Gewittertiere: Roman

Kurzmeinung: Moralinsauertöpfisch.
In dem Roman „Gewittertiere“ geht es eigentlich um zwei Geschwister, Colin und Hannes, die bei ihren willigen, aber unfähigen Eltern in Berlin/Stadtrand eine nicht leichte Kindheit mehr überlebt als erlebt haben. Ihr Erwachsenenleben ist folglich, aber auch folgerichtig? geprägt von Frust und Resignation.
Hannes wurde zuckerabhängig, fett, und später sogar Alkoholiker. Immerhin ist er noch imstande, seinem Beruf als Gerichtsvollzieher nachzukommen, wobei er naturgemäß auf viele „abgerissene“ Typen triff, auf Menschen, die irgendwie durch die Maschen des sozialen Sicherheitsnetzes rutschen. Das wäre interessanter gewesen, wenn die Autorin nicht nur „Gerichtsvollzieher-Fälle“ erzählt hätte, sondern Hannes hätte mehr interagieren lassen. So ist es ein bisschen wie in einer Fernsehserie. „Der Gerichtsvollzieher klingelt“. Diesen Teil ist viel zu ausufernd
Colin ist lesbisch, was sie aber lange Zeit nicht richtig begreift. Zudem leidet sie, obwohl hochintelligent, unter einer Art verzögerter Reaktion. Deshalb arbeitet sie trotz guten Schulabschlusses in einem heruntergekommenen Berliner Späti, also einem Laden, der immer aufhat. Dort trifft sich ebenfalls der Mensch, der vom sozialen Abstieg betroffen ist. Hier ist der Autorin eine bessere Verarbeitung gelungen und kommt die Marginalisierung der Menschen ausdrucksstark zum Vorschein. Besonders eine Szene sticht hervor, als Colin den Notdienst ruft.
Der Kommentar:
Die Autorin bedient in ihrem Buch zu sehr den Zeitgeist, der unbedingt den Aufschrei „Rassismus überall“ hören will. Das ist sehr schade, denn das Meiste dazu wirkt willkürlich, aufgesetzt, überkonsrtuiert und es geht manche, sonst fein herausgearbeitete Facette der Figuren unter, ja, ich möchte sagen, sie zerschellen an dem Anspruch des Romans Rassismus anzuprangern.
Denn der sexuellen Findung Colins und ihret Verlangsamung bin ich gerne gefolgt. Ich habe verstanden, warum sie trotz ihrer Begabung „nur“ im Späti gelandet ist, wo niemand etwas von ihr wollte, sie sich mit niemandem vergleichen musste und sie mit dem Hintergrund verschmolz, unsichtbar wurde. Und damit unauffällig.
Warum ihre Lebensgefährtin unbedingt eine Türkin sein musste, merkt man an folgender Szene: Als Colin nach einer Anfeindung in der Ubahn, natürlich wird man in Berlin jedesmal, wenn man die öffentlichen Verkehrsmittel benutzt, angepöbelt (stimmt gar nicht) dem Bruder von Eda davon erzählt und begeistert davon ist, wie verständnisvoll er reagiert, wird sie von Eda übelst dafür beschimpft. Wieso sie nur annehme, dass der Bruder das nicht verstehe, etc. etc. und wie rassistisch das sei.
So eine Darstellung entgegen der Realität nehme ich übel. Weil sie die islamisch geprägte Community ausblendet, die Wirklichkeit einer Gruppe, in der mehrheitlich Homosexualität keineswegs toleriert wird oder die gleichgeschlechtlichen Lebensgefährten eben nicht mit offenen Armen in deren Familien aufgenommen werden. Das ist im Roman in der Tat eine rühmliche Ausnahme. Aber das Gegenteil ist Realität und deshalb nicht rassistisch gedacht. Leider. Ganz abgesehen von der Intoleranz gegenüber weiblicher Selbstbestimmung. Ehrenmorde und Zwangsverheiratungen zu erwähnen, wäre also auch rassistisches Gedankengut. Na, danke.
Svealana Kutschke hat eine Reihe von fast genialen Einfällen. Es ist urkomisch und gleichzeitig natürlich tragisch, wie der Vater sein Leben damit verschwendet im Garten einen Bunker zu bauen. Aber wieder holt die Autorin die Rassimuskeule heraus und demoliert ihren Einfall gleich wieder. Ob er denn glaube, der bunkerbauende Vater, lässt sie die Tochter fragen, ob er Schutz brauche vor den Flüchtlingen oder ob es nicht eher die Flüchtlinge wären, die Schutz brauchten, wenn deren Unterbringungen angezündet werden. Und natürlich sitzt die ganze Familie angespannt und völlig fertig vor dem Fernseher bei jeder rassistischen Ausschreitung und ist entstetzt. Ja, selbstredend sind diese Ausschreitungen entsetztlich und trotzdem wirken sie lächerlich aufgesetzt, diese Szenen im Buch. Mehr und mehr entsteht der Eindruck Colin und Hannes seien nur Alibifiguren um dergleichen anzuprangern. Peinlich.
Sprachfluß ist gegeben, es liest sich angenehm so vor sich hin, manche Bilder geraten jedoch außer Kontrolle.
Fazit: Die Figurenzeichnungen im Buch sind mal mehr mal weniger realistisch. Colin ist im Großen und Ganzen gut gelungen. Das Interagieren der Protagonisten funktioniert nicht so gut, es entsteht zusätzlich ein Glaubwürdigkeitsproblem, denn die Rassismuskeule erschlägt jeden guten Ansatz des Romangeschehens. Moralinsauertöpisch einmal anders ist das.
Es bleiben mit viel Good Will noch 3 Sterne am Himmel stehen.
Kategorie: Belletristik
Verlag: Claasen, 2021
Das Psychogramm einer Familie
Was sind eigentlich Gewittertiere/Gewittertierchen? Das sind diese klitzekleinen, schwarzen Insekten von 1 bis 3 mm Größe nur, die bei Gewitter aufgrund der Luftdruckveränderung in niedere Luftschichten sinken und sich dadurch in unseren Häusern und auf unserer Haut niederlassen. Nicht weiter bedrohlich, nur nervig. Fast könnte dies auch für die Familienmitglieder gelten, die Svealena Kutschke in ihrem gleichnamigen Roman porträtiert. Nur hat sich der Verlag nicht ohne Grund dafür entschieden, auf dem Cover statt den kleinen Tierchen bedrohliche Boa constrictor Schlangen abzudrucken. Was in dieser gewöhnlichen bundesrepublikanischen Familie, die wir beginnend ab den 1980er Jahren bis in die Gegenwart hinein begleiten, zunächst nur wie nervige Angewohnheiten und Mechanismen innerhalb dieser Familie daherkommt, wirkt zunehmend bedrohlich.
Die Familie Becker besteht – ganz prototypisch – aus Mutter, Vater, Tochter und Sohn. Könnte alles ganz normal und unkompliziert sein, aber wie wir wissen, ist es das beim Thema Familie nur selten. Mit dem Mauerfall steigen die Ängste des Vaters vor Zuwanderungen aus dem Osten, später von überall her. Er beginnt im kleinen Garten der Reihenhaussiedlung eigenhändig das Loch für einen Bunker auszuheben und wird einige Jahre mit diesem Lebensprojekt beschäftigt sein. Während in der Realität die Übergriffe auf sog. Ausländer(-heime) zunehmen, nehmen auch die Ressentiments des Vaters zu. Er sieht die Gefahr von außen, obwohl sie in dieser Familie von innen kommt. Die Mutter ertränkt ihre Sorgen im Alkohol. Und beide Eltern vernachlässigen dabei mit langfristig erschreckenden Folgen ihre beiden Kinder. So heißt es an einer Stelle des Romans treffend „Nichts, was ihnen [den Kindern] geschah, schienen die Eltern zu sehen.“ Die Geschwister sind Außenseiter und werden bis in ihr belastetes Erwachsenenleben nur schwer aus dieser Rolle herauskommen. Kein Wunder, geplagt durch ständige Selbstzweifel, gesät von dem Neglect der Eltern.
Kuschkes Roman folgt zwar über weite Strecken Colin (Cornelia), die Tochter der Familie, wirft jedoch mit seiner auktorialen Erzählperspektive immer wieder auch kritische Blicke auf die Lebensverläufe der anderen Familienmitglieder. So bekommt die Leserschaft einen intensiven Einblick in die Mechanismen einer dysfunktionalen Familie. Man könnte diesen Roman das Psychogramm des Systems Familie nennen. Hervorragend stellt die Autorin psychologische und soziologische Zusammenhänge innerhalb des Romangeschehens dar. Fast seziert sie dieses familiäre System bis ins kleinste Detail.
Dies hatte für mich zur Folge, dass ich zunächst tatsächlich über die ersten 100 Seiten hinweg gar nicht richtig in den Roman hineingefunden habe. Man muss sich auf diesen langsamen, alles ausleuchtenden Stil einstellen, danach eröffnet sich das volle Potential des Buches erst so richtig. Beinahe hätte ich sogar innerhalb dieses ersten Drittels das Buch sogar abgebrochen, da ich nicht einschätzen konnte, wohin die Autorin mit ihrer Geschichte eigentlich will. Zum Glück bin ich dabeigeblieben, denn diese Fallvignette zur Familie Becker entwickelt einen starken Sog. Allein der Schluss konnte mich dann nicht mehr so recht überzeugen. Man könnte dem Roman zu viel Psychologisierung vorwerfen, zunächst kam mir dies auch so vor, im Gesamteindruck des Buches ist dieses vollständige Auserzählen für mich allerdings zu einer Stärke avanciert.
Es heißt im Roman „Colin wusste natürlich, dass Erzählungen normalerweise eine gewisse Dramaturgie brauchten, jede Form von Konflikt brauchte eine Lösung, jedes Narrativ ein Ende.“ Das ist in dieser Geschichte meines Erachtens nicht so. Lange Zeit vermisst man eine gewisse Dramaturgie, nicht jeder Konflikt kann gelöst werden und auch das Narrativ dieser familiären Prägung wird mit dem Ende des Romans noch kein Ende im Leben der beiden Geschwister finden. Und genau das macht diesem Roman so lesenswert. Hier werden Zusammenhänge dargestellt, dysfunktionale Mechanismen offengelegt, aber nichts einfach mal so nebenher gelöst. So funktioniert unsere Psyche nicht.
„Denn letztendlich hatte auch Colin sich die Absurdität des Bunkers nie in vollem Umfang klargemacht. Das war es, was ein Familiengewebe von jedem anderen unterschied: die Fähigkeit, vollkommen eigene Realitätsbezüge zu schaffen.“
Für mich handelt es sich hierbei um einen äußerst lesenswerten Roman, der zwar kleine Schwächen hat, über die man aber ob der über lange Strecken hinweg intensiven Leseerfahrung getrost hinwegsehen kann.