Die Spiegel von Kettlewood Hall: Roman
Wer eine Horrorgeschichte erwartet, bei dem jede Menge Blut fließt, ist bei diesem Buch absolut falsch. Wer aber unterschwelligen und nur angedeuteten Grusel mit huschenden Schatten und knarrenden Türen liebt so wie ich, und mir persönlich weitaus mehr Gänsehaut verursacht, wird diesen großartigen Roman lieben!
Die Spiegel von Kettlewood Hall ist ein sogenannter Gaslichtroman. In dieser Art von Buch kämpft eine zumeist weibliche Heldin an einem düsteren und geheimnisvollen Ort gegen widrige, gefahrvolle, unheimliche und/oder kriminelle Umstände um die Liebe ihres Lebens. Nicht immer, aber in den allermeisten Fällen siegt am Ende die Heldin und mit ihr das, was für sie das Happy End markiert. Mitunter sind auch übersinnliche Kräfte oder Mächte am Werk, die das Leben der Heldin erschweren (Quelle: Wikipedia). Diese Beschreibung ist durchaus für Die Spiegel von Kettlewood Hall zutreffend.
Zu Beginn lernt man die vierzehnjährige Iris Barling kennen, die ihren Lebensunterhalt in einer Textilfabrik schwer verdienen muss. Den Anfang der Geschichte fand ich bereits absolut gelungen, denn er zeichnet ein sehr realistisches Bild der viktorianischen Epoche, in der die Handlung angesiedelt ist. Das Leben der einfachen Leute verläuft kurz und entbehrungsreich. Es wird auch deutlich, was Iris für eine Persönlichkeit ist. Man kann sie mit heutigen Vierzehnjährigen Mädchen nicht vergleichen, denn bei dem Leben, das sie führen muss, hat sie eine ganz andere Reife. Ich habe sie sofort gemocht, sie für ihre Stärke bewundert und mit ihr gelitten. Doch Iris ist auch eine Kämpfernatur, die von einem anderen Leben träumt. Mit etwas Hilfe von außen und einer unheimlichen Schachfigur bricht sie schließlich aus ihrem harten Alltag aus, um nach ihren Wurzeln zu suchen und außerhalb von Leeds ihr Glück zu versuchen.
Ihr Weg führt sie zu der früheren Arbeitsstelle ihrer bereits verstorbenen Mutter nach Kettlewood Hall. Doch in dem Herrenhaus ist rein gar nichts wie es zu sein scheint und jeder hat etwas vor ihr zu verbergen. Doch Iris wäre nicht Iris, wenn sie nicht versuchen würde die Rätsel des unheimlichen Hauses, seiner Bewohner und ihrer eigenen Vergangenheit zu lösen, und ich fand es unglaublich spannend, das junge Mädchen dabei zu begleiten.
Man merkt schon von der ersten Seite an, dass die ganze Handlung hervorragend recherchiert wurde. So gibt es zum Beispiel für die Schachfiguren, die in der Geschichte die zentrale Rolle spielen, tatsächlich existierende Vorbilder (Springer und Turm). Man kann sie im Victoria and Albert Museums in London besichtigen und auch das Herrenhaus gibt es tatsächlich (es heißt allerdings nicht Kettlewood Hall). Die Autorin hat es, wie sie es selbst schildert, auf einer Reise entdeckt. Dadurch wird die Geschichte von Iris richtig lebendig, und obwohl ich natürlich nie in dieser Zeit gelebt habe, bin ich wirklich restlos in die Geschichte eingetaucht. Das ist mir schon sehr lange nicht passiert (zumeist bleibe ich immer in der Wirklichkeit, selbst wenn mir eine Handlung gut gefällt), aber hier war ich förmlich in Kettlewood Hall mit Iris und habe die Ereignisse wie ein stiller Gast mitverfolgt.
Dabei habe ich mir natürlich auch meine eigenen Gedanken über die jeweiligen Charaktere gemacht, die in keiner Weise stereotyp sind. Im Gegenteil, sie waren mir nicht immer auf den ersten Blick sympathisch, aber manchmal auf den zweiten und sie waren immer interessant!
Auch romantische Elemente kommen in der Geschichte nicht zu kurz. Einer der Bewohner hat es Iris angetan, aber ich verrate nicht, ob die zarte Romanze, die der damaligen Zeit und auch dem Alter von Iris entspricht, auch ein glückliches Ende nimmt.
Fesseln konnten mich auch die Passagen über Schach, auch wenn ich es noch nie gespielt habe. Die Autorin hat einfach eine wunderbare Art zu erzählen und egal welcher Teil des Buchs, ich habe jede einzelne Seite begeistert verschlungen.
Als Fazit kann ich sagen, dass mich schon lange kein Buch mehr so in seinen Bann ziehen konnte. Es hallt bei mir immer noch nach und ich werde es mindestens noch einmal lesen.
Ich würde daher mindestens 6 Sterne vergeben, wenn es die gäbe und bin gespannt, was als nächstes aus der Feder der Autorin fließt, die nun eindeutig in die Riege meiner Lieblingsautoren gehört.
Also unbedingt lesen und in die Welt von Iris eintauchen und angenehm gruseln!
Anmerkung: Das ebook ist bereits erschienen und das habe ich auch gelesen.
Schach im Gaslicht
Bevor ich euch meine Meinung zu diesem Buch verrate, möchte ich erst ein paar Worte zu seinem Genre sagen:
Es handelt sich hier um klassische ‘Gaslight Fantasy’, ein Subgenre der Genres ‘Historisch’ und ‘Fantasy’ – verwandt, aber nicht identisch mit dem Genre ‘Steampunk’.
Wie beim ‘Steampunk‘ sind die Geschichten zumeist im Viktorianischen oder Edwardischen Zeitalter angesiedelt, dabei spielt Technologie (insbesondere dampfbasierte Technologie), bei der ‘Gaslight Fantasy’ jedoch normalerweise keine oder kaum eine Rolle.
Es gibt Überschneidungen mit der englischen Schauerliteratur, der sogenannten ‘Holmesian Fantasy’ und ähnlichen Subgenres.
Wie die Zuordnung zu diesem Genre vermuten lässt, begegnet dem Leser in ‘Kettlewood Hall‘ gepflegter viktorianischer Grusel. Alles ganz dezent, ohne Blutbad oder Gewaltorgie – eben ‘Gaslight’ und kein Kettensägenmassaker
Geschichte und Schreibstil warten mit dichter Atmosphäre auf.
Das ist stimmungsvoll und düster, auf angenehme Art unheimlich und fesselnd… Die Autorin findet großartige Bilder, die es dem Leser ermöglichen, jede Szene bildlich vor sich zu sehen. Aber es sind nicht nur die Schauplätze, die die Fantasy des Lesers kitzeln: dazu kommen noch mysteriöse und sonderbare Charaktere , die etwas Unwirkliches an sich haben und und im Wunderland nicht gänzlich fehl am Platz wirken würden
Die Mischung auf Historie, Abenteuer und Fantasy funktioniert wunderbar, und die Atmosphäre ist dabei der Kitt, der alles zusammenhält.
(Als katastrophal untalentierter Schachspielerin, die dennoch gerne spielt, haben mir natürlich besonders die Szenen gefallen, in denen das Schachspiel von Kettlewood Hall eine zentrale Rolle spielt und Iris über ihren nächsten Zug nachdenkt.)
Die Sprache kam mir manchmal etwas zu modern vor für eine Geschichte, die im viktorianischen Zeitalter spielt, aber sie liest sich sehr flüssig und angenehm. Romane mit historischen Hintergrund verlangen Autoren grundsätzlich einen Drahtseilakt ab: wo der eine Leser auch bei der Sprache größtmögliche historische Akkuratesse verlangt, würde genau diese hundert andere Leser abschrecken.
Maja Ilisch gelingt in meinen Augen ein guter Kompromiss.
Die Spannung baut sich eher langsam auf, aber das hat mich nicht gestört – ein rasantes Tempo hätte sicher weniger Platz für Stimmung und Kopfkino gelassen. Die Geschichte hat ihr eigenes Tempo und ihren eigenen Takt. Es gibt nicht für jedes Problem eine Lösung, nicht für jeden Charakter ein Happy End, und obwohl ich das zum Teil sehr bitter fand, ist es für die damalige Zeit einfach realistisch
Der Fokus liegt auf einer kleinen Anzahl von wichtigen Charakteren, und diese sind glaubhaft, authentisch und lebhaft gezeichnet.
Im Mittelpunkt steht die 14-jährige Fabrikarbeiterin Iris Barling.
Obwohl sie so jung ist, blickt sie doch schon auf ein hartes Leben zurück. Seit ihrer Kindheit schuftet sie tagtäglich für viele Stunden in der Textilfabrik und hat dabei bereits zwei Finger eingebüßt. (An dieser Stelle musste ich an meinen Großvater denken, der auf ganz ähnliche Weise ein paar Finger in der Fabrik verlor.) Dazu kommt noch, dass sie sich ständig verteidigen muss gegen die ungebeten ‘Angebote’ verschiedener Männer.
Iris macht eine große Entwicklung durch, im Laufe der Geschichte erweist sie sich als entschlossen und mutig. Sie ist sehr ungebildet – aber das ist nicht ihre Schuld, obwohl den Kinderarbeitern seit kurzer Zeit zwei Stunden Unterricht pro Tag zustehen.
Aber wie soll man sich auf Schularbeit konzentrieren, wenn man todmüde ist und der Magen knurrt?
Ich habe ganz besonders gefeiert, als sie die Bedeutung von Büchern und Bildung begreift und sich mit Entschlossenheit daransetzt, dass niemand sie jemals wieder dumm nennen kann. Sie wirkt älter als ihre 14 Jahre, was aber sicher daran liegt, dass sie schon sehr früh erwachsen werden musste.
Ihre Großmutter ist ein zutiefst unsympathischer Mensch – eine bösartige, hinterhältige alte Vettel, die Iris scheinbar keinerlei Liebe entgegenbringt, und die deshalb auch kein weiteres Wort verdient.
Ihr Lehrer wird im ersten Teil der Geschichte zu einer Schlüsselfigur in ihrem Leben.
Als Säufer, der seine Schüler oft quält oder ignoriert, ist er zunächst nun wirklich keine Sympathiefigur. Aber als er die Schachfigur sieht, die Iris von ihrer Mutter geerbt hat, bewirkt das etwas in ihm. Vielleicht eine Rückbesinnung darauf, warum er ursprünglich Lehrer werden wollte? Man kann erahnen, dass er im Grunde kein schlechter Mensch ist – nur desillusioniert von der schier unmöglichen Aufgabe, erschöpfte, überarbeitete und halb verhungerte Kinder zu unterrichten.
Er bringt Iris das Schachspielen bei und unterstützt sie bei ihrem Plan, Kettlewood Hall aufzusuchen, auch wenn seine Alkoholsucht ihnen da ein Bein stellt.
Iris’ Mutter steht eher am Rand der Geschichte, obwohl sie für ihre Tochter natürlich ein sehr wichtiger Mensch war.
In Kettlewood Hall nimmt stattdessen ihr Gegenspieler eine sehr große Rolle in der Geschichte ein. Iris weiß zunächst nicht, wer er ist oder ob sie es überhaupt mit einem Mensch oder vielmehr mit einem Geist oder Dämon zu tun hat. Auf jeden Fall ruft er schon bald sehr widersprüchliche Gefühle in ihr hervor. (Und nein, ich spreche hier nicht von romantischen Gefühlen.)
Apropos: so ganz ohne Liebesgeschichte kommt Kettlewood Hall nicht aus, was ich als Liebesromanmuffel nicht unbedingt gebraucht hätte… Insofern ist auch Victor, der Sohn des Earls, einer der Schlüsselcharaktere – im Vergleich zu Iris oder auch seinen Schwestern blieb er für mich jedoch etwas blass.
FAZIT
England im Viktorianischen Zeitalter: Die junge Iris hat von ihrer Mutter eine Schachfigur geerbt, die diese vor vielen Jahren ihrem letzten Arbeitgeber gestohlen haben muss. Auf der Suche nach ihren Wurzeln folgt Iris der Spur dieser Figur bis zum Herrenhaus ‘Kettlewood Hall’. Dort erwartet den Leser eine auf ruhige Art gruselige Geschichte rund um ein merkwürdiges Schachspiel, das möglicherweise verflucht ist…
Alleine schon durch den wunderbaren Schreibstil und die dichte Atmosphäre konnte mich die Geschichte für sich gewinnen. Aber mir hat auch sehr gefallen, was für eine grandiose Entwicklung die junge Heldin in ihrem Verlauf durchmacht.