Die Flucht

Buchseite und Rezensionen zu 'Die Flucht' von Fuminori Nakamura
4.15
4.2 von 5 (7 Bewertungen)

Inhaltsangabe zu "Die Flucht"

Kenji Yamamine kommt in den Besitz der legendären Teufelstrompete des Komponisten Suzuki. Ihr wird die Macht zugeschrieben, Menschen zu begeistern und zu fanatisieren. Bei Recherchen auf den Philippinen trifft Kenji die junge Anh. Sie verlieben sich, Anh folgt ihm nach Tokio, wo sie gewaltsam stirbt. Neben der Trauer um Anh wird Kenji von einer rätselhaften religiösen Sekte verfolgt, die die Trompete für ihre Zwecke nutzen will. Was Kenji jetzt noch bleibt, ist, das Rätsel der Trompete zu lösen und sich mit der Welt in Liebe zu versöhnen.

Format:Gebundene Ausgabe
Seiten:496
Verlag: Diogenes
EAN:9783257072853

Rezensionen zu "Die Flucht"

  1. 4
    09. Jun 2024 

    Vielleicht Nakamuras Herzensprojekt?

    Ansrengend aber lohnenswert ist die Lektüre dieses fast 600 Seiten starken Romans des Japaners Fuminori Nakamura. Vordergründig geht es um eine ominöse Trompete, die während des Zweiten Weltkriegs einen Teil der japanischen Armee zum Erfolg gegen die Aliierten geführt haben soll. Mal als "Instrument des Teufels" bezeichnet, mal als "Instrument Gottes" wird ihr jedenfalls eine magische Wirkung zugeschrieben, und nachdem sie als verschollen galt, nun aber wieder aufgetaucht ist, wird von vielen Seiten her Jagd auf sie gemacht. Und damit auf den Journalisten Kenji Yamamine, der irgendwie in den Besitz der Trompete gelangte.

    "Die Wahrscheinlichkeit, dass du in einer Woche noch lebst, beträgt (...) Vier Prozent." (S. 12)

    Tatsächlich erweist es sich jedoch bald, dass die Geschichte um die Teufelstrompete nur der lose Aufhänger für diesen überaus komplexen Roman ist, ein Gerüst, in das erschlagend viele Themen hineingewebt wurden. Themen unterschiedlichster Art, jedes für sich interessant, aber in der Vielfalt und den oftmals essayhaften Einschüben stellenweise fast überfordernd. Kein gefäliger Roman ist dies, kein Text, der den Gute-Welt-Glauben bedient - sondern einer, der den Finger in die zahllosen Wunden legt, sei es nun der Rechtsruck in Japan, die Sinnlosigkeit von Krieg, die üblen Manchenschaften in der Vergangenheit wie die jahrhundertelange unbarmherzige Christenverfolgung, die Japan nur zu gerne unter den Teppich kehrt, die verdrehte und verfälschte Darstellung historischer Ereignisse, Fremdenfeindlichkeit, eine immer geringere Meinungsfreiheit u.v.m. Dabei ist vieles gar nicht nur ein japanisches Phänomen, etliche der dargestellten Probleme sind durchaus globaler Natur - mich hat der Roman vielfach ins Grübeln gebracht.

    Neben der unglaublichen Konstruktion des Romans hat mich die Wahnsinnsrecherche des Autors sehr beeindruckt. Zu so vielen Themen derart vielseitig informiert und belesen zu sein: Hut ab. Nach dem Lesen war ich seltsam zufrieden, diesen Roman "bewältigt" zu haben. Sicher auch, weil die Anstrengung nun ein Ende hatte. Aber eben auch, weil ich diesen Roman als etwas sehr Besonderes empfinde und eine Zeitlang darin eintauchen konnte. Nakamura hat die Fähigkeit, komplexe Sachverhalte und vielschichte Zusammenhänge auf den Punkt zu bringen - vieles, was ich schwer erklärbar finde, wird hier plausibel und logisch dargelegt. Dazu präsentiert er wohlgefeilte Sätze, kein Wort wirkt hier fehl am Platz.

    Dieser Roman lässt sich keinesfalls in eine Schublade stecken, etwas Vergleichbares habe ich bislang noch nicht gelesen. Ein gemischtes Chaos aus Gruselgeschichte, Krimi, Gesellschaftskritik, philosophischen Anklängen, Liebesgeschichte, Sachbuch - und all das gespickt mit magischem Realismus bis hin zu kafkaesken Elementen. Wie ein roter Faden zieht sich jedoch die Frage hindurch: Wer will ich eigentlich sein und was halte ich dafür aus? Jedenfalls ist dem Roman anzumerken, wie engagiert Nakamura hier geschrieben hat, wie wichtig ihm die angesprochenenThemen sind. Ein Herzensprojekt? Der Eindruck drängt sich auf.

    Wer sich auf die herausfordernde und durchaus auch unbequeme Lektüre einlässt, der wird belohnt mit einem ungeschminkten Blick auf Japan und seine Vergangenheit, aber eben auch über den Tellerrand hinaus. Selten habe ich mehr gelernt durch einen Roman und selten bin ich dabei so sehr ins Grübeln gekommen. Beeindruckend!

    © Parden

  1. Komplex, unbequem und doch lesenswert!

    Der 40-jährige Enthüllungsjournalist und Autor des Buches „Menschen, die am Krieg verdienen“, Kenji Yamamine, ist auf der Flucht. Durch einen Zufall wurde ihm auf den Philippinen eine sagenumwobene Trompete zugespielt, deren Musik die japanischen Soldaten im Zweiten Weltkrieg verzaubert und zu siegreichen Schlachten geführt hat. Dieses mysteriöse Instrument wollen sich nun verschiedene dubiose Organisationen aneignen und scheuen nicht davor zurück, Kenji zu verfolgen und massiv zu bedrohen. Die Flucht hat ihn bis nach Köln getrieben, wo ihm der ominöse B, eine Gestalt aus der Unterwelt, immer wieder auflauert. Ist jener eine reale Person oder gleitet der Roman bei seinem Auftauchen in magischen Realismus ab? Indizien gibt es für beide Richtungen. Nakamura spart nicht mit Symbolik und wiederkehrenden Motiven, er lehnt sich bewusst an große Erzähler der Weltliteratur an.

    Kenji ist im Grunde seines Herzens tieftraurig. Er verlor seine große Liebe Anh. Eigentlich hat das Leben für ihn kaum noch Bedeutung, doch die Trompete gibt ihm Lebenssinn zurück: „Diese Leute haben keine Ahnung. Sie wissen nicht, dass mich die Trompete mit Anh verbindet, wissen nicht, wie einsam ich bin. Meine Einsamkeit ist so irreparabel, dass ich es mir erlaube, manchmal mit der Trompete zu sprechen.“ (S. 31)
    Von seiner politischen Einstellung her ist Kenji ein progressiver Linker, der den rechtsnationalen Entwicklungen in seiner Heimat Japan kritisch gegenübersteht. Geringe Wahlbeteiligungen geben den Feinden der Demokratie Auftrieb. Diesen Feinden darf die Trompete nicht in die Hände fallen, sie darf nie wieder zu Kriegstreiberei und zur Manipulation von Menschen eingesetzt werden. Kenji schützt einerseits das Instrument, andererseits spürt er dessen Legende nach, sucht die dazugehörigen Noten des Komponisten Suzuki und versucht sowohl seine, als auch die Lebensgeschichte seiner verstorbenen Lebensgefährtin Anh aufzuschreiben und beide in Einklang zu bringen.

    Daraus ist dieser 600-seitige, themenreiche Roman entstanden, den Nakamura kunstvoll komponiert und ineinander verschachtelt hat. Er fordert seitens des Lesers maximale Aufmerksamkeit. Es gibt keinen konstanten Handlungsverlauf. Die Geschichte rund um die verzauberte Trompete dient eher als Rahmenhandlung, die verschiedene Fäden zusammenhält. Kenji muss quer durch die ganze Welt reisen. Er beleuchtet zahlreiche Verbrechen gegen die Menschlichkeit. Dabei werden sowohl Genozide während des Kolonialismus als auch während des Zweiten Weltkrieges fokussiert. Der Autor zeigt wesentliche fehlgesteuerte historische Entwicklungen auf, die am Ende zum Atombombenabwurf auf Nagasaki führten, einer Stadt, in der seit Jahrhunderten verfolgte Christen Zuflucht fanden. Davon ausgehend schlägt der Autor einen weiten Bogen, um uns die Geschichte der brutalen Christenverfolgung in Japan über Jahrhunderte offenzulegen. Das als diszipliniert geltende Land erscheint dabei in einem völlig neuen Licht. Nakamura beleuchtet weiterhin Japans wenig ruhmreiches Verhältnis zu seinen kleinen asiatischen Nachbarn, mit denen ebenfalls grausam umgegangen wurde. Der Autor legt den Finger in all die Wunden, die aus seiner Sicht längst nicht ausreichend aufgearbeitet wurden. Er klagt regelrecht an. Er beweist, dass die wahren Geschichten meist nichts mit dem „Gerechte-Welt-Glauben“ von Märchen zu tun haben. Der Leser muss sich auf die Darstellung brutaler Wahrheiten einstellen, er darf nicht zimperlich sein. Wer Zweifel hat, dass alle Exkursionen, die von der Rahmenhandlung wegführen, ihren Sinn haben, der nehme sich diesen Ausspruch zu Herzen: „Glaub nicht, das hätte nichts mit dir zu tun. In letzter Konsequenz bist du mit jeder dieser Geschichten verbunden. Also pass’ auf!“ (S. 353)

    Ich bin sicher, dass die große Bandbreite an behandelten Themen in Japan noch besser verstanden werden kann als hier in Europa. „Die Flucht“ ist ein komplexer, intelligent geschriebener Roman, der Wissen vermittelt. Die historisch-politischen Abhandlungen werden dabei überwiegend stimmig in den Gesamtkontext eingebunden. Zum Ende hin werden die losen Fäden verknotet, da nimmt das Geschehen wieder Fahrt auf. Leser, die mit kafkaesken Szenen oder surrealen Sequenzen umgehen können, werden im Vorteil sein. Der Roman beschäftigt sich auch immer wieder mit philosophischen Fragestellungen.

    Ich gestehe, dass mich der Roman stellenweise überfordert hat. Manche Szene konnte ich nicht erschließen, die Abhandlung über die Christenverfolgung erschien mir zu ausführlich im Verhältnis zum Gesamtkonstrukt. Die Rahmenhandlung rund um die Trompete, die sie umgebende Legende, die Verfolgungsjagden und Gefahren – das alles hat mich jedoch durchaus fasziniert. Einiges meine ich über die Leichen gelernt zu haben, die in einem Land mit Saubermann-Image wie Japan im Keller liegen und um die es dunkles Schweigen gehüllt hat. „Die Flucht“ vertritt eine klare politische Botschaft.

    Ein forderndes, unbequemes und doch besonderes Buch, das man allen Lesern empfehlen kann, die mehr über Japan und seine Vergangenheit erfahren möchten.

  1. Aus Tragödien lernen

    Gleich zwei Protagonisten hat der knapp 600 Seiten starke Roman "Die Flucht" des 1977 geborenen Japaners Fuminori Nakamura, der aufgrund seiner zahlreichen Auszeichnungen längst mehr als nur Nachwuchshoffnung ist: den Ich-Erzähler Kenji Yamamine und eine sagenumwobene Trompete, genannt „Fanaticism“. Das legendäre Instrument hält die durch eine riesige Themenvielfalt geprägte Handlung zusammen. Als es dem knapp 40-jährigen Investigativjournalisten und Buchautor Kenji auf den Philippinen in die Hände fällt, bringt es fortan sein Leben gehörig durcheinander und in höchste Gefahr, denn unterschiedlichste Interessengruppen wollen es aus verschiedenen Motiven in ihren Besitz bringen. Die Trompete und ihr ehemaliger Besitzer Suzuki sollen Unglaubliches vollbracht haben: Als ihre magischen Töne während einer Schlacht im Zweiten Weltkrieg erklangen, wendete sich eine aussichtslose Militäroperation der Japaner gegen die Amerikaner auf den Philippinen zum Sieg.

    Ein weiter Bogen
    Während Kenji im Stile eines Mystery-Thrillers um die halbe Welt gejagt wird – der Roman beginnt mit einem Überfall auf ihn in Köln durch den geheimnisvollen B., laut Nachwort des Autors „eine Figur zwischen Realität und Fiktion“ (S. 581) und stets nass, von Hundegebell begleitet und nach Eau de Cologne riechend – tauchen wir in lange Passagen im Stil eines erzählenden Sachbuchs über die Geschichte Japans und verschiedener Nachbarstaaten ein. Dabei geht es beispielsweise um die unvorstellbar brutalen, detailliert beschriebenen Christenverfolgungen ab ca. 1600, hauptsächlich in der Gegend um Nagasaki, die erst mit den Handelsbeziehungen zum Westen Ende des 19. Jahrhunderts endeten, ein Beispiel dafür, dass das in Verruf geratene „Wandel durch Handel“ doch gelingen kann. Von hier schlägt Fuminori Nakamura den Bogen zu Japans Gewaltverbrechen im Zweiten Weltkrieg, zum Atombombenabwurf auf Nagasaki, zur Atomkatastrophe von Fukuschima, deutschen Konzentrationslagern und zur Geschichte verschiedener Nachbarstaaten – ein überwältigendes Themen-Potpourri, das hier nur angerissen werden kann.

    Als links-progressiver Journalist und Autor des umstrittenen Buches „Menschen, die am Krieg verdienen“ kämpft Kenji gegen Japans zunehmenden Rechtsruck und nationalistische, demokratiefeindliche Kräfte. Die Trompete als Symbol für eine militaristische Weltanschauung ist ihm daher zunächst suspekt. Trotzdem ist er bei ihrem Anblick sofort gebannt, verfasst einen Artikel über sie und gerät ins Fadenkreuz verschiedenster Interessengruppen.

    Nicht nur die Trompete findet Kenji auf den Philippinen, er begegnet auch der Vietnamesin Anh Thi Nguyên, die ihm nach Japan, ins Land ihrer Urahnin, folgt. Die Liebe bleibt ohne Happy End, das gemeinsame Buchprojekt schrumpft zu einem Roman mit dem Titel „Eine Seite der Geschichte“.

    Ein schwerer, aber lohnender Brocken
    "Die Flucht", in Japan 2020 als Buch und zuvor als Fortsetzungsroman in bedeutenden Zeitungen erschienen, will keine Wohlfühllektüre sein, wie der Autor im Nachwort betont:

    "Und auch ich bin der Auffassung, dass sich die Welt nicht bessern kann und die Menschheitsgeschichte immer neue Tragödien hervorbringen wird, wenn es nur Geschichten gibt, die den Gerechte-Welt-Glauben bestärken (und uns damit unterbewusst beeinflussen)." (S. 582)

    Entsprechend erweist sich die äußerst verstrickte, komplexe Mischung aus historischem Roman, Action-Thriller, Liebesgeschichte und brandaktuellem Beitrag zum Zeitgeschehen als schwerer Brocken, der aufgrund seiner Gewaltbeschreibungen starke Nerven erfordert. Nimmt man die Mühen allerdings auf sich, erschließt sich in den umfangreichen historisch-politischen Teilen, die mir als Nicht-Thriller-Leserin wesentlich wichtiger waren, eine ganze, wenn auch meist düstere Welt.

  1. Des Trompetensolos berauschende Kraft

    Die Legende besagt, dass einst ein junger japanischer Soldat im Zweiten Weltkrieg eine ausweglose Schlacht mit einem Lied auf der Trompete zum Guten wenden konnte. Die erschöpften Kameraden fassten neuen Mut, als sich Suzuki inmitten des tödlichen Schlagabtauschs auf einen Hügel stellte und trotzig in sein Instrument blies. Die Geschichte schreibt, dass auch Japan zu den Verlierern gehörte und die zwei Bomben auf Hiroshima und Nagasaki den Widerstand in der Bevölkerung auf grausame Weise endgültig zerbrach.

    Die Trompete galt seitdem als verschollen. Die Begierde, sie zu finden, zu spielen und damit eine neue Ära heraufzubeschwören überdauerte.

    Der junge Journalist Kenji kommt unverhofft in den Besitz dieses Blechblasinstruments, doch wird er seitdem verfolgt und bedroht. Eine gnadenlose Hetzjagd beginnt, seine Gegenspieler scheinen mit übersinnlichen, ja schon dämonischen Instinkten ausgestattet zu sein. Kenjis Lebenswille ist auf einem Tiefpunkt. Er hat bei Recherchen zur Trompete auf den Philippinen seine große Liebe Anh kennengelernt, die ihm nach Japan folgte, dort aber nach kurzer Zeit als Unbeteiligte bei einer Demonstration ums Leben kam. In seiner Trauer widersetzt sich Kenji den Utimaten seiner Verfolger und gleitet in lebensgefährlichen, von Hundegebell begleiteten Momenten immer wieder in trügerische Sinneswahrnehmungen ab.

    Der rasante Einstieg in den Roman sollte aber nicht darüber hinwegtäuschen, dass Nakamura seiner Trompete eine große Last auferlegt. Er nutzt die kafkaesken Thrillmomente für Einschübe in die Tiefen der japanischen Geschichte. Darin verwoben bekommt der Leser unverhohlene Gesellschaftskritik des heutigen Nippon vorgesetzt, der die traditionsgeladenen Befindlichkeiten als das entlarvt, was sie sind, nämlich Verschlossenheit und Fremdenhass. Eine große, diskussionswürdige Bandbreite an Überlegungen lässt er in sein Buch fließen, die Jagd nach dem legendären Instrument stützt es wie eine durchsichtige Mauer. Von Christenverfolgungen, sektenartigen Organistionen (Yakuza?), Schattenwirtschaft und Presse(un)freiheit, bis hin zur wiederauferstehenden Unschuld des Volkes, gleich dem "Lotus, der aus dem Schlamm kommt, ohne sich mit Schlamm zu beschmutzen", dem Unmut des Autors scheinen keine Grenzen gewachsen zu sein.

    Die Komplexität des Textes ist hoch, die exotische Namenswelt erschwert den Lesefluß, doch zum Schluss hat man das Gefühl, eine Menge kluger Merksätze und Gedanken, nicht nur zu diesem Land, verinnerlicht zu haben. Nakamura eröffnet einen spannenden und interessanten Einblick in eine fremdartige Welt, dessen Fühler längst schon die unsere durchzieht. Der Autor weiß seine Leser über die Untiefen der Exkurse mit Spannung und Neugier bei der Stange zu halten. Für mich ist Nakamura zugänglicher als Murakami (aber niemand sollte mich um Mitternacht wecken und fehlerfreies Buchstabieren dieser Namen erwarten).

  1. Im Bann der Trompete: Eine Flucht zwischen Kunst und Realität

    Kenji Yamamine gelangt durch allerlei obskure Zufälle in den Besitz der legendären Teufelstrompete des Komponisten Suzuki, die angeblich Menschen begeistern und fanatisieren kann. Da er als Journalist einen Bericht über diese schreiben will, stellt er Recherchen an und begegnet dabei der jungen Philippinerin Anh. Sie verlieben sich ineinander, doch nach ihrer Ankunft in Tokio stirbt Anh völlig unerwartet und Kenji stürzt in tiefe Trauer. Gleichzeitig wird er von verschiedensten geheimnisvollen und gefährlichen Personen und Gruppierungen verfolgt, die allesamt die Trompete in ihren Besitz bringen möchten. Kenji sieht es als seine Aufgabe an, das Instrument um jeden Preis zu schützen, selbst wenn es sein Leben kostet, damit deren Macht nicht in falsche Hände gerät. Wahn und Realität vermischen sich immer mehr und Kenji befindet sich auf mehreren Ebenen auf der Flucht.

    Der Roman besticht durch seinen ungewöhnlichen, komplexen und äußerst geschickt durchgeführten Aufbau. Alle Andeutungen werden eingelöst, es gibt keine losen Fäden am Ende des Werkes. Die komplexe Konstruktion erfordert jedoch äußerste Aufmerksamkeit beim Lesen, auch weil verschiedene Textsorten wie Reportagen, Tagebuchaufzeichnungen, Briefe und Märchen miteinander verwoben sind und Orts- sowie Zeitwechsel stattfinden. Der Roman spielt teilweise in Deutschland, Japan, den Philippinen und Thailand und beinhaltet Zeitsprünge, teilweise weit in die Vergangenheit. Neben der Handlung um den Protagonisten Kenji Yamamine werden dem Leser Fakten v.a. aus der Geschichte Japans präsentiert, etwa zur Geschichte der Christenverfolgung oder zu den wenig ruhmreichen Verstrickungen im Zweiten Weltkrieg.

    Der Roman präsentiert einen quasi doppelt unzuverlässigen Ich-Erzähler. Kenji ist durch den Tod seiner Verlobten Anh extrem stark von seinen Gefühlen und der Wirklichkeit entfremdet. Dies lässt sowohl ihn als auch den Leser häufig im Unklaren darüber, ob das, was geschieht, Realität ist oder Produkt seiner Einbildung. Mehr als einmal wird der Leser aufs Glatteis geführt.

    Neben einigen literarischen Anspielungen auf Autoren wie Dostojewski, Kafka und Goethe, etwa mit dem Motiv des bellenden Hundes, das sich auffällig durch den Roman zieht, liefert der Roman auch eine Kritik an einer Gesellschaft, die in der Realität Grausamkeiten verursacht, aber von Künstlern nur Geschichten wünscht, die den von Kenji Yamamine ausführlich erläuterten Heile-Welt-Glauben bedienen. Wie Kenji hinterfragt auch Nakamura, ob es für die Gesellschaft und jeden einzelnen wirklich gut ist, nur das zu hören, was man sich wünscht. Somit ist dieser Roman auch ein Beitrag zur Frage nach dem Sinn und Zweck von Kunst.

    Der Autor ringt in seinem Werk im weitesten Sinn mit der Frage, wie man ein gutes Leben führen kann, denn Kenji ist verschiedensten bedrohlichen und zum Teil auch übernatürlichen Versuchungen ausgesetzt, die ihn dazu zwingen wollen, seine Ideale zu verraten bzw. ein sinnloses, qualvolles Leben zu führen. Was gibt ihm Halt? Diese Frage wird nicht abschließend beantwortet, es erfolgt aber eine intensive Auseinandersetzung mit den Werten des Christentums und allgemein reflektiert Nakamura darüber, welche Rolle Religion oder Sekten im Leben der Menschen spielen können. Letztendlich bleibt nur die Liebe, die sich ohne Zweifel in verschiedenen Kontexten immer wieder als eine positive Kraft erweist.

    Der Roman hat mich sehr nachdenklich gemacht, auch wenn es mich stellenweise gequält hat, den komplexen Aufbau nachzuvollziehen oder die grausamen Details auszuhalten.

  1. 3
    10. Mai 2024 

    anstrengende Lektüre

    Dieser Roman handelt von einer Trompete, der, im 2. Weltkrieg von einer Militärkapelle gespielt, übernatürliche Kräfte nachgesagt werden. Eingesetzt wurde sie in den Kampfhandlungen zwischen Japanern und Amerikanern vom Mitglied des Musikkorps und Soldaten Suzuki. Später, wir befinden uns in der heutigen Zeit mit Smartphones, globaler Vernetzung durch Internet, den sog. sozialen Medien mit Influenzern, Twitter etc. pp., ist der junge japanische Schriftsteller Kenji Yamamine in den Besitz der Trompete gelangt. Nachdem seine große Liebe Anh in Japan getötet wurde, ist er mit der Trompete nach Köln geflohen. Hier wird er von mysteriösen Gestalten verfolgt, die ihm die Trompete abjagen wollen.

    Soweit die grobe Rahmenhandlung des Romans. Das, was diesen fast 600 Seiten langen Roman ausmacht, ist das innerhalb dieses Romans Erzählte. Und das ist nicht wenig ! Der Leser erhält einen umfassenden Einblick in die japanische Geschichte, insbesondere in die Christenverfolgung in Japan, bis zurück ins 16. Jahrhundert, in die historischen Verbindungen Japans zu China, Frankreich, den Philippinen, Thailand, Vietnam, den USA. Thematisiert werden auch die Judenverfolgung in Nazideutschland, die Konzentrationslager in Dachau und Auschwitz.

    Auch aktuelle Gesellschaftskritik findet Eingang in diesen Roman. Die unheilvolle Macht der sog. sozialen Medien, von Fake News, der globale Rechtsruck der politischen Systeme, der Einfluss von Sekten, hier bleibt nichts unerwähnt. Schonungslos und teilweise sprachgewaltig werden die Grausamkeiten des Krieges mit Vergewaltigungen und Folter, die Atombombenabwürfe auf Nagasaki im 2. Weltkrieg, desgleichen die grausamen und brutalen Verfolgungen Andersgläubiger geschildert.

    Berichtet wird aus der Perspektive des jungen Kenji und schließlich aus der Perspektive des Musikers und Soldaten Suzuki. Es sind höchst interessante Gedanken und Erkenntnisse, die Nakamura hier liefert. Was mir jedoch gefehlt hat, war die Einbindung in den Gesamtzusammenhang des Erzählten. Ist es wirklich ein Roman, den ich gerade lese, habe ich mich gefragt oder sind es eher Essays, eingebettet in die Rahmenhandlung um die Trompete oder ist es ein Sachbuch über die Geschichte Japans ? Dieses Buch hat von allem etwas und das alles erschien mir nicht harmonisch zusammengefügt.

    So habe ich mich durch die Seiten gequält, angetrieben von der Neugier, ob, wie und wann das Geheimnis um die Trompete und ihre Verfolger endlich gelüftet wird. Dieses Spannungsmoment wurde leider sehr stark geschmälert durch die m. E. zähflüssig zu lesenden essayhaften Ausführungen zu den oben genannten Themen.

    Klar ist, dass es sich hier nicht um einen Wohlfühlroman handelt. Nakamura vermittelt einen ungeschönten und schonungslosen Blick sowohl auf die Zeit, in der wir leben, als auch auf die Menschheitsgeschichte. Doch das tun andere Werke der Literatur auch, ohne sich im Essayistischen und in der Wiedergabe historischer Fakten zu verzetteln. Hervorzuheben ist das literarische Talent des Autors, das u. a. in der Art, wie er wortgewaltig von der Gräueln des Krieges erzählt, wie ein funkelnder Diamant immer wieder aufblitzt.

    Ich vergebe 3 Sterne.

  1. Von Geschichtskittung und Leugnung

    Kurzmeinung: Ein Roman, der sticht und beißt!

    Dass die Welt nicht gerecht ist, obwohl wir uns alle dies so sehr wünschen, wissen wir alle. Und doch ist unsere Sehnsucht nach Gerechtigkeit so groß, dass wir zumindest in der Film- und Literaturbranche nach Geschichten gieren, die einen sogenannten Gerechte-Welt-Glauben bedienen. Auch in der bildenden Kunst ziehen wir Gemälde mit leuchtenden Sonnenblumen in aller Regel den Gemälden vor, die das blutige Schlachtgetümmel eines Krieges darstellen.

    Egal, wie grauslich eine Story ist, am Ende einer Story, die dem Gerechte-Welt-Glauben frönt, sind die Bösen tot oder hinter Gittern und die Guten leben in Glück und Wohlstand. Bravo. Und falls sie nicht im Wohlstand leben, sind sie dennoch glücklich und beklagen sich nie, geschweige denn, dass sie demonstrierend und protestierend auf die Straße gingen. Oder Pflastersteine würfen. Deswegen lieben die einen John Wayne und alte Cowboyfilme und die anderen Rosamunde-Pilcher-Filme. Ich mag Rosamunde-Pilcher-Filme, wenn es Rotwein dazu gibt und weil die Schauspieler immer schön sind und rank und schlank bis ins hohe Alter. Demenz, Krankheit, Morde, Gewalt, prekäre wirtschaftliche Verhältnisse, Kriege – nichts davon im Sonntagsfilm im ZDF. Ich darf den nicht angucken (fast nie), weil „der andere“ im Haushalt, gewohnheitsmäßig Tatort guckt. Mit Mord, Totschlag und allem, was dazu gehört. Cowboy- und Pilcherfilme haben keine Grauzonen. „Die Flucht“ hat. Die Helden sind nicht heldenhaft. Die Bösen sind nur Menschen.

    Die Filmbranche und die Verlagshäuser wissen genau, wie sehr wir die Seelchenstreichelprodukte brauchen und verdienen mit den sogenannten Lädchenbüchern (Das kleine Café am Strand) gutes Geld. Es ist zwar so, dass im kleinen Café am Strand auch tüchtig geackert werden muss, aber dieses Detail ist zu vernachlässigen. Wenn genug verdient wurde, können die Verlagshäuser auch die unangenehmen Romane auflegen. Und „Die Flucht“ ist so einer, ein unangenehmer Roman, bei dem man ab und zu speien möchte, weil, verflixt und zugenäht – was nimmt sich der Autor heraus? fiese, unerträgliche Realität abgebildet wird.

    Der Autor weiß, was er tut, denn er fragt im Roman zum wiederholten Male, was denn die Aufgabe von Literatur sei und „ob man den Menschen einen Gefallen tut, wenn man ihnen die Geschichten gibt, die sie sich wünschen“ (Zitat). Nein, natürlich nicht, sie verblöden. Aber dabei fühlen sie sich wohl und wenn sie sich wohl fühlen, konsumieren sie mehr (Rotwein, Satzstangen, Ledergarnituren). Nakamura gibt dir nicht, was du willst, da kannst du sicher sein; es fängt schon beim magischen Realismus an. Obwohl, den mögen ja manche! Ich aber nicht. Andererseits, magischer Realimus stört mich auch nicht. Alles, was ich im Roman nicht verstehe, ist vermutlich auf den magischen Realismus zurückzuführen.

    Zur Handlung – endlich!
    Um eine Trompete, die in Manila wiedergefunden wird und wahrscheinlich einem japanischen Musiker namens Suzuki gehörte, ranken sich Legenden. Sie soll im Zweiten Weltkrieg von ihm gespielt worden sind und durch die Magie ihres Klanges die japanischen Truppen dazu befähigt haben, mit einer überlegenen amerikanischen Einheit fertig zu werden. Durch Zufall gelangt sie in die Hände eines japanischen Enthüllungsjournalisten namens Kenji Yamamine, der sie versteckt hält und gegen alle Aneignungsversuche magischer und weltlicher Kräfte unter Einsatz seines Lebens beschützt, um sie den Erben des ursprünglichen Besitzers zurückzugeben. Dabei geht er drauf. Geister, (vermutlich) Untote, Sektenführer und Regierung/en jagen der Trompete nach und jagen Kenji Yamamime in den Untergrund. Das ist die Rahmenhandlung, die sich spannender anhört als sie ist. Zur Zeit und zur Unzeit bellende Hunde künden jeweils Unheil an, Bedrohungen werfen Schatten. Die Magie ist jedoch zu vernachlässigen, sie stört nicht und sie puscht nicht.

    Was puscht ist die Füllung, die Nakamura seinem Roman verpasst: die gesamten unaufgearbeiteten Gräuel der japanischen Geschichte nämlich, dabei ist Nakamura immer wieder auch über Japan hinausgreifend, wenn er die Umweltzerstörung kritisiert, wirtschaftliche und emotionale Ausbeutung der Masse durch die Mächtigen. Aber auch die Geisteshaltung des Einzelnen, der sich nicht engagiert. Eigentlich, meint er, ermöglichen die Guten durch das Füßestillhalten das Böse. Und plötzlich ist sein Roman brennend aktuell!

    Nakamura beschreibt bis ins letzte ekelhafte Detail die Folterungen, die im Rahmen der Christenverfolgung, besonders in den Landstrichen um Urakami, massenweise vorgenommen wurden. Denunziation. Missgunst. Fremdenfeindlichkeit. Unwissenheit - die Quellen der Grausamkeiten. Er beschreibt Japans Rolle im Zweiten Weltkrieg, er beschreibt Verbrechen gegen die Menschlichkeit, Bestialität, aus der Kontrolle geratene männliche Sexualität. Er beschreibt die Auswirkungen des Abwurfs der Atombomben über Hiroshima und Nagasaki. Der Autor will nicht zulassen, dass vergessen wird und weggeschaut und die Geschichte verfälscht wird. Das sind die großartigen Elemente dieses Romans!

    Immer wieder wird der Autor aktuell, man hält den Atem an, wenn sein Journalist einen Roman mit dem Titel „Menschen die am Krieg verdienen“ auf den Markt bringt und dafür Morddrohungen erhält. Er benennt den Rechtsruck (nicht nur) der japanischen Regierung und die Ohnmacht derer, die dagegen zu steuern versuchen. Es ist hoffnungslos, sagt er. Auch die Influencer werden am Rande mit abgewatscht.

    Bei all dem blitzt immer wieder Humor durch, zum Beispiel, wenn Nakamura die Hobbyrezensenten abwatscht „Ich wollte lieber etwas Unbeschwertes lesen“ schreiben nämlich die Rezensenten, die das Buch zerreißen, das der Protagonist Yamamine schrieb“ oder „ab der Mitte hat es mich frustriert“, Nakamura lässt Yamamine kontern: „Sollte ich mich als Autor dafür bedanken, dass er (der Leser) mein Buch zur Hälfte gelesen hat?“ Eine Brise Humor lockert auf und ist dringend notwendig gewesen!
    Ganz ehrlich? Manchmal hat mich der Roman „Die Flucht“ tatsächlich frustriert. Denn es ist ein Roman, der Kafkas Anspruch an die Literatur standhält „Ich glaube, man sollte überhaupt nur solche Bücher lesen, die einen beißen und stechen. Wenn das Buch, das wir lesen, uns nicht mit einem Faustschlag auf den Schädel weckt, wozu lesen wir dann das Buch?“

    „Die Flucht“ ist ein solcher unangenehmer Roman, der beißt und sticht. Es ist ein ungeheurer Roman. Aber es ist auch ein verschachtelter Roman, mit Story in Story in Story, also Matruschkatechnik. Das mag ich eigentlich gar nicht. Nicht leicht zu lesen. Und kein Roman, der den „Gerechte-Welt-Glauben bedient. Wenige sprachliche Schwächen schreibe ich dem Lektorat zu. Lektorate sind in Deutschland besessen von Luftschnappern (er/sie/es holte tief Luft). Wann wird diese Obsession enden? Dennoch kann ich nicht umhin zu befinden,

    Fazit: Dieser Roman ist Weltliteratur!

    Kategorie: Anspruchsvoll. Weltliteratur
    Verlag, Diogenes, 2024