kontakt. Martha öffnet sich ein stückweit und erzählt ihm aus ihrem Leben. Und so kann Bastian nicht nur die das eigene Verhältnis zum Vater besser reflektieren, sondern auch das des Vaters zu Martha besser verstehen.
Lukas Hartmann hat mit "Martha und die Ihren" seiner Großmutter ein Denkmal gesetzt, ohne sie zu glorifizieren. Indem er die eigene Familiengeschichte über drei Generationen aufgezeichnet hat, gibt er uns einen tiefen, ehrlichen Einblick in das harte, entbehrungsreiche Leben seiner Großmutter und ihrem Streben, die Vergangenheit und damit den Hunter und die Armut hinter sich zu lassen. Dabei hat er sie sehr real und reflektiert dargestellt, sie nicht zu einer Heldin stilisiert. Sie war ein schwieriger Mensch, unnachgiebig zu sich und ihren Angehörigen, nicht der liebenswerte, zugängliche, mütterliche Typ. Die Traumata, die Martha seit frühester Kindheit mit sich herumgetragen hat, gibt sie an die nächste Generation weiter. Um die Anerkennung und Aufmerksamkeit der Mutter zu bekommen, strebt ihr Sohn Toni ihr nach, macht ähnliche Fehler und verzweifelt letztlich daran. Erst die Enkel, hier besonders der älteste Bastian, schaffen es, sich von den Ansprüchen frei zu machen.
Die Familiengeschichte wird chronologisch und stellenweise sehr gerafft erzählt und hat mir insgesamt sehr gut gefallen. Marthas Geschichte weckt in gleichem Maße Verständnis wie Unverständnis, man wünscht sich für sie und die Ihren einen anderen Weg, eine andere Möglichkeit miteinander umzugehen. Und trotzdem liest man gebannt weiter. Für mich hatte das Buch keine Längen, ich hätte mir tatsächlich lieber noch 150 Seite mehr gewünscht, um einiges etwas mehr auszuschmücken oder mehr darüber zu erfahren. Der zweite große Gewinn ist die Selbstreflexion, zu dem das Buch einlädt. Dass man über die eigene Familiengeschichte nachdenkt und vielleicht auch mit Eltern und Großeltern ins Gespräch kommt. Sprachlich ist das Buch eher schlicht. Der Vorteil ist, dass man schnell in das Buch und den Lesefluss findet und dass die reduzierte Art des Erzählens gut zu Marthas emotionsarmen, kargen Leben passt. Dennoch hätte ich mir etwas mehr sprachliche Finesse gewünscht, an einigen Stellen ausführlichere Beschreibungen der Situationen und ein paar mehr Emotionen.
Alles in allem kann ich das Buch jedem empfehlen, der gerne Geschichten mit komplexer Familiendynamik liest, der selbst ein schwieriges Verhältnis zu Eltern oder Großeltern hat und der gerne nachvollziehen möchte, warum unsere (Groß-)Eltern so wurden, wie sie heute sind.
Lukas Hartmann erzählt in seinem neuen Roman die Geschichte seiner Großmutter väterlicherseits: "Martha und die (der) Ihren."
Zunächst steht die junge Martha im Mittelpunkt des Geschehens. Da ihr Vater früh verstirbt und ihre Mutter die Familie mit den 6 Kindern nicht alleine ernähren kann, werden diese auf andere Bauernhöfe verteilt. Anfang des 20. Jahrhunderts war das in der Schweiz, die Geschichte spielt in einem kleinen Dorf in der Nähe Berns, übliche Praxis. Martha wird ein sogenanntes Verdingkind - eine Schmach, die ihr ganzes Leben bestimmt.
Sie kommt zu einer Familie mit 5 Kindern und muss sich hintenan stellen - eine winzige Schlafkammer, kaum genug zu essen, zudem muss sie auf Severin aufpassen. Wahrscheinlich leidet er an Trisomie 21 und überfordert Martha, die nicht weiß, wie sie mit ihm umgehen muss. Eigentlich eine Zumutung. Gegen alle Widerstände setzt sie sich durch und beginnt in der Spinnerei zu arbeiten - ist fleißig und gönnt sich keine Pausen. Ihre größte Angst ist wieder arm zu werden, sie setzt alles daran, um zu etwas Wohlstand zu gelangen.
Als sie selbst Mutter wird, leidet der kleine Toni unter ihrem Arbeitseifer. Toni ist der Vater des Autors, wobei dieser die Namen seiner Familie bis auf "Martha" geändert hat, wie er im Nachwort erklärt. Statt Toni Liebe und Zuneigung zu schenken, muss Martha für ihre Familie sorgen, da ihr Mann erkrankt ist, so dass sie die Schusterarbeiten nebst Haushalt mit übernehmen muss.
In ihrer Geschichte spiegelt sich vor allem auch die Last wider, die auf den Frauen gelegen hat. Martha durfte nur heimlich arbeiten, da die Bauern Schuhe, geflickt von einer Frau, die das Handwerk nicht gelernt hat, nicht angenommen hätten. Hinzu kommt die schwierige politische Situation, im Rest Europas herrscht Krieg und auch die neutrale Schweiz ist von der Lebensmittelknappheit betroffen.
Der Preis, die Armut zu besiegen, bringt auf Seiten Marthas zwar unbedingten Arbeitseifer, Fleiß und Geschick mit sich, allerdings auch ein Zurückstecken aller persönlichen Wünsche und Träume. Es ist unglaublich, was diese Frau alles geleistet hat - gleichzeitig ist sie nicht in der Lage, ihren Kindern Liebe oder auch nur Wärme und Lob zu schenken. Sie selbst hat es nicht erfahren, wie soll sie es weitergeben.
Dieser Mangel bestimmt auch Tonis Leben, der ebenfalls unfähig ist, seinen Sohn Bastian (= Lukas Hartmann) zu loben, ihm seine Liebe zu zeigen. Auch Toni schuftet, um finanziellen Wohlstand zu erreichen, ohne seine eigenen Bedürfnisse und Interessen zu berücksichtigen. Erst Bastian kann sich aus dieser Spirale befreien.
Der Roman zeigt sehr deutlich, wie sich Marthas Lebensumstände auf die nächste und auch noch die übernächste Generation auswirken. Zwar hätten ohne ihren Arbeitswillen ihre Kinder vielleicht das gleiche Schicksal erlitten wie sie selbst, doch die psychischen Auswirkungen der mangelnden Aufmerksamkeit begleiten sie lebenslang und sie geben diese Erfahrungen weiter.
Sehr authentische Figuren, allerdings bleiben sie distanziert. Der Autor wählt eine sehr nüchterne, sachliche Sprache und rafft auch große zeitliche Abschnitte, um alle drei Generationen darstellen zu können. So habe ich den Roman mit Interesse gelesen, ohne wirklich in die Geschehnisse emotional involviert zu sein.
Die Frage, inwiefern das Schicksal meiner Vorfahren mein eigenes bestimmt, beantwortet Hartmann für seine Familie väterlicherseits allerdings sehr glaubwürdig.
Eine Familiengeschichte über drei Generationen - wie Herkunft und Lebensumstände auch die Kinder und Enkel beeinflussen können
Geht es nicht vielen so? Man möchte die Familiengeschichte aufschreiben? Der schweizerische Autor Lukas Hartmann hat es getan und die Lebensgeschichte seiner Großmutter Martha aufgeschrieben, die auch die seiner Familie ist.
Martha ist ein kluges kleines Mädchen, das schon früh lesen und schreiben kann, aber von Anfang an 'nicht auf Rosen gebettet' ist. Die Familie ist arm, der Vater krank und als er stirbt, wird es erst richtig schlimm. Mutter und sechs Kinder werden getrennt, Martha als Verdingkind (-Ding-) in eine fremde Familie gegeben, wo sie nie ganz heimisch wird und immer eine Fremde bleibt. Ihr wird hauptsächlich die Aufgabe übertragen, sich um den behinderten Sohn zu kümmern, was Martha überfordert, aber auch ihr weiteres Verhalten prägt und ihr Durchhaltevermögen weckt.
Weiter geht es mit einem Leben voller Arbeit, kranken Ehemännern, zwei Söhnen, bei denen es Martha schwer fällt, Liebe zu zeigen und das alles in einer ziemlich distanzierten Erzählweise und einer schlichten emotionslosen Sprache, so dass ich als Leserin das Gefühl des Abstands zu den Personen hatte. Es geht chronologisch voran, was das Lesen leicht macht und es gibt sowohl mir zu geraffte als auch detaillierte Passagen.
Dass so ein Leben wie das von Martha auch auf die Erziehung der Söhne und ihre Entwicklung durchschlägt, liegt nahe und erklärt vieles. Wir erfahren einiges über den Verlauf ihres Lebens, Heirat und Kinder, die Probleme mit der Versorgung der alten Eltern und wie es schließlich für Martha nach einem Leben voller Arbeit endet. Aber wenigstens baut sie zum Schluss eine Beziehung zum Enkelsohn Bastian auf (der Autor selbst) und erzählt ihm einiges aus ihrer Vergangenheit - ein Lichtblick ebenso wie die Pläne der beiden Enkel für die Zukunft.
Fazit
Wer gerne Familiengeschichten liest und sich an distanzierter Erzählweise nicht stört, dem kann ich dieses Buch sehr empfehlen. Ein ganz großer Pluspunkt: es regt an, über Verschiedenes nachzudenken, die eigene Familiengeschichte noch einmal zu beleuchten, zu überlegen, was einen beeinflusst und geprägt hat, welche Wege es gibt, sich davon zu befreien oder ungute Prägungen zu verarbeiten. - Was will man mehr von guter Literatur?
Dass die Schweiz ein Alpenidyll der Sonderklasse ist oder jemals war, darf man natürlich nicht glauben. Doch wie sehr Armut und ein Schicksalsschlag das Leben dort prägen konnten, zeigt Lukas Hartmann mit seinem neuen Roman. Er arbeitet darin die Lebensgeschichte seiner Großmutter Martha auf und zeigt, wie sehr in der Kindheit erfahrene Kälte den Lebensweg auch kommender Generationen prägen kann. Martha wird früh in eine Rolle genötigt, die sie gar nicht ausfüllen kann und für die es auch keinerlei Unterstützung oder Belohnung gibt. Die Emotionen aller Art, die sie sich danach für immer versagt, beeinflusst auch die Erziehung ihrer beiden Kinder.Ihre Söhne erfahren wenig Liebe, erst mit dem Enkel kann sie über das sprechen, was war und auch dann nur in kurzen Momenten. Es wird dem Autor nicht leicht gefallen sein, so tief in die eigene Familiengeschichte einzutauchen. Ich finde, dass er die selbst auferlegte Aufgabe sehr gut gemeistert hat. Das Buch gibt dem Leser viele Anregungen, auch über den eigenen Werdegang nachzudenken. Es ist in meinen Augen auf jeden Fall lesenswert.
Beeindruckendes Familienportrait
Als Marthas Vater stirbt, ist sie acht Jahre alt. Ein soziales Netz gibt es Anfang des 20. Jahrhunderts in der Schweiz nicht, so dass die sechs Kinder der Familie voneinander und von der Mutter getrennt werden, um als Verdingkinder auf verschiedenen Bauernhöfen unterzukommen. Die Mutter konnte ihre Kinder allein ohne Mann nicht ernähren. Martha kommt auf den Hof der Bürgi, wo sie sich ganz unten in der Hierarchie einordnen muss. Sie bekommt wenig zu essen, keine Liebe und regelmäßige, unangenehme Pflichten zu erledigen. Martha versucht sich damit zu arrangieren. Wenn es ganz schlimm wird, hat sie den Lehrer, der ihre Interessen bei den Bürgis vertritt und zumindest für das Notwendigste sorgt. Diese Jahre als Verdingkind haben Martha gestählt und hart gemacht – zu sich und anderen. Wirkliche Chancen bekam sie trotz überdurchschnittlicher Intelligenz und großem Fleiß nicht. Als sie alt genug ist, arbeitet sie in der Strickerei, heiratet früh den um zehn Jahre älteren Schuhmacher Jakob. Sie ist patent, ehrgeizig und fleißig, sie bekommt zwei Söhne, Toni und Peter. Die Jungen müssen wie nebenbei groß werden. Martha hat alle Hände voll zu tun, auch weil sie zusätzlich zu allem anderen ihren kranken Mann in der Werkstatt ersetzen muss. Mutterliebe bleibt auf der Strecke. Es ist ein karges, hartes Frauenleben, das Hartmann hier eindrücklich schildert und dass den heutigen Leser schockiert. Doch Hartmann beschränkt sich nicht auf das bewegende Schicksal Marthas. Er geht weiter in der Zeit, beschreibt das Leben ihrer Söhne. Auch sie müssen sich den Unbilden der Zeit beugen, müssen ihre Ausbildung zu Gunsten wirtschaftlicher Notwendigkeiten zurückstellen. Beide heiraten sehr unterschiedliche Frauen, bekommen Kinder. Eines dieser Kinder, Marthas Enkel Bastian, nimmt den Faden auf und bringt diese bewegende Familiengeschichte zu Papier.
Hartmann schreibt unprätentiös, fast lakonisch, distanziert und in einfacher Sprache. Trotzdem hallen die Inhalte im Leser wider. Ohne jegliche Sentimentalität vermag es der Autor, das im Grunde ebenso tragische wie für damalige Zeiten fast alltägliche Schicksal einer in Armut geborenen Frau zu beschreiben. Wie wirken sich erlebte Härten auf Marthas weiteres Leben aus, auf das ihrer Söhne, ihrer Enkel? Es wird deutlich, dass Marthas Erlebnisse in den nachfolgenden Generationen Wurzeln schlagen, dass sich angeborene oder erlernte Verhaltensweisen nicht eben abstreifen lassen. Hartmann erzählt chronologisch, manches wird nur kurz angerissen, manches ausführlich dargelegt, was möglicherweise damit zu erklären ist, dass die Quellenlage Fragen offenlässt, die er nicht fiktionalisieren wollte. Der Autor schildert sachlich, ohne zu werten. Dieser Roman wird niemanden kalt lassen. Die Lektüre führt zwangsläufig dazu, dass man auf die eigene Familiengeschichte zurückblickt, dass man Verständnis für seine Vorfahren entwickelt, für ihr Leben, ihre Fehlentscheidungen und Härten.
Große Leseempfehlung für alle Leser authentischer Familiengeschichten. „Martha und die Ihren“ ist ein Roman, der breite Leserschichten erreichen sollte und für Diskussionen bestens geeignet ist.