Karnstedt verschwindet: Roman

Buchseite und Rezensionen zu 'Karnstedt verschwindet: Roman' von Alexander Häusser
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5 von 5 (8 Bewertungen)

Inhaltsangabe zu "Karnstedt verschwindet: Roman"

Format:Taschenbuch
Seiten:208
Verlag: Pendragon
EAN:9783865328571

Rezensionen zu "Karnstedt verschwindet: Roman"

  1. Einmal Freunde, immer Freunde?

    „Karnstedt und Simon waren Gefangene oder Soldaten im Kampf gegen die Welt oder […] Schiffbrüchige auf einer einsamen Insel.“ (S. 161)

    Simon und Karnstedt – zwei ungleiche Freunde, die eins verbindet: sie werden in der Schule gemobbt. Karnstedt wegen seiner Haarlosigkeit aufgrund eines Gendefekts, Simon wegen seines Kleinwachstums. Außenseiter verbinden sich üblicherweise. Doch hält die Freundschaft ein Leben lang?

    Nun, (nicht nur) dieser Frage geht Autor Alexander Häusser in seinem jetzt neu aufgelegten und beim Bielefelder Pendragon-Verlag erschienenen Roman „Karnstedt verschwindet“ (Erstveröffentlichung: 2007, jetzt überarbeitet und erweitert) nach und packt auf 220 Seiten so viel Themen, wo andere Autor:innen je Thema ein Buch über 400 Seiten schreiben. Aber länger ist nicht immer besser. Das stelle ich in letzter Zeit immer wieder fest…Egal, zurück zu Karnstedt.

    Selbiger ist verschwunden und jetzt steht Simon vor dem „Trümmerhaufen“ des Karnstedt´schen Nachlasses in Dänemark. Während er die Papiere ordnet, erinnert er sich…

    …und nimmt die Leser:innen mit auf eine Reise in die Hintergründe einer besonderen Freundschaft, eines Geheimnisses seit Jugendtagen und in die Gefühlswelten von (pubertierenden) Jungs, die auf der Suche nach sich selbst manchmal auch jemand anderes finden und diesen Jemand am liebsten auf ewig an sich binden würden – manchmal auch zu einem hohen Preis.

    Alexander Häusser vermeidet es durch seine grandiose empathievolle Figurenzeichnung geschickt, dass man als Leser:in nur Mitleid mit Karnstedt und Simon oder nur „Hass“ für den Obermobber Tummer empfindet. Nein, jeder Charakter darf Stärken und Schwächen und somit komplett andere Seiten zeigen als die, die für ihn von Vornherein „festgelegt“ sind. Das ist großes Autorenkunst(hand)werk!

    Ein Roman, der nachwirkt und wie schon „Noch alle Zeit“ (ebenfalls von Alexander Häusser) einen Dauerplatz in meiner Bibliothek bekommt!

    5* und absolute Leseempfehlung!

    ©kingofmusic

  1. Verbunden über den Tod hinaus

    "Karnstadt verschwindet" ist das erste Werk von Alexander Häusser, das ich las, und ich bin restlos begeistert. Der bereits 2007 erstmalig erschienene und nun neu aufgelegte Roman hat mich von der ersten Seite an in seinen Sog gezogen. Genretechnisch ist der Roman eine Kreuzung aus Coming of Age Story, aber auch Spannungsroman. Häusser gibt mit seiner Geschichte Rätsel auf, die geknackt werden wollen.

    Im Kern geht es um eine seit nunmehr 20 Jahren ruhende Freundschaft zwischen zwei Jungs, die in der Schulzeit Außenseiter waren. Eine Verbindung von äußerlich verfehlten Schönheitsidealen mit gleichzeitig überdurchschnittlicher Intelligenz führte zu manch Hänselei und auch konkreter Handgreiflichkeit. Der haarlose Karnstedt war davon in besonderer Weise betroffen. Doch auch Simon fand mit seinem mädchenhaften Erscheinungsbild wenig Anklang. Durch ihr gemeinsames Schicksal waren sie in besonderer Weise verbunden. Doch dann geschah etwas, was zu einem Kontaktabbruch führte.

    Umso erstaunlicher, dass Karnstedt SImon nun nach seinem eigenen (vermeintlichen?) Ableben auf die dänische Insel zitiert, wo er bis zuletzt in Abgeschiedenheit gelebt hat. Simon soll Karnstedts Nachlass ordnen und folgt schicksalsergeben Karnstedts posthumen Ruf. Eine späte Wiedergutmachung? Für was?

    Der Leser begibt sich auf Zeitreise zurück in die Anfänge der Freundschaft. Ich musste schon schlucken angesichts des damals stattgefundenen Mobbings, wie man wohl heute sagen würde. Parallel zur Reise in die Vergangenheit begleiten wir Simon bei seinen Bemühungen, den Nachlass zu ordnen. Währenddessen erinnert er sich an früher und fragt sich, welches Schicksal seinen Jugendfreund ereilt hat? Die Nachbarin scheint ihm auszuweichen, doch Simon bleibt am Ball, gibt nicht auf, nachzuforschen. Neben der Gegenarts- und Vergangenheitsebene gibt es noch eine weitere Ebene rund um eine Insel.

    Häusser gibt dem Leser Rätsel auf. Am Ende werden sie, wenn auch nicht in allen Detailfragen gelöst. Mir hat sehr gut gefallen, wie die einzelnen Fäden am Ende zusammen geführt werden. Und ich bin sicher: In der Romanwelt von Alexander Häusser, gibt es für mich noch biel zu entdecken. Uneingeschränkte Leseempfehlung!

  1. 5
    22. Sep 2023 

    Machtspiele

    Alexander Häussers Roman „Karnstedt verschwindet" erzählt eine Geschichte über Freundschaft, Geheimnisse und Machtspiele.
    Die Geschichte beginnt mit dem Verschwinden Karnstedts, einem der beiden Protagonisten dieses Romans. Zum Zeitpunkt seines Verschwindens lebt er allein und zurückgezogen in einem kleinen Dorf in Dänemark. Die Umstände lassen vermuten, dass sich Karnstedt das Leben genommen hat. In seiner Schulzeit vor über zwanzig Jahren hatte er einen besten Freund – Simon -, der nun mit der Auflösung von Karnstedts Nachlass betraut wird. Da die beiden unmittelbar nach dem Abitur den Kontakt zueinander abgebrochen hatten, stellt sich die Frage, warum ausgerechnet Simon von Karnstedt für diese Aufgabe auserkoren wurde und natürlich, wie es dazu kam, dass die besten Freunde aus Schultagen plötzlich getrennte Wege gingen.

    Die Geschichte wird aus der Perspektive von Simon erzählt, der zu Beginn des Romans in Karnstedts Haus in Dänemark eintrifft und sich dort über einen Zeitraum von knapp zwei Wochen aufhalten wird, um den Verkauf von Karnstedts Besitz in die Wege zu leiten. Währenddessen versucht er zu verstehen, was aus dem Karnstedt von früher geworden ist. Dabei gehen Simons Gedanken immer wieder in die Schulzeit zurück. Anhand dieser Erinnerungen wird die Geschichte der Freundschaft zwischen Simon und Karnstedt erzählt, die ihre Anfänge nahm, als die beiden Jungen zwölf Jahre alt waren. Als Außenseiter in der Schule fanden sie notwendigerweise zueinander und behaupteten sich gemeinsam gegen die anderen Schüler, die insbesondere Karnstedt als Opfer für ihre Schikanen und Übergriffe auserkoren hatten. Über die Jahre wurde diese Freundschaft immer intensiver, begleitet von pubertären Träumen und Sehnsüchten, die sie miteinander teilten; genauso wie das Geheimnis, das zum Ende ihrer Schulzeit zum Bruch dieser Freundschaft führte, und welches erst zum Ende des Romans aufgedeckt wird.
    „Karnstedt verschwindet" ist ein Buch voller Geheimnisse, manche werden aufgelöst, manche nicht. Eines dieser ungelösten Geheimnisse bleibt der Vorname von Karnstedt und die Frage nach seiner Herkunft. Karnstedt ist einfach nur Karnstedt. Der Leser erfährt nur sehr wenig über seine Vergangenheit, genauso wenig wie über sein Leben bis hin zu seinem Verschwinden. Der Blick richtet sich hauptsächlich auf die wenigen Jahre der Schulfreundschaft zwischen Simon und Karnstedt. Durch Simons Erinnerungen an die damalige Zeit und seine wenigen Beschreibungen von Karnstedt und der Freundschaft der beiden Jugendlichen, entsteht ein zweifelhaftes Bild von Karnstedt, das einiges an Interpretationsspielraum zulässt.
    Man beginnt dieses Buch als eine Geschichte über die Freundschaft zweier Männer, die sich während ihrer Schulzeit durch ihre Außenseiterrolle gesucht und gefunden haben. Zwei liebenswerte Charaktere - der eine mit einem sehr selbstbewussten Auftreten, der andere schüchtern und zurückhaltend -, die sich gegen die Angriffe der anderen Schüler behaupten und sich gegenseitig unterstützen. Doch je länger die Handlung voranschreitet. umso häufiger stolpert der Leser über kleine subtile Hinweise, die für Misstöne in der Wahrnehmung dieser harmonischen Freundschaft sorgen. Das sorgt für eine langsame aber stetig ansteigende Spannungskurve, die die Lektüre dieses Romans gerade zum Ende hin sehr fesselnd macht.

    Ein hoher Lesegenuss entsteht durch die facettenreiche Erzählweise in diesem Roman: leise, aber klangvolle Erzähltöne; unterschiedliche Perspektiven; eine Geschichte in einer Geschichte; ein sehr atmosphärischer Schauplatz, insbesondere, was die Handlungsebene der Gegenwart betrifft.
    Anfangs bestimmt die ruhige und melancholische Stimmung die Lektüre, die zwar wohltuend ist, diesen Roman jedoch nicht besonders macht. Seine Besonderheit entsteht durch die kaum erkennbaren Spuren, über die man immer wieder stolpert, und welche das anfängliche Bild von Karnstedt und seiner Freundschaft zu Simon nach und nach ins Wanken bringen.
    „Karnstedt verschwindet" ist für mich daher ein Roman, der mit jeder Seite dazu gewonnen hat und mich am Ende vollends überzeugen konnte.

    © Renie

  1. Sehr einfühlsame aber auch spannende Geschichte

    Sehr einfühlsame aber auch spannende Geschichte

    Als Simon Welde im gesetzten Alter an die 40 die Nachricht erhält, dass sein ehemals bester und einziger Freund verschwunden ist, und er seinen Nachlass verwalten soll, fällt er erstmal aus allen Wolken. Alte Wunden reißen wieder auf, und er stellt fest, dass es nicht immer leicht ist sich dem zu stellen.
    Simon reist also nach Dänemark, um den Haushalt aufzulösen und das Haus zu verkaufen. Er muss feststellen, dass Karnstedt sich sehr zurückgezogen hat, und es keine Hinweise auf seinen Verbleib gibt.
    Simon und Karnstedt haben sich vor gut 20 Jahren in der Schulzeit angefreundet, beide waren Außenseiter, so war man nicht allein, wenn die anderen einen mobbten. Karnstedt war in meinen Augen allerdings öfter das Ziel der Widersacher, was wahrscheinlich auch an seinem speziellen Aussehen lag, denn er war haarlos. Die hohe Intelligenz der beiden sorgte zusätzlich für Zunder. Wobei man auch erwähnen muss, das Karnstedt oft durch sein Wissen punkten konnte, indem er die anderen ausbootete.
    Diese Freundschaft wurde für Karnstedt sehr wichtig, wichtiger als sie dem Anschein nach jemals für Simon war. Leider tut Karnstedt dann etwas, was fatale Folgen hat……

    Alexander Häusser hat mit diesem Roman ein Buch geschaffen, dass mich sehr ergriffen hat. Diese Freundschaft, die zwei Außenseiter zusammenführt, und die für beide etwas ganz anderes bedeutet, regt zum nachdenken an.
    Außerdem hält die Handlung am Ende noch eine spannende Entwicklung und Wende bereit, mit der ich überhaupt nicht gerechnet habe.
    Am Ende bleibt die Frage, wohin ist Karnstedt verschwunden? Oder fand sein Verschwinden schon viel früher statt, als er den wichtigsten Menschen in seinem Leben verloren hat? Was passiert wenn Liebe unerwidert bleibt?

  1. 5
    04. Sep 2023 

    Was aus Liebe geschah

    Dieser Roman erschien schon 2007 und wurde damals von der Kritik hoch gelobt. Nun hat der Pendragon Verlag eine überarbeitete Neuausgabe herausgebracht und zeigt damit, dass das Buch keineswegs Patina angelegt hat, sondern, im Gegenteil, auch heute noch seine volle Wirkung entwickelt.
    Ja, Karnstedt ist verschwunden. Zuletzt hatte er einsam auf einem abgelegenen Bauernhof in Dänemark gelebt und dann anscheinend den Tod im Meer gesucht. Seine Leiche wurde nicht gefunden, allerdings gibt es einen Abschiedsbrief, in dem er Simon Welde zu seinem Nachlassverwalter erklärt. Dieser ist überrascht, denn schließlich hat er seit zwanzig Jahren keinen Kontakt mehr zum ehemaligen Jugendfreund. Trotzdem reist er an und macht sich eher widerwillig daran, das Chaos im Haus zu beseitigen und alles für den Hausverkauf in die Wege zu leiten. Dabei steigen Erinnerungen in ihm auf, Erinnerungen an ihre gemeinsame Jugend in der schwäbischen Provinz.
    Karnstedt war aufgrund eines Gendefekts am ganzen Körper haarlos und wurde deswegen von den Mitschülern gehänselt und gequält. Auch Simon mit seinem „ Mädchenkörper“ war Zielscheibe des Spotts der anderen. Die beiden Außenseiter verbünden sich und aus dem Zweckbündnis wird eine tiefe Freundschaft. Beide begeistern sich für Paläontologie und träumen von einer Karriere als Forscher und Wissenschaftler, raus aus der provinziellen Enge, hinaus in die weite Welt.
    Die Beziehung bekommt erste Risse, als Simon sich für eine wesentlich ältere Frau interessiert. Gleichzeitig will er nicht wahrhaben, dass Karnstedt sich weitaus mehr von der Beziehung zu ihm erhofft.
    Doch was hat nun zum endgültigen Bruch zwischen den ehemaligen Freunden geführt? Diese Frage beschäftigt den Leser, bis er am Ende die Antwort erhält.
    Doch das ist nicht das einzige Rätsel, das uns der Autor aufgibt. Was ist mit Tummer passiert, dem Anführer der Clique, die die Jungs tyrannisiert hat? Und was ist das für eine seltsame Frau aus dem Nachbarhaus in Dänemark, die Simon ständig aus dem Weg zu gehen scheint? Welche Rolle spielen die im Text eingestreuten Berichte der Henderson Expedition?
    All das beschäftigt den Leser lange, doch am Ende führt der Autor gekonnt die Fäden zusammen.
    Für Spannung sorgt auch der raffinierte Aufbau des Romans . Häusser legt seine Geschichte auf zwei Erzählebenen an, die sich abwechseln. Mal sind wir auf der Gegenwartsebene und begleiten den Ich- Erzähler Simon bei den Aufräumarbeiten im Haus und seinen Nachforschungen in Dänemark. Dann wieder berichtet ein auktorialer Erzähler von den Geschehnissen in den 1970er Jahren. So bildet sich langsam ein Gesamtbild, bei dem trotzdem Raum bleibt für eigene Interpretationen.
    Dabei werden einem die Protagonisten zwar nicht sympathisch, doch man versteht die Gründe für ihre Handlungsweisen. Denn sie sind im Grunde ein Ruf nach Verständnis, Nähe und Liebe.
    Karnstedt ist die dominierende Figur in der Beziehung, einer, der über den Tod hinaus noch Einfluss und Macht über Simon besitzt. Dabei geht er äußerst manipulativ vor. Doch zu seiner Entschuldigung muss man sagen, dass vieles von dem, was er tat, aus Liebe zu Simon geschah.
    Im Grunde haben alle in die Geschichte verwickelten Figuren Fehler gemacht, sind schuldig geworden und der Preis, den sie dafür zu zahlen hatten, war immens. Das gibt dem Roman etwas von der Wucht einer klassischen Tragödie.
    „ Karnstedt verschwindet“ ist ein schmaler Roman, der auf wenigen Seiten viele Themen verhandelt, ohne überfrachtet zu sein. Seine Faszination bezieht der Text auch aus der Sprache. Häusser schreibt ruhig, aber eindringlich, lässt Szenerien lebendig werden und arbeitet mit Symbolen und Bildern, die sich nicht immer auf Anhieb entschlüsseln lassen.
    Auch wenn dieser frühere Werk noch nicht an Häussers großartigen Roman „ Noch alle Zeit“ heranreicht, so ist es doch äußerst lesenswert.

  1. Keine Freundschaft fürs Leben

    Karnstedt ist verschwunden und Simon Welde soll seinen Nachlass verwalten. Obwohl Simon verwundert ist, denn sie hatten ungefähr zwanzig Jahre keinen Kontakt mehr, reist er nach Dänemark. Das Arbeitszimmer in Karnstedts Bauernhof ist total verwüstet. Simon versucht zu ergründen, was mit Karnstedt passiert sein könnte. Dabei kommen Erinnerungen hoch an die Zeit, als sie Schüler waren und Außenseiter. Karnstedt hatte keine Haare und wurde von seinem Klassenkameraden Tummer und dessen Clique gemobbt. Auch Simon stand am Rand und was lag näher, als dass sich die beiden Außenseiter zusammentaten. Nun aber muss sich Simon mit dem auseinandersetzen, was er lange verdrängt hatte.

    Karnstedt und Simon bezeichneten sich seinerzeit als Freunde, doch mir erschien es eher als eine Zweckgemeinschaft von Außenseitern. Sie verbindet das Interesse an Paläontologie und Archäologie, daher wollten sie auch später Henderson Island erkunden. Simon lässt sich von Karnstedt mitziehen, der seine Spielchen spielt und manipulativ ist. Aufgrund mangelnder Lebenserfahrung erkennt Simon nicht, was Karnstedt antreibt. Aber er hegt immer mehr Zweifel an dieser Freundschaftsbeziehung und dann geschieht am Ende der Schulzeit etwas, das den Bruch herbeiführt.

    In Dänemark versucht Simon bei einer Nachbarin mehr über seinen ehemaligen Freund zu erfahren, doch als er ihr zur Küste hinterherreist, erlebt er eine Überraschung.

    Mir hat dieser Roman gut gefallen. Es sind eine ganze Reihe von Spuren gelegt, die man verfolgen möchte, um zu erfahren, was geschehen ist. Dabei bleibt viel Raum für Spekulationen. Die Lösung kommt erst spät und ist überraschend. Dabei ist es beeindruckend, wie viele Themen – Freundschaft, Mobbing, Liebe und Schuld - angesprochen wurden, ohne dass die Geschichte überfrachtet wirkt.

    Auch wenn ich die beiden Protagonisten nicht besonders mochte, so sind die Charaktere sehr gut gezeichnet, auch die der Nebenfiguren. Ich konnte nachvollziehen, was die beiden doch sehr unterschiedlichen Jungen zusammengebracht hat und auch, was sie dann entzweit hat. Furchtbar fand ich es, dass es zu solchen Ausgrenzungen in der Schule kommen konnte, ohne dass jemand eingeschritten ist. Nur so konnten die Machtspiele weitergeführt werden und die Geschichte eskalieren und mit der Tragödie enden. Am Ende tragen alle Schuld.

    Dieser vielschichtige Roman klingt noch lange nach und ich kann ihn nur empfehlen!

  1. Architektur einer tragisch beendeten Jugendfreundschaft

    Simon Welde wird als Nachlassverwalter für seinen Jugendfreund Karnstedt nach Varming in Dänemark beordert. Karnstedt ist verschwunden, es sieht danach aus, als hätte er den Freitod in der Nordsee gesucht. Simon hat den Freund seit über 20 Jahren nicht gesehen, sie haben sich anscheinend aus den Augen verloren. Trotzdem nimmt er das Vermächtnis an, indem er sich bemüht, das chaotische Durcheinander zu ordnen, um das abgelegene Bauernhaus anschließend für den Verkauf vorbereiten zu können. Die Beschäftigung mit Karnstedt und dessen umfangreichen Aufzeichnungen reißt Erinnerungen auf und konfrontiert Simon mit lange verdrängten Erlebnissen.

    Als Leser erfährt man in Rückblenden immer mehr über die Jungenfreundschaft. Karnstedt war aufgrund eines genetischen Defekts haarlos und dadurch ein krasser Außenseiter, der von Rädelsführer Tummer permanent gepiesackt wurde. Simon stand ebenfalls abseits, so dass die beiden Jungen zunächst in einer Schicksalsgemeinschaft zueinander fanden. Die Passion für Archäologie, Paläontologie, Grusel- und Abenteuergeschichten schweißt sie zusammen. Sie verstehen sich als Verbündete gegen die Welt. Erst im Jugendalter bekommt die Freundschaft erste Risse. Zu unterschiedlich sind die Erwartungen, das Verhältnis zueinander verliert die Balance. Auch trüben ungeklärte Gefühle wie Obsession, Eifersucht und Neid die Beziehung ein. Recht schnell wird auch deutlich, dass es während eines Schulausfluges ein einschneidendes Erlebnis im Zusammenhang mit Karnstedts Intimfeind Tummer gegeben haben muss.

    Neben dieser vergangenen Erzählebene spielt die gegenwärtige im dänischen Varming, wo Simon versucht, mit Anwalt und Nachbarn des Verschollenen ins Gespräch zu kommen, um Näheres über das Schicksal Karnstedts zu erfahren. Nicht jeder zeigt sich kooperativ. Die Konfrontation Simons mit der gemeinsamen Vergangenheit bleibt auch bei ihm nicht folgenlos, nach und nach legt er den Lesern seine Erinnerungen offen. Die verschiedenen Erzählstränge wechseln sich deutlich gekennzeichnet ab, so dass man keine Schwierigkeiten hat, sich zu orientieren.

    Es ist absolut erstaunlich, wie vielschichtig dieser kleine, nur auf 220 augenfreundlich bedruckte Seiten ausgelegte Roman konzipiert wurde. Nach der ersten Hälfte fühlt man sich noch etwas verwirrt, weil der Autor zahlreiche Fährten auslegt, die verschiedene Deutungsmöglichkeiten zulassen. Deutlich spürt man dabei die Leerstellen, denn manches bleibt bewusst ungesagt. Schließlich ist Simon Welde der Erzähler, der aus seiner eigenen nicht unbeteiligten Perspektive heraus keinesfalls zuverlässig sein muss.

    Der Roman entwickelt dadurch eine latente Spannung. Zudem umfängt einen die Sprachmächtigkeit des Textes. Jeder Satz scheint sorgfältig abgewogen zu sein. Es ist ein Buch der leisen Töne, dessen reduzierter Sprachstil Raum lässt für nachdenklich - poetische Sprachbilder und für Formulierungen, die nachhallen. Szenen und Schauplätze entfalten enorme Intensität, man visualisiert innerlich das spießbürgerliche Kleinstadtflair der 70er Jahre ebenso wie das knarrende alte Bauernhaus, in dem Simon die Hinterlassenschaft Karnstedts ordnet. Manche Szene jagt dem Leser regelrechte Schauer über den Rücken, es mangelt nicht an Atmosphäre.

    Zahlreiche Hinweise, Symbole und Zusammenhänge ergeben nach und nach einen schlüssigen, psychologisch dichten und nachvollziehbaren Plot rund um Freundschaft, Mobbing, Anderssein, sexuelles Erwachen, Liebe, Moral, Schuld und Vergebung, der keineswegs überfrachtet ist. Sämtliche Charaktere wurden komplex gezeichnet. Es gibt nicht nur Schwarz und Weiß, sondern auch ganz viele Grautöne dazwischen. „Karnstedt verschwindet“ ist ein traurig-schönes Buch, das einen nach dem Zuklappen noch lange nicht loslässt, sondern zum Nachdenken und Resümieren einlädt. Die letzte Seite bringt das Dilemma der beiden Freunde eindrucksvoll auf den Punkt. Der Roman eignet sich hervorragend für Diskussionen und Lesekreise.

    Große Leseempfehlung für alle Freunde anspruchsvoller Beziehungs- und Entwicklungsromane!

  1. Gute Freunde kann niemand trennen

    Als Simon erfährt, dass ausgerechnet er den Nachlass seines verschwundenen Jugendfreundes Karnstedt verwalten soll, kann er das zunächst gar nicht recht glauben. Immerhin hatte er seit mehr als 20 Jahren überhaupt keinen Kontakt mehr zu diesem. Dabei waren sie einst die besten Freunde: der haarlose Karnstedt und der schmächtige Simon - zwei Außenseiter, die nur gemeinsam den zahlreichen Gemeinheiten ihrer Mitschüler:innen entkamen. Doch wie kam es überhaupt zum Ende dieser Freundschaft? Und was soll Simon jetzt auf diesem verlassenen Bauernhof in Dänemark? Darüber schreibt Alexander Häusser in seinem bewegenden Roman "Karnstedt verschwindet".

    Die Erstausgabe des Werks erschien bereits 2007, nun ist die überarbeitete Ausgabe bei Pendragon veröffentlicht worden. Eine kluge Entscheidung des Verlags mit dem freundlichen kleinen Drachen, denn "Karnstedt verschwindet" ist zeitlos gut. Auf gerade einmal 220 Seiten gelingt es Häusser, eine Vielzahl aktueller Themen wie Individualität, Homosexualität, Freundschaft und Verrat so passend miteinander zu verknüpfen, dass der Roman nicht einmal ansatzweise überfrachtet wirkt.

    Liest man ein Buch mit einem Figurennamen im Titel, erwartet man zweifelsfrei, einen besonderen Charakter kennenzulernen. Man denke nur an Douglas Stuarts "Shuggie Bain" oder Eva Romans Coming-of-Age-Wunder "Pax". Und diese Erwartungen werden auch bei "Karnstedt verschwindet" nicht enttäuscht. Besagter Titelheld entpuppt sich nicht nur wegen seines komplett haarlosen Körpers als exzentrisch, sondern setzt auch durch sein Verhalten Akzente. Karnstedt hat schon im Jugendalter erheblichen Einfluss auf Simons Leben, nun greift er durch sein Verschwinden und das Benennen Simons als Nachlassverwalter erneut massiv ein. "Karnstedt hat mit seinem Auftrag mein Leben unterbrochen. Er hat einen Staudamm im Fluss der Zeit errichtet, Gott gespielt, wie damals", lässt Häusser Simon sagen. Mit diesem Satz sollte man bereits ein Gespür bekommen, für die leise, aber umso eindringlichere Erzählart des Autors.

    In der Folge gelingt es Häusser, drei unterschiedliche Erzählstränge parallel verlaufen lassen, ohne die Gefahr, dass man sich als Leser:in darin verfangen könnte. Denn tatsächlich differieren sie nicht nur in der Perspektive, sondern auch im Tonfall komplett. Während in Dänemark Ich-Erzähler Simon versucht, einen Überblick über das von Karnstedt hinterlassene Chaos zu bekommen, wirft ein allwissender Erzähler einen Blick auf die letzten Schultage der beiden Protagonisten vor dem Abitur. Garniert wird das Ganze mit einem kleinen Ausflug ins Genre des Abenteuerromans, wenn Simon Karnstedts Anwalt dessen letzte Aufzeichnungen vorliest. Während die Jugendfreundschaft typische Merkmale des Coming-of-Age-Romans wie Sexualität und Entwicklung aufweist, verströmt die Dänemark-Episode zeitweise gar ein gewisses Mystery-Flair. Denn der verschwundene Karnstedt scheint im wahrsten Sinne des Wortes allgengenwärtig zu sein.

    Ein weiterer Pluspunkt des Romans ist die Figurenzeichnung - übrigens auch dank der Überarbeitungen, die erstmals in dieser neuen Ausgabe so erscheinen. Nicht nur Karnstedt überzeugt in seiner Darstellung, auch Simon und die anderen wichtigen Nebenfiguren wie der Lieblingsfeind der beiden - Tischlersohn Tummer - weisen zahlreiche Grautöne auf. Jede einzelne Figur begeht schwerwiegende Fehler, aber keine von ihnen kann man am Ende des Romans komplett verurteilen. Das liegt auch an der Empathie, die Alexander Häusser seinen Charakteren entgegenbringt.

    Und so werden im höchst überraschenden und wahrlich dramatischen Finale alle drei Erzählstränge kongenial miteinander verbunden. Ein Finale, das nicht nur durch einen sich ständig steigernden Spannungsbogen überzeugt, sondern mich ungemein bewegt und aufgewühlt hat. Ein Finale, das bisweilen sogar an eine antike Tragödie erinnern mag.

    "Karnstedt verschwindet" ist ein eindrucksvoll stiller, doch umso intensiverer Roman, der durch seine Konstruktion, die Sprache, die Atmosphäre und die Figuren gleichermaßen zu punkten weiß. Ein unbedingt lesenswertes und wuchtiges Statement für die Individualität.