Die vierzig Tage des Musa Dagh
Wehmütig und gleichzeitig befreiend – diese ambivalenten Gefühle hatte ich nach dem Zuklappen von „Die vierzig Tage des Musa Dagh“ von Franz Werfel. Knapp sieben Wochen hat das Buch mich nun (fast) täglich begleitet – sei es im Bus oder auf dem heimischen Sofa. Und schon lange habe ich keinen Roman mehr aus dem Bereich der „Klassiker“ gelesen, in dem Glaube, Liebe, Hoffnung und Tod eine konsequentere Verbindung eingegangen sind als hier.
Obwohl 1933 erstveröffentlicht (und auch zwischenzeitlich in NS-Deutschland verboten), liest sich der Roman, für den Franz Werfel Originalquellen studiert hat, überaus flüssig und leicht. Erzählt wird die Geschichte des Völkermords an den Armeniern, den Deportationen und (namensgebend für das Buch und den Inhalt) dem Widerstand einer Gemeinschaft aus 7 Dörfern, die sich 40 Tage auf den Musa Dagh verschanzt, mehr oder weniger erfolgreich vor den Türken verteidigt haben und am Ende von einer französischen Flotte gerettet wurden.
Einige der Figuren im Roman sind also nicht der Fantasie des Autors entsprungen, sondern lassen sich unter anderem Namen historisch belegen, was dem Buch eine sehr hohe Authentizität verleiht.
Die atmosphärisch dichte Erzählweise sorgt dafür, dass man das Buch schwer aus der Hand legen kann. Bei knapp 1000 Seiten bleibt es allerdings auch nicht aus, dass die ein oder andere erzählerische Länge dabei ist, die aber für den Gesamtkontext wichtig und ergo wieder richtig ist.
Neben den (nicht nur in so einer Extremsituation) unausweichlichen zwischenmenschlichen Konflikten einer größeren Gemeinschaft werden auch die Zweifel am eigenen Tun des Gabriel Bagradian mit klaren Worten beschrieben:
„Gedanken, vor denen er selbst erschrak, beschäftigten unausgesetzt Bagradians Geist, ja sie schüttelten ihn so mächtig, daß er ihnen zu keiner Stunde des Tages und der Nacht entrinnen konnte. Dabei waren sie, trotz aller pedantischen Forschertätigkeit, in ein ähnlich traumhaftes Zwischenreich getaucht wie das ganze Leben am Fuße der grünen Alpe. Gabriel sah nur einen Beginn vor sich, er sah nur den Kreuzweg, wo sich die Wege teilten. Fünf Schritt weiter war alles Nebel und Finsternis. Aber es gehört wohl zu jedem Leben vor der Entscheidung, daß nichts unwirklicher ist als das Ziel. Und doch, war es begreiflich, daß sich Gabriel mit seiner ganzen aufgestörten Energie nur in diesem engen Tal bewegte, daß er jeden Ausweg vermied, der vielleicht noch offenstand?“ (S. 203)
Auch werden philosophische, religiöse und ethische Gedanken präzise beschrieben – die geneigte Leserschaft wird also auch nach fast 100 Jahren noch „aktuelle“ Gedanken in dem Text finden.
„Der echte Bibliophile liebt mehr als Form und Inhalt eines Buches seine Existenz; er muß es erst gar nicht lesen.“ (S. 67)
Ob bewusst oder unbewusst – auch seinem knapp 10 Jahre vor dem Erscheinen von „Die 40 Tage des Musa Dagh“ verstorbenen Freund Franz Kafka setzt Werfel in dem Werk ein kleines Denkmal:
„Die Nacht hingegen war wie bei gar vielen Weisen und Geistesgroßen die Zeit seines hellsten, hochbewegten Lebens.“ (S. 757)
Und so bleibt mir am Ende nichts weiter, als eine unbedingte Leseempfehlung für diesen Jahrhundertroman auszusprechen.
Nationalismus und der Völkermord an den Armeniern
Großartiger Klassiker, der nicht nur den Völkermord an den Armeniern thematisiert, sondern auch allgemein gesellschaftliche Mechanismen
Es ist schon etliche Tage her, dass ich das Buch zugeklappt habe, aber es beschäftigt mich immer noch. Es ist einer der besten Klassiker, den ich je gelesen habe: basierend auf Tatsachen, spannend, mit tiefgehenden Personencharakterisierungen, von immerwährender Aktualität wegen der beschriebenen gesellschaftlichen Probleme und Themen und nicht zuletzt Informationen über den Völkermord an den Armeniern.
Wie kam es überhaupt zu diesem Buch?
Franz Werfel und seine Frau Alma fielen beim Besuch einer Teppichweberei in Damaskus ausgehungert aussehende Kinder mit großen Augen auf und sie erfuhren auf Nachfrage, dass es Überlebende des Genozids der Türken an den Armeniern waren. Als Werfel zudem noch von Widerstandskämpfern hörte, die sich 53 Tage auf dem Musa Dagh (Mosesberg) verschanzt hatten, bevor sie von alliierten Schiffen gerettet wurden, ließ ihn das nicht mehr los und er begann umfangreiche Recherchearbeiten. Sein Ziel: 'das unfassbare Schicksal des armenischen Volkes dem Totenreich alles Geschehenen zu entreißen'. Und das ist ihm bestens gelungen, auch wenn sein Roman der Bücherverbrennung der Nazis zum Opfer fiel. Die Parallelen sind unübersehbar: 'Unterdrückung, Vernichtung von Minoritäten durch den Nationalismus …', schreib Werfel an seine Eltern.
Zum Roman
Es fängt idyllisch an: Gabriel Bagradian, ein Geistesmensch, seit 23 Jahren in Frankreich lebend und mit der Pariserin Juliette verheiratet, ein Sohn, besucht wegen des Todes seines älteren Bruders sein Heimatdorf Yoghonoluk, eines von sieben Dörfern auf der meerabgewandten Seite eines Gebirgszuges. Es ist eine wunderschöne Landschaft, der französischen Riviera ähnlich; die von Handwerkern bewohnten Armenierdörfer sind schmuck und sauber. Man muss wissen, dass die christlichen Armenier schon immer dort lebten; früher gehörte die Gegend teilweise zu Syrien, heute zur Türkei. Es ist ratsam, sich eine Karte neben das Buch zu legen, um alles verorten zu können.
Doch dann beginnt das Unglück: der Erste Weltkrieg ist in vollem Gange und 1915 verbündet sich das Osmanische Reich mit den beiden Mittelmächten gegen die Triple Entente (Vereinigtes Königreich, Frankreich, Russland). Den Armeniern werden von den Türken die Pässe entzogen, auch Gabriel Bagradian, so dass er mit seiner Familie nicht mehr weg kann. In Istanbul werden alle armenischen Intellektuellen und Geschäftsleute verhaftet, was als Beginn der Armenierverfolgung gilt. Es folgen Deportationen mit dem Ziel der völligen Vernichtung. Bagradian hatte inzwischen wegen seiner Beobachtungen und düsteren Vorahnungen begonnen, sich ein Bild von der Bevölkerung und der Ausstattung mit Waffen zu verschaffen und den Musa Dagh zu kartieren. Als es Ernst wird, beschließt der Großteil der Dorfbevölkerung in einer großen Versammlung, sich auf dem Berg zu verschanzen und Widerstand zu leisten.
Mir hat es sehr imponiert, wie das alles organisiert wurde: Anführer wählen, heimlich Vorbereitungen treffen, alles hochschaffen und schließlich dem Deportationsbefehl zuvorkommen. Oben zeigt sich dann, wie schwierig es ist, eine Gemeinschaft aufzubauen, für was alles gesorgt werden muss und welche Schwierigkeiten auftreten, nicht zuletzt solche zwischen den reicheren und ärmeren Dorfbewohnern. Es gibt Neid, Streit und Unzufriedenheit und bei einigen den Wunsch, alles für sich zu behalten. Bagradian, der einmal türkischer Reserveoffizier war, organisiert den militärischen Widerstand.
Es passieren unglaublich viele Dinge: Angriffe der Türken, erfolgreicher Widerstand, Versuche, den Armeniern zu helfen, Hunger und Krankheit, Liebe und Hass. Wir bekommen Einsicht in die politische Lage: die Verwicklungen des Deutschen Reiches und seine Mitschuld, die hier allerdings nur gestreift wird. 'Das Narkotikum des Nationalismus', schreibt Werfel an seine Eltern. In Wirklichkeit sind den Politikern und Militärs des Deutschen Reiches die Armenier völlig egal und es stehen nur die Interessen der Mittelmächte gegen die Entente und Wirtschaftliches im Vordergrund: die Bagdadbahn, die Ölfelder in Mossul, Baumwolle.
Aber die Ausgrenzung von Fremden ist ein Phänomen, das selbst auf dem Musa Dagh eine Rolle spielt. So bleibt Juliette immer eine nicht anerkannte Fremde und selbst gegen Bagradian gibt es trotz aller Verdienste Vorbehalte. Sie bleiben 'die Zugereisten, Überheblichen und Unrechten.'
Dieses Buch ist so reichhaltig, dass meine Rezension ihm leider nicht gerecht werden kann. Ich staune über Werfels Vielseitigkeit, wie er Landschaftsschilderungen, Politisches, Militärisches, Personencharakterisierungen unter einen Hut bringt und wie es nie langweilig wird.
Es ist ein leidenschaftliches Plädoyer gegen die Verfolgung und Vernichtung von Minderheiten, das allerdings seiner Entstehungszeit entsprechend an manchen stellen ein wenig zu pathetisch klingt. Das mindert aber in meinen Augen keineswegs seinen Wert, so dass ich gerne eine volle Lese-Empfehlung ausspreche.