Der Autor studierte in Görlitz Kommunikationspsychologie, arbeitete danach im Ausland, kam zurück in die Oberlausitz und hat mit diesem großartigen Buch eine großartige Analyse des Phänomens der Wutbürger hier in der Region verfasst, das trotz seiner Klarheit und Stringenz nur drei von fünf möglichen Sternchen erhält, wie ich im Folgenden erläutern werde.
Es geht mir gewaltig auf die Nerven, wenn Woche für Woche Pegida-Demonstranten laut trötend direkt vor meiner Wohnung in der Görlitzer Altstadt vorbeiziehen. Halb scherzhaft, halb fremd-schämend erkläre ich verdutzten Touristen, dass im Gegensatz zum Köln und Düsseldorf im »Goldenen Westen« hier in der östlichsten Stadt Deutschland das ganze Jahr über Karneval ist, Woche für Woche im Rosenmontagszug die Narren durch die Straßen ziehen. Doch im Grunde geht mir das fürchterlich auf die Nerven.
Jörg Heidig analysiert dieses Phänomen schonungslos, schildert die Erstarrung der Gesellschaft in der Oberlausitz und beschreibt am Beispiel seiner Erfahrungen in Bosnien-Herzegowina nach dem Jugoslawien-Krieg, welch katastrophale Auswirkungen hat. Jeder Absatz seines Buches hätte ich mit einem großen Ausrufungszeichen goutieren können. Die Schonungslosigkeit, wie er die hiesigen gesellschaftlichen Phänomene beschreibt, erinnert mich an »Der Gefühlsstau - ein Psychogramm der DDR« des ostdeutschen Psychoanalytikers Hans-Joachim Maaz, wobei jener sich mit den Jahren zum Corona-Schwurbler wandelte, der Pegida-Demonstranten verteidigt und sich sogar auf einer Rechtsextremen gesteuerten Impfleugner-Demonstrationen in Chemnitz zu sehen, was Jörg Heidig glücklicherweise vermeidet.
Und doch: In der Mitte des Buches, wenn er schreibt, in der Geschichte Ostdeutschlands gab es keine »Demokratisierung und weit und breit keine Achtundsechziger«, dann einige Seite später den Abschnitt über die Wendezeit 1989 mit »Keine Revolution« überschreibt, komme ich arg ins Stolpern. Mitte 60 bin ich inzwischen, in Berlin, Hamburg und Bremen aufgewachsen, und war bei der Aktion gegen den Paragraf 218 dabei, und die Fristenlösung in der DDR, wo ein Großteil meiner Verwandten lebte, war für uns im Westen das große Vorbild.
Ich erinnere mich noch als die endlosen Diskussionen im Kommunistischen Bund Westdeutschlands, von der Volksrepublik China finanziert, und an die DKP, großzügig mit Geldern aus der DDR ausgestattet, wie man inzwischen weiß, an einen Rudi Dutschke, einen aus Ostdeutschland emigrierter Pfarrerssohn, dessen endlose Reden über die Revolution der Arbeiterklasse so langweilig waren wie Sonntagsreden von der Kanzel, an das bis heute nicht aufgeklärte Oktoberfestattentat durch eine Wehrsportgruppe im Bayerischen Wald, an Altnazis bei der damals frisch gegründeten Grünen, an Anwerbungsversuche durch RAF-Sympathisanten, ihren Brandanschlag auf ein jüdisches Seniorenheim in München, an den Links-Terror der Roten Armee Fraktion bis in die Nachwendezeit hinein, die Morde am Banker Alfred Herrhausen, der sich wie kein anderer für einen Schuldenerlass für Entwicklungsländer eingesetzt hatte, und an Detlev Rohwedder, der sich als Treuhand-Chef enorm für den Erhalt der ostdeutschen Betriebe einsetzen, von linksextremistischen Heckenschützen aus dem »Goldenen Westen« abgeschossen, an die Terroristin Ulrike Meinhof, die einst für »Konkret« schrieb, die pseudo-linke Sexpostille ihres Ehemanns Reiner Röhl, der auf Sylt ein von DDR-Geldern finanziertes Dandy-Leben führte und noch vor der Wende ins rechtsnationale Lager wechselte, ähnlich wie der Linksterrorist Horst Mahler, der sich zum Holocausts-Leugner wandelte.
So viel zur angeblichen Demokratisierung der Achtundsechziger in Westdeutschland. Dass man darauf in der DDR verzichten musste, ist wirklich kein Verlust. Was »Keine Revolution« betrifft, wie Jörg Heidig die Wendezeit 1989 nennt, so darf man ihm zugutehalten, dass er damals erste 15 Jahre alt war und keine realen Erinnerungen hat. Ich war 32, besuchte meinen Cousin in Ostberlin, Onkel, Tante und Cousinen in Wurzen regelmäßig. Eine halbe Million Sowjetsoldaten waren überall präsent, im Sommer hatte in Peking auf dem Platz der »Himmlischen Friedens« Panzer der Chinesischen Volksarmee die Demonstranten niedergewalzt und dennoch habe es drei Monate später die mutigen Ostdeutschen in Görlitz, Dresden, Leipzig und Berlin gewagt, massenhaft auf die Straßen zu gehen. Sie erkämpften unter Einsatz ihres Lebens die Demokratie, stellvertretend auch für uns Westdeutsche, die wir bis dato nur einen durch Amis, Engländer und Franzosen geschenkte Parlamentarismus hatten.
2012 veröffentlichte der bereits erwähnte Hallenser Psychoanalytiker Hans-Joachim Maaz mit »Die narzisstische Gesellschaft: Ein Psychogramm« eine längst überfällige Analyse der Westdeutschen. Im Gegensatz zu Ostdeutschland, wo die Herrschaft der SED nach einem halben Jahrhundert endete, regiert in Bayern seit 76 Jahren mit einer kurzen Unterbrechung in der Nachkriegszeit die CDU und kein Ende ist abzusehen. Es gab niemals eine Revolution in der westlichen Bundesrepublik. Im Grunde ist alles gleich geblieben. Generation Golf in der achten Generation, immer noch Nutella aufs Brot und um 20 Uhr läuft im Fernseher die Tagesschau, nonstop seit 1952. Bei den Westdeutschen gab es keine Brüche, keine Wandlungen, keinen Zwang zur Anpassung an völlig neue Lebensverhältnisse. Der Kopf ist rund, damit das Denken die Richtung ändern kann. Wenn ich als Wessi nach mittlerweile 18 Jahren in Görlitz auf Urlaubsbesuch in meine alte Heimat reise, dann wundere ich mich stets, wie sehr in Hamburg, Bremen, Frankfurt/Main, Nürnberg und München die Köpfe auf den Hälsen festgeschraubt sind, wie unfähig die Leute geworden sind, ihren Denkrichtungen zu wechseln.
Was Schwurbler, Impfleugner und Wutbürger betrifft, so treffe ich sie genauso im reichen Süddeutschland und bei alten Freunden in der Schweiz. Dies kann also kein rein ostdeutsches Phänomen sein. Als ich 2004 in die Oberlausitz zog, lag bald eine NPD-Broschüre in meinem Briefkasten. Ich ärgerte mich so lange über die Nazi-Ossis, bis ich erfuhr, dass der hiesige Parteiableger von einem Berliner gegründet wurde. Der AfD-Spitzenkandidat für die Landratswahl war ursprünglich in der FDP und wechselte erst zu den Rechtsextremen, als er auf Schulung Oldenburg war. In Niedersachsen wurde die Partei gegründet und Björn Höcke, Studienrat aus Nordhessen, ist Fraktionsvorsitzender in Thüringen.
Die Gesellschaft in Ostsachsen ist teilweise erstarrt. Ohne Zweifel, das hat Autor Jörg Heidig brillant analysiert. Jedoch greift er zu kurz, wenn er die Ohnmachtsgefühle der Sachsen lediglich dadurch erklärt, dass hiesige Führungspositionen nach der Wende von Westdeutschen übernommen wurden. Tatsächlich profitierten viele ostdeutsche Apparatschiks aus Stasi-Kadern, die sich zu Wendehälsen wandelten (Zitat meines Onkels Georg im Wurzen: »Jürgen, der Gommunismus war scheen, und der Gapitalismus ist scheen«) sowie den ostdeutschen Blockparteien – mit Ausnahme der SPD, die nach dem Zweiten Weltkrieg von der SED geschluckt wurde und völlig neu gegründet wurde. Dazu kommt Bündnis 90 / Grüne, eine Verbindung ostdeutschen Bürgerrechtler, die blauäugig den alten Westen verherrlichten, und westdeutschen Salonkommunisten, die es voll öko finden, hier in der Oberlausitz, der einkommensschwächsten Region Deutschlands, die letzten Braunkohletagebau-Arbeitsplätze abzuschaffen, während das Rheinische Braunkohlerevier in der reichen Kölner Bucht munter weiter produziert. Fazit: Viele Mauern, an denen sich die ostsächsischen Wutbürger ihre Köpfe einrennen, habe nichts, aber auch gar nichts mit ihrer DDR-Vergangenheit zu tun.
Zudem wird das Bild von Ostsachsen in den Medien fast ausschließlich von westdeutschen Medienkonzernen bestimmt. Es gibt in Presse und Fernsehen kein Forum für die Leute, die hier leben. Über zwei Jahrzehnte arbeitete ich als freier Mitarbeiter für den MDR, einen von einem Bayern nach der Wende aufgebauten öffentlich-rechtlichen Fernsehsender, an dem über die Bavaria Film GmbH - MDR Media zu einem überwiegenden Teil eine Münchner Firma beteiligt ist, Macht und Einfluss hat, ehemalige sächsische Film- und Fernsehproduktionen wie die DEFA-Studios in Dresden nach der Wende von den Futterkrippen ausgeschlossen und in die Pleite getrieben hat.
Das medial verbreitete Bild von Ostsachsen wird durch die Westdeutschen bestimmt, auch jetzt noch im Jahr 2022, über 30 Jahre nach der Wende. Und so erklärt es sich, dass es zwar ständig Reportagen über Rechtsextreme in Ostsachsen gibt, aber so gut wie nichts über das Innovative, das neu Gedachte, das von Menschen hier und jetzt, die Köpfe haben, die zum Denken die Richtung wechseln können, weil sie Umbrüche erlebt haben und geistig flexibel sind – dass al dies nicht medial verbreitet wird. Man stelle sich nur vor, ein großer mächtiger Medienkonzern aus Ostdeutschland (den es nicht gibt) veröffentlicht TV-Reportagen und veranstaltet Lesereisen über Rechtsextremismus in Hessen, über die vor nicht allzu langer Zeit stattgefunden Morde in Hanau und Kassel, über rechtsextremistische Chatgruppen in der hessischen Polizei. Die gibt es nicht, obwohl es angebracht ist, denn hier in Ostsachsen gab es meines Wissens noch niemals einen Mord, den Rechtsextremisten ausgeführt haben.
So weit zu den blinden Flecken in Jörg Heidigs Buch. Um es noch einmal klarzustellen: Den Autor sehe ich nicht in Gefahr, dass ihn sein tiefes Verständnis für die Ostdeutschen letztendlich zum Corona-Schwurbler und Pegida-Versteher im Stil von Hans-Joachim Maaz macht. Auch ist seine Sprache klarer, gehört er zur neuen Generation der Ostdeutschen, welche die Welt kennen, hierher zurückgekommen ist und in der Oberlausitz neue Impulse setzt. In meinen Augen (ich habe mich über Jahrzehnte an Seiten der Grünen und der CDU im Bündnis Zukunft Oberlausitz Regionalentwicklung gemacht, ohne Parteimitglied sein zu müssen) geht die Innovation Deutschlands mittlerweile vom Osten aus, muss der Westen lernen, hier bei der jungen Generation in die Lehre zu gehen, mit offenen Augen schauen, beispielsweise auf solch innovative Projekte wie die frei Schule Schkola Oberland, das LebensGut Pommritz oder die Energiefabrik Knappenrode. Hier wird unser Land neu gedacht, hier gibt es noch Freiräume und davon muss der Rest der Welt erfahren.
Wie schwer es ist, in einer Region mediale Aufmerksamkeit zu, in der politisch zur rechts oder links existiert, wo ein harmonisierenden-ausgleichender Weg der Mitte, wie sie derzeit von der Bundesregierung praktiziert wird, nicht existiert, das habe ich im letzten Jahr als Schriftsteller mit meinem witzig frechen Ostdeutschland-Thriller »Der Astrologe« erfahren. Zwar haben mir im letzten Jahrzehnt viele kluge Köpfe unserer Gegend bei der Romanentwicklung zur Seite gestanden, allen voran ein Wiesbadener, der wie viele Wessis glücklich in hier »gestrandet« ist und seines Zeichens die Polizeihochschule Sachsen in Rothenburg/Oberlausitz. Jedoch hat mein Roman ein Genre-Problem: Er ist weder rechts- und linksextrem, nimmt vielmehr ironisch beide Extreme aufs Korn und hat zu allem Unglück als Hauptfiguren zwei junge »Helden« aus Ost und West, die hier leben und hier bleiben wollen. Für so etwas gibt es weder einen starken Publikumsverlag (die sitzen alle in München, Hamburg, Köln und Berlin) noch eine Literaturagentur, geschweige denn eine Buchrezension. Bekanntlich gehört die marktbeherrschende Sächsische Zeitung Medienkonzernen aus Hamburg und Berlin, quasi ein Parteiorgan der CDU, was wiederum der Wut der Sachsen erregt, die eigentlich dachten, mit ihrer lebensgefährlichen Wende-Revolution die Macht der Einheitspresse abgeschafft zu haben und nun wie der Ochs vorm Berge stehen. Kein Wunder, dass die Narren und Jecken vom wöchentlichen Rosenmontags-Karneval im Osten, wo die Sonne aufgeht, ganzjährig Schalmeien-trötend durch die Straße ziehen!
Und dennoch: Der von ihm brillant geschilderte »gefühlte Krieg« findet auch anderswo statt, vielleicht sogar noch brutaler und schamloser in der reichen deutschsprachigen Gegenden Europas. Möge der Autor diese meine Kritik, weshalb ich nur drei von fünf möglichen Sternen vergebe, als Anregung verstehen für sein nächstes Buch. Nach der Wende war er lange in Bosnien-Herzegowina. Mögen ihn seine Recherchen in noch fernere Länder treiben, beispielsweise nach Nordrhein-Westfalen, Baden Württemberg, das Kanton St. Gallen oder die österreichische Steiermark, auf dass er jene Gründe, warum dort Heimat, Wut und Trauer eng beieinanderliegen, im nächsten Buch darlegt!
blinde Flecken
Der Autor studierte in Görlitz Kommunikationspsychologie, arbeitete danach im Ausland, kam zurück in die Oberlausitz und hat mit diesem großartigen Buch eine großartige Analyse des Phänomens der Wutbürger hier in der Region verfasst, das trotz seiner Klarheit und Stringenz nur drei von fünf möglichen Sternchen erhält, wie ich im Folgenden erläutern werde.
Es geht mir gewaltig auf die Nerven, wenn Woche für Woche Pegida-Demonstranten laut trötend direkt vor meiner Wohnung in der Görlitzer Altstadt vorbeiziehen. Halb scherzhaft, halb fremd-schämend erkläre ich verdutzten Touristen, dass im Gegensatz zum Köln und Düsseldorf im »Goldenen Westen« hier in der östlichsten Stadt Deutschland das ganze Jahr über Karneval ist, Woche für Woche im Rosenmontagszug die Narren durch die Straßen ziehen. Doch im Grunde geht mir das fürchterlich auf die Nerven.
Jörg Heidig analysiert dieses Phänomen schonungslos, schildert die Erstarrung der Gesellschaft in der Oberlausitz und beschreibt am Beispiel seiner Erfahrungen in Bosnien-Herzegowina nach dem Jugoslawien-Krieg, welch katastrophale Auswirkungen hat. Jeder Absatz seines Buches hätte ich mit einem großen Ausrufungszeichen goutieren können. Die Schonungslosigkeit, wie er die hiesigen gesellschaftlichen Phänomene beschreibt, erinnert mich an »Der Gefühlsstau - ein Psychogramm der DDR« des ostdeutschen Psychoanalytikers Hans-Joachim Maaz, wobei jener sich mit den Jahren zum Corona-Schwurbler wandelte, der Pegida-Demonstranten verteidigt und sich sogar auf einer Rechtsextremen gesteuerten Impfleugner-Demonstrationen in Chemnitz zu sehen, was Jörg Heidig glücklicherweise vermeidet.
Und doch: In der Mitte des Buches, wenn er schreibt, in der Geschichte Ostdeutschlands gab es keine »Demokratisierung und weit und breit keine Achtundsechziger«, dann einige Seite später den Abschnitt über die Wendezeit 1989 mit »Keine Revolution« überschreibt, komme ich arg ins Stolpern. Mitte 60 bin ich inzwischen, in Berlin, Hamburg und Bremen aufgewachsen, und war bei der Aktion gegen den Paragraf 218 dabei, und die Fristenlösung in der DDR, wo ein Großteil meiner Verwandten lebte, war für uns im Westen das große Vorbild.
Ich erinnere mich noch als die endlosen Diskussionen im Kommunistischen Bund Westdeutschlands, von der Volksrepublik China finanziert, und an die DKP, großzügig mit Geldern aus der DDR ausgestattet, wie man inzwischen weiß, an einen Rudi Dutschke, einen aus Ostdeutschland emigrierter Pfarrerssohn, dessen endlose Reden über die Revolution der Arbeiterklasse so langweilig waren wie Sonntagsreden von der Kanzel, an das bis heute nicht aufgeklärte Oktoberfestattentat durch eine Wehrsportgruppe im Bayerischen Wald, an Altnazis bei der damals frisch gegründeten Grünen, an Anwerbungsversuche durch RAF-Sympathisanten, ihren Brandanschlag auf ein jüdisches Seniorenheim in München, an den Links-Terror der Roten Armee Fraktion bis in die Nachwendezeit hinein, die Morde am Banker Alfred Herrhausen, der sich wie kein anderer für einen Schuldenerlass für Entwicklungsländer eingesetzt hatte, und an Detlev Rohwedder, der sich als Treuhand-Chef enorm für den Erhalt der ostdeutschen Betriebe einsetzen, von linksextremistischen Heckenschützen aus dem »Goldenen Westen« abgeschossen, an die Terroristin Ulrike Meinhof, die einst für »Konkret« schrieb, die pseudo-linke Sexpostille ihres Ehemanns Reiner Röhl, der auf Sylt ein von DDR-Geldern finanziertes Dandy-Leben führte und noch vor der Wende ins rechtsnationale Lager wechselte, ähnlich wie der Linksterrorist Horst Mahler, der sich zum Holocausts-Leugner wandelte.
So viel zur angeblichen Demokratisierung der Achtundsechziger in Westdeutschland. Dass man darauf in der DDR verzichten musste, ist wirklich kein Verlust. Was »Keine Revolution« betrifft, wie Jörg Heidig die Wendezeit 1989 nennt, so darf man ihm zugutehalten, dass er damals erste 15 Jahre alt war und keine realen Erinnerungen hat. Ich war 32, besuchte meinen Cousin in Ostberlin, Onkel, Tante und Cousinen in Wurzen regelmäßig. Eine halbe Million Sowjetsoldaten waren überall präsent, im Sommer hatte in Peking auf dem Platz der »Himmlischen Friedens« Panzer der Chinesischen Volksarmee die Demonstranten niedergewalzt und dennoch habe es drei Monate später die mutigen Ostdeutschen in Görlitz, Dresden, Leipzig und Berlin gewagt, massenhaft auf die Straßen zu gehen. Sie erkämpften unter Einsatz ihres Lebens die Demokratie, stellvertretend auch für uns Westdeutsche, die wir bis dato nur einen durch Amis, Engländer und Franzosen geschenkte Parlamentarismus hatten.
2012 veröffentlichte der bereits erwähnte Hallenser Psychoanalytiker Hans-Joachim Maaz mit »Die narzisstische Gesellschaft: Ein Psychogramm« eine längst überfällige Analyse der Westdeutschen. Im Gegensatz zu Ostdeutschland, wo die Herrschaft der SED nach einem halben Jahrhundert endete, regiert in Bayern seit 76 Jahren mit einer kurzen Unterbrechung in der Nachkriegszeit die CDU und kein Ende ist abzusehen. Es gab niemals eine Revolution in der westlichen Bundesrepublik. Im Grunde ist alles gleich geblieben. Generation Golf in der achten Generation, immer noch Nutella aufs Brot und um 20 Uhr läuft im Fernseher die Tagesschau, nonstop seit 1952. Bei den Westdeutschen gab es keine Brüche, keine Wandlungen, keinen Zwang zur Anpassung an völlig neue Lebensverhältnisse. Der Kopf ist rund, damit das Denken die Richtung ändern kann. Wenn ich als Wessi nach mittlerweile 18 Jahren in Görlitz auf Urlaubsbesuch in meine alte Heimat reise, dann wundere ich mich stets, wie sehr in Hamburg, Bremen, Frankfurt/Main, Nürnberg und München die Köpfe auf den Hälsen festgeschraubt sind, wie unfähig die Leute geworden sind, ihren Denkrichtungen zu wechseln.
Was Schwurbler, Impfleugner und Wutbürger betrifft, so treffe ich sie genauso im reichen Süddeutschland und bei alten Freunden in der Schweiz. Dies kann also kein rein ostdeutsches Phänomen sein. Als ich 2004 in die Oberlausitz zog, lag bald eine NPD-Broschüre in meinem Briefkasten. Ich ärgerte mich so lange über die Nazi-Ossis, bis ich erfuhr, dass der hiesige Parteiableger von einem Berliner gegründet wurde. Der AfD-Spitzenkandidat für die Landratswahl war ursprünglich in der FDP und wechselte erst zu den Rechtsextremen, als er auf Schulung Oldenburg war. In Niedersachsen wurde die Partei gegründet und Björn Höcke, Studienrat aus Nordhessen, ist Fraktionsvorsitzender in Thüringen.
Die Gesellschaft in Ostsachsen ist teilweise erstarrt. Ohne Zweifel, das hat Autor Jörg Heidig brillant analysiert. Jedoch greift er zu kurz, wenn er die Ohnmachtsgefühle der Sachsen lediglich dadurch erklärt, dass hiesige Führungspositionen nach der Wende von Westdeutschen übernommen wurden. Tatsächlich profitierten viele ostdeutsche Apparatschiks aus Stasi-Kadern, die sich zu Wendehälsen wandelten (Zitat meines Onkels Georg im Wurzen: »Jürgen, der Gommunismus war scheen, und der Gapitalismus ist scheen«) sowie den ostdeutschen Blockparteien – mit Ausnahme der SPD, die nach dem Zweiten Weltkrieg von der SED geschluckt wurde und völlig neu gegründet wurde. Dazu kommt Bündnis 90 / Grüne, eine Verbindung ostdeutschen Bürgerrechtler, die blauäugig den alten Westen verherrlichten, und westdeutschen Salonkommunisten, die es voll öko finden, hier in der Oberlausitz, der einkommensschwächsten Region Deutschlands, die letzten Braunkohletagebau-Arbeitsplätze abzuschaffen, während das Rheinische Braunkohlerevier in der reichen Kölner Bucht munter weiter produziert. Fazit: Viele Mauern, an denen sich die ostsächsischen Wutbürger ihre Köpfe einrennen, habe nichts, aber auch gar nichts mit ihrer DDR-Vergangenheit zu tun.
Zudem wird das Bild von Ostsachsen in den Medien fast ausschließlich von westdeutschen Medienkonzernen bestimmt. Es gibt in Presse und Fernsehen kein Forum für die Leute, die hier leben. Über zwei Jahrzehnte arbeitete ich als freier Mitarbeiter für den MDR, einen von einem Bayern nach der Wende aufgebauten öffentlich-rechtlichen Fernsehsender, an dem über die Bavaria Film GmbH - MDR Media zu einem überwiegenden Teil eine Münchner Firma beteiligt ist, Macht und Einfluss hat, ehemalige sächsische Film- und Fernsehproduktionen wie die DEFA-Studios in Dresden nach der Wende von den Futterkrippen ausgeschlossen und in die Pleite getrieben hat.
Das medial verbreitete Bild von Ostsachsen wird durch die Westdeutschen bestimmt, auch jetzt noch im Jahr 2022, über 30 Jahre nach der Wende. Und so erklärt es sich, dass es zwar ständig Reportagen über Rechtsextreme in Ostsachsen gibt, aber so gut wie nichts über das Innovative, das neu Gedachte, das von Menschen hier und jetzt, die Köpfe haben, die zum Denken die Richtung wechseln können, weil sie Umbrüche erlebt haben und geistig flexibel sind – dass al dies nicht medial verbreitet wird. Man stelle sich nur vor, ein großer mächtiger Medienkonzern aus Ostdeutschland (den es nicht gibt) veröffentlicht TV-Reportagen und veranstaltet Lesereisen über Rechtsextremismus in Hessen, über die vor nicht allzu langer Zeit stattgefunden Morde in Hanau und Kassel, über rechtsextremistische Chatgruppen in der hessischen Polizei. Die gibt es nicht, obwohl es angebracht ist, denn hier in Ostsachsen gab es meines Wissens noch niemals einen Mord, den Rechtsextremisten ausgeführt haben.
So weit zu den blinden Flecken in Jörg Heidigs Buch. Um es noch einmal klarzustellen: Den Autor sehe ich nicht in Gefahr, dass ihn sein tiefes Verständnis für die Ostdeutschen letztendlich zum Corona-Schwurbler und Pegida-Versteher im Stil von Hans-Joachim Maaz macht. Auch ist seine Sprache klarer, gehört er zur neuen Generation der Ostdeutschen, welche die Welt kennen, hierher zurückgekommen ist und in der Oberlausitz neue Impulse setzt. In meinen Augen (ich habe mich über Jahrzehnte an Seiten der Grünen und der CDU im Bündnis Zukunft Oberlausitz Regionalentwicklung gemacht, ohne Parteimitglied sein zu müssen) geht die Innovation Deutschlands mittlerweile vom Osten aus, muss der Westen lernen, hier bei der jungen Generation in die Lehre zu gehen, mit offenen Augen schauen, beispielsweise auf solch innovative Projekte wie die frei Schule Schkola Oberland, das LebensGut Pommritz oder die Energiefabrik Knappenrode. Hier wird unser Land neu gedacht, hier gibt es noch Freiräume und davon muss der Rest der Welt erfahren.
Wie schwer es ist, in einer Region mediale Aufmerksamkeit zu, in der politisch zur rechts oder links existiert, wo ein harmonisierenden-ausgleichender Weg der Mitte, wie sie derzeit von der Bundesregierung praktiziert wird, nicht existiert, das habe ich im letzten Jahr als Schriftsteller mit meinem witzig frechen Ostdeutschland-Thriller »Der Astrologe« erfahren. Zwar haben mir im letzten Jahrzehnt viele kluge Köpfe unserer Gegend bei der Romanentwicklung zur Seite gestanden, allen voran ein Wiesbadener, der wie viele Wessis glücklich in hier »gestrandet« ist und seines Zeichens die Polizeihochschule Sachsen in Rothenburg/Oberlausitz. Jedoch hat mein Roman ein Genre-Problem: Er ist weder rechts- und linksextrem, nimmt vielmehr ironisch beide Extreme aufs Korn und hat zu allem Unglück als Hauptfiguren zwei junge »Helden« aus Ost und West, die hier leben und hier bleiben wollen. Für so etwas gibt es weder einen starken Publikumsverlag (die sitzen alle in München, Hamburg, Köln und Berlin) noch eine Literaturagentur, geschweige denn eine Buchrezension. Bekanntlich gehört die marktbeherrschende Sächsische Zeitung Medienkonzernen aus Hamburg und Berlin, quasi ein Parteiorgan der CDU, was wiederum der Wut der Sachsen erregt, die eigentlich dachten, mit ihrer lebensgefährlichen Wende-Revolution die Macht der Einheitspresse abgeschafft zu haben und nun wie der Ochs vorm Berge stehen. Kein Wunder, dass die Narren und Jecken vom wöchentlichen Rosenmontags-Karneval im Osten, wo die Sonne aufgeht, ganzjährig Schalmeien-trötend durch die Straße ziehen!
Und dennoch: Der von ihm brillant geschilderte »gefühlte Krieg« findet auch anderswo statt, vielleicht sogar noch brutaler und schamloser in der reichen deutschsprachigen Gegenden Europas. Möge der Autor diese meine Kritik, weshalb ich nur drei von fünf möglichen Sternen vergebe, als Anregung verstehen für sein nächstes Buch. Nach der Wende war er lange in Bosnien-Herzegowina. Mögen ihn seine Recherchen in noch fernere Länder treiben, beispielsweise nach Nordrhein-Westfalen, Baden Württemberg, das Kanton St. Gallen oder die österreichische Steiermark, auf dass er jene Gründe, warum dort Heimat, Wut und Trauer eng beieinanderliegen, im nächsten Buch darlegt!