Die zerbrechliche Zeit

Buchseite und Rezensionen zu 'Die zerbrechliche Zeit' von Donatella Di Pietrantonio
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5 von 5 (1 Bewertungen)

Inhaltsangabe zu "Die zerbrechliche Zeit"

Als Amanda in ihr Dorf in den Abruzzen zurückkehrt, erkennt ihre Mutter sofort, dass etwas nicht stimmt. In den ersten Tagen in Mailand hatte ihre Tochter den Glanz der Stadt in den Augen, doch jetzt scheint sie nur noch verschwinden zu wollen. Besorgt nimmt Lucia das Schweigen Amandas wahr und erinnert sich an jene Nacht vor dreißig Jahren, in der nur ein Zufall sie vor dem Schlimmsten bewahrt hat. Unter dem Wolfszahn, auf dem Land, das ihrer Familie gehört und für das sich jetzt ein Immobilienspekulant interessiert, finden sich noch die Überreste des Campingplatzes, auf dem sich vor vielen Jahren das Schreckliche ereignet hat. Alle waren an jenem Abend hier versammelt: die Hirten, die Besitzer des Campingplatzes, die Jäger, die Carabinieri, die Alten und die Jungen, das ganze Dorf. Alle, außer den Mädchen, die schon nicht mehr existierten

Format:Gebundene Ausgabe
Seiten:224
Verlag: Kunstmann, A
EAN:9783956146213

Rezensionen zu "Die zerbrechliche Zeit"

  1. 5
    01. Nov 2024 

    Ein Roman, der erst am Ende die ungeheuerliche Wucht preisgibt

    Lucia, die Erzählerin dieser Geschichte, lebt in einem abgeschiedenen Dorf in den Bergen von Abruzzen. Sie ist Mutter der 20jährigen Amanda, einzige Tochter eines störrischen, alten Mannes, getrennt von Dario, ihrer Jugendliebe, der im entfernten Turin eine Bankkarriere verwirklichen will, und im Dorfleben mit ihrer Physiopraxis gut integriert.
    Als Amanda ohne Ankündigung vom Unistudium von Mailand zurückkehrt, merkt Lucia sofort, dass mit ihrer Tochter etwas nicht stimmt. Besorgt nimmt Lucia Amandas Schweigen wahr und erinnert sich an jene Nacht vor dreißig Jahren, in der nur ein Zufall sie vor schlimmeren bewahrte.
    Auf dem Familiengrundstück „Dente del lupo“ befand sich damals ein Campingplatz. Drei junge Mädchen brachen zu einer Bergwanderung auf, von der nur eine schwer verletzt zurückkehrte.

    Meine persönlichen Leseeindrücke
    233 Seiten lang ist der neue Roman von Donatella Di Pietrantonio, mit dem sie dieses Jahr (Anm. 2024) den prestigereichen Literaturpreis „Premio Strega“ gewonnen hat. Der Abstand zum 2. und 3. Platzierten ist beachtlich, und nach Arminuta (Premio Campiello 2017) und Borgo Sud bin ich sehr auf diesen Roman gespannt.
    Es gibt Bücher, und den Roman „Die zerbrechliche Zeit“ zähle ich dazu, die erst am Ende die ungeheuerliche Wucht preisgeben, die den Zeilen innewohnt. Denn der Roman beginnt unaufgeregt, in einem sehnsuchtsgeladenen, melancholischen Erzählstil, der der italienischen Literatur oft anhaftet. Ich warte also auf die Wendung, den großen Clou, der dieses Buch zum Gewinnerbuch des Premio Stregas gemacht hat. Diese Wendung, zwischen den Zeilen angekündigt, bestimmt einen der beiden Handlungsstränge und erklärt gleichzeitig den Originaltitel „L’etá fragile“, den Maja Pflug in „Die zerbrechliche Zeit“ übersetzt hat.
    Ausgehend von einer Kriminalgeschichte, die sich in den 1990er Jahren in den Abruzzen tatsächlich ereignet hat, konzentriert sich „Die zerbrechliche Zeit“ auf das Schweigen und die Scham, die über einer Berggemeinde in den Abruzzen schweben, und auf die Bedeutung, die Orte bei der Bewältigung von Erinnerung und der Vergangenheit haben.
    Lucia, die Hauptprotagonistin dieser Geschichte, lebt ein unspektakuläres, ruhiges Leben in einem Bergdorf in den Abruzzen. Ihre Tochter Amanda kann es nicht erwarten in der Großstadt Mailand am wahren Leben als Studentin teilzunehmen und Lucia freut sich, dass Amanda die Freiheit genießt, die für sie damals nicht möglich war. Doch eines Tages, vollkommen unerwartet, kehrt Amanda aus Mailand zurück.
    Lucia versucht herauszufinden, was passiert ist und stößt dabei auf jene Geschichte, die jahrzehntelang von allen totgeschwiegen wurde.

    Lucia und Doralice sind junge Mädchen. Sie verbindet, wie ihre Eltern, eine tiefe Freundschaft und Doralices Vater betreibt auf dem Grundstück von Lucias Vater einen gut besuchten Campingplatz.
    Die Schönheit ringsherum ging uns nichts an. Wir bewunderten die Natur nicht, wir mussten uns vor ihr hüten.
    Zwei junge Camperinnen beschließen spontan zusammen mit Doralice eine letzte Bergwanderung zu unternehmen, denn ihre Abreise steht unmittelbar bevor. Lucia ist an diesem Tag, ohne es ihrer Freundin zu sagen, mit anderen ans Meer gefahren; sie wollte sie dieses Mal nicht dabeihaben und hat ihr den Ausflug verheimlicht. Als die drei Mädchen abends nicht zurückkehren, beginnt eine groß angelegte Suchaktion mit schrecklichem Ausgang. Mit diesem Tag endet nicht nur die Unbeschwertheit der beiden Freundinnen, sondern der ganzen Gemeinschaft. Übrig bleiben eine schmerzhafte Erinnerung, eine quälende Einsamkeit und die schwere Schuld am Überleben, mit denen nicht nur Lucia und Doralice, sondern das gesamte Dorf zurechtkommen müssen.

    30 Jahre später beschließt Lucias Vater ihr das Grundstück am Dente del Lupo zu übertragen, den der Immobilienmakler Gerì für ein ehrgeiziges Tourismusprojekt erwerben will. Und völlig unerwartet erhebt Amanda Einspruch. Es scheint, dass dieses Stückchen Wiese, von einem „verachteten Ort, der seit dreißig Jahren verflucht ist“ zu einem Ort mit Zukunft wird, und der für Amanda ein Rettungsanker in ihrer zerbrechlichen Zeit ist.

    „Die zerbrechliche Zeit“ ist kein Buch, das man schnell oder oberflächlich lesen sollte. Denn Donatella Di Pietrantonio konzentriert sich darin auf jene besondere Atmosphäre, die das Leben einer Dorfgemeinschaft 30 Jahre lang bedingt. Zwei Handlungsstränge in zwei Zeitebenen erzählt und wenige Romanfiguren genügen, um eine kraftvolle Geschichte zu schreiben, in jener besonderen Qualität, die der Autorin zu eigen ist.

    Fazit
    Donatella Di Pietrantonios neuer Roman „Die zerbrechliche Zeit“ erzählt von der Schwierigkeit einer Dorfgemeinschaft ein kollektives Trauma zu überwinden, das jahrzehntelang das Leben im Ort bestimmt hat. Konfrontiert mit der Angst, die Verantwortung anzuerkennen, ist es die neue Generation, die mit ihrem Mut und ihrer Zerbrechlichkeit hilft, einen alten Schmerz zu lindern.