Die Postkarte: Roman

Buchseite und Rezensionen zu 'Die Postkarte: Roman' von Anne Berest
4.5
4.5 von 5 (2 Bewertungen)

Inhaltsangabe zu "Die Postkarte: Roman"

Im Januar 2003 fand Anne Berests Mutter unter den Neujahrswünschen eine verstörende Postkarte mit nichts als den Namen ihrer vier Angehörigen, die in Auschwitz ermordet wurden; ohne Absender, ohne Unterschrift. Anne fragt nach und die Mutter erzählt ihr die tragische Geschichte der Familie Rabinowicz. Aber erst als ihre kleine Tochter in der Schule Antisemitismus erfährt, beschließt Anne, der Sache wirklich auf den Grund zu gehen. Mithilfe eines Privatdetektivs und eines Kriminologen recherchiert sie in alle erdenklichen Richtungen. Das Ergebnis ist dieser Ausnahmeroman. Er zeichnet nicht nur den ungewöhnlichen Weg der Familie nach, sondern fragt auch, ob es gelingen kann, in unserer Zeit als Jüdin ein »ganz normales« Leben zu führen.

Autor:
Format:Gebundene Ausgabe
Seiten:544
Verlag: Berlin Verlag
EAN:9783827014641

Rezensionen zu "Die Postkarte: Roman"

  1. Ein Requiem der besonderen Art

    Mein Hör-Eindruck:

    Anne Berest geht dem Schicksal ihrer Familie nach. Auslöser ist eine Postkarte, die lediglich vier Namen enthält und damit an die vier Mitglieder der Familie erinnert, die interniert, deportiert und schließlich in Auschwitz ermordet wurden. Schon die Mutter der Autorin hatte Nachforschungen zur Familiengeschichte angestellt, die sie im 1. Buch in einem großen Dialog der Tochter Anne erzählt.

    Hier entfaltet sich nun die erschütternde Geschichte einer großbürgerlichen und gebildeten jüdischen Familie, die mit der Flucht der russischen Urgroßeltern nach der Oktoberrevolution beginnt. Sie fliehen nach Riga und schließlich nach Palästina, wo sie sich mehr recht als schlecht als Landwirte durchbringen, bis der Sohn sich zur Ausreise nach Frankreich entschließt, in das Land der Menschenrechte, das Land von Gleichheit, Freiheit und Brüderlichkeit.
    Er ist als selbständiger Ingenieur mit Patenten und eigener Firma erfolgreich und seine Töchter besuchen renommierte Schulen, aber Frankreich verwehrt ihm mehrmals die Einbürgerung. Trotz aller Bemühungen bleibt er so der Unbehauste, und damit und mit dem Schicksal der Familie erinnert er das Bild des Juden Ahasver, der ruhelos umherirrt und keine Heimat findet.

    Voller Vertrauen in seine neue Heimat will er den wachsenden Antisemitismus nicht wahrnehmen und meint, der zunehmenden Entrechtung der Juden dadurch zu entgehen, dass er den Hauptwohnsitz der Familie in sein Landhaus in der Normandie verlegt. Eine Flucht kommt für ihn nicht in Frage, und so zieht sich die Schlinge zu: die beiden jüngeren Kinder werden abgeholt, von den Verwandten aus Polen treffen keine Nachrichten mehr ein, schließlich werden sie selber interniert und deportiert. Einzig Myriam, die ältere Tochter, kann der Vernichtung entkommen.

    Das 2. Buch spielt in der Gegenwart. An die Erzählung der Mutter schließt sich eine Art Krimi an, nämlich die Suche nach dem Absender der Postkarte, die alles ins Rollen gebracht hatte. Mutter und Tochter spüren in unterschiedlichsten Quellen dem Lebenslauf Myriams, der Großmutter nach. Auf Erzählungen der Großmutter können sie nicht zurückgreifen, weil die Großmutter schwieg, um die schrecklichen Erlebnisse nicht erneut zu beleben. Und weil sie, wie so viele andere Überlebende auch, ein schlechtes Gewissen gegenüber den Opfern hatte.

    Wie ein großes Puzzle setzt sich so Stück für Stück das Schicksal der Familie zusammen.

    Dabei muss sich der Leser mit zusätzlichen beklemmenden Tatsachen auseinandersetzen. So erfahren wir, sehr verhalten erzählt, wie Franzosen ihre Mitbürger durch Denunziation in die Folterkeller der Gestapo und wie sich die Nachbarn am Eigentum der Familie nach deren Deportation bereichert haben. Der Leser erfährt auch von dem blinden Fleck im französischen Auge, der die Kollaboration vieler Franzosen, z. B. auch der Polizei und Verwaltungsbehörden, mit den Deutschen lange Zeit verschwieg. Und dass erst 1996 die Todesursache „gestorben in der Deportation“ und die Verfolgung aus rassistischen Gründen anerkannt wurde.

    Sehr beklemmend sind auch die Passagen, in denen die Autorin beschreibt, welche Auswirkungen die Tragödie ihrer Familie und ihr (laisiertes) Jüdisch-Sein auf iuhr eigenes Leben hat. Sie erzählt von ihren Ängsten und verleiht dem Phänomen deutliche Konturen, das man inzwischen als transgenerationale Traumaweitergabe bezeichnet.

    Und zusätzliche Aktualität bekommt durch den nicht nur in Frankreich wieder zunehmenden Antisemitismus.

    Wie Anne Berest diese Geschichte erzählt, ist ungemein packend. Das Erzählen der Familiengeschichte wird immer wieder von Fragen unterbrochen und damit immer in die Gegenwart hineingezogen; dazu trägt auch bei, dass die Mutter im Präsens erzählt. Damit gelingt es, die Personen nahe an den Leser heranzurücken, und diese Vermengung von Vergangenheit und Gegenwart macht den Roman so lebendig.

    Große Lese-Empfehlung!

  1. 4
    05. Jul 2023 

    Verloren

    Anfang 2003 erhält Annes Mutter eine Postkarte, auf der lediglich vier Namen notiert sind. Von ihrer Mutter erfährt sie, es sind die, Namen von Annes Urgroßeltern, die in Auschwitz ermordet wurden. Anne beginnt sich für ihre Familiengeschichte zu interessieren. Dass sie Jüdin ist, war in ihrem Leben nie ein Thema. Doch nach Erhalt der Karte, beginnt sie Nachforschungen anzustellen und mit ihrer Mutter zu sprechen. Annes Forschungen verlaufen zunächst ein wenig im Sande. Erst Jahre später als ihre eigene kleine Tochter in der Schule Antisemitismus erfährt, will Anne die ganze Geschichte erfahren. Was macht es mit ihr selbst, Jüdin zu sein.

    Sehr unmittelbar ist diese Geschichte erzählt von Anne Berest, schließlich ist es ihre eigene Familie, von der sie schreibt. Im heutigen Paris und überhaupt auf der Welt sollte es keine Rolle mehr spielen, was für eine Herkunft jemand hat. Doch die Autorin lässt erfahren, dass dem mitnichten so ist. Obwohl sie die Geschichte ihrer Vorfahren nicht kennt, so trägt sie sie doch in sich. Und nach dem die Postkarte im Briefkasten gelandet ist, beginnt sie zu fragen. Ihre Mutter hilft Anne bei der Recherche und stellt zur Verfügung, was sie an Dokumenten hat. Gemeinsam machen sich die Frauen auf die Suche nach weiteren Informationen.

    Dieses Hörbuch wird ruhig, ein wenig distanziert und möglicherweise gerade dadurch beeindruckend vorgetragen von Simone Kabst. Ein wenig schade bei Hörbüchern, in den Namen vorkommen, deren Schreibweise man nicht zwingend kennt, dass man eben diese Schreibweise nur erahnen kann. Man ist gefesselt von dem Rätsel um die Postkarte, dem Anne und ihre Mutter mit echtem Spürsinn nachgehen. Ein Ruf aus der Vergangenheit erschallt da. Die Erzählungen aus eben dieser Vergangenheit sind lebendig und authentisch, in ihrer Offenheit und Direktheit bedrückend und tragisch. Es möchte einem das Herz stehen bleiben, wenn man hört, wie mit leichten Worten geschildert wird, wie Menschen deportiert, gequält und ermordet werden. Wie kann eine Familie da bestehen? Am ehesten, in dem nicht gesprochen wird, über die Lieben, die nicht weiterleben durften und die, die nicht geboren werden durften, durch die Schuld der Nazis und einiger Kollaborateure. Hoffnung gibt, dass Anne Berests Mutter bereit ist zu sprechen und wir so von der Postkarte erfahren. Ein beeindruckendes Buch, welches man nicht so schnell vergessen wird.

    4,5 Sterne