Der ehrliche Finder: Roman
Wie entsteht eine Freundschaft? Üblicherweise durch Gemeinsamkeiten! Und die haben der 9jährige Jimmy und der 11jährige Tristan im (fiktiven) Bovenmeer, Belgien – beide machen eine schwere Zeit durch. Deshalb setzte die Lehrerin auch beide vor gut einem Jahr zusammen, als Tristan neu in der Klasse dazukommt.
Jimmys Vater hatte einen Monat vorher die Familie verlassen, mit ‚Dreck am Stecken‘, und er ruft auch nie an. Tristan hat eine Flucht aus dem Nordwesten des Kosovo hinter sich, mit viel Strapazen und dramatischen Szenen.
Der große Unterschied bei den beiden: Tristan hat 7 Geschwister (das jüngste noch ein Säugling) – der starke Verbund der Familie ist intensiv zu spüren, am deutlichsten bei der Übernachtung bei ihnen! Jimmy ist Einzelkind und seine Mutter mit sich selbst beschäftigt. Er ist dadurch auch zum Eigenbrötler geworden und geht auf im Sammeln der Flippos (kleine bunte Plastikscheiben mit diversen Themen bedruckt, und in Chipstüten versteckt).
Wir lesen, wie Jimmy sich in dieser Freundschaft engagiert, aber auch wie unterschiedlich die Dorfgemeinschaft auf die geflüchtete Kosovo-Familie reagiert. Als diese den Ausweisungsbescheid bekommt, hecken Tristan und seine 12jährige Schwester Jetmira einen Plan aus, in dem Jimmy eine wichtige Rolle spielt. Sogar eine Prüfung muss er dafür vor beiden ablegen.
Von diesem Zeitpunkt konnte ich das Buch überhaupt nicht mehr aus der Hand legen, so spannend war es! Das Ende hat mich sehr aufgewühlt und es wird mich noch eine ganze Weile beschäftigen (noch dazu, weil dieser Roman von einer wahren Geschichte inspiriert wurde). Ich möchte dieses kurze, aber inhaltsschwere Werk – von Helga van Beuningen übersetzt - am liebsten allen ans Herz drücken. Ich kann es mir auch sehr gut als Schullektüre vorstellen, unsere Enkelkinder bekommen es auf jeden Fall bei nächster Gelegenheit als Geschenk. Wenn die Möglichkeit bestünde, würde ich auch gerne mehr als die möglichen 5 Rezensions-Sterne vergeben!
Lize Spit „ Der ehrliche Finder“ ( 2023/2024)
Lize Spit ist eine flämische Autorin, die mit ihren ersten beiden Romanen nicht nur in ihrer Heimat sehr erfolgreich war. Beide sind sehr umfangreich und düster. Ihr neuester Roman fällt aus der Reihe, ist er doch im Gegensatz sehr schmal und sehr warmherzig. Der geringe Umfang liegt daran, dass „ Der ehrliche Finder“ eine Auftragsarbeit war. Lize Spit sollte das Buch zur alljährlichen Bücherwoche 2023 schreiben. Das sog.„ Boekenweekgeschenk“ ( Bücherwochengeschenk) wird während dieser Woche jedes Jahr im März von niederländischen Buchhändlern an ihre Kunden verschenkt. Meist handelt es sich dabei um eine Novelle.
Und diese Gattungsbezeichnung passt hier, auch wenn der Verlag dem Buch das Etikett „ Roman“ gegeben hat.
Die Geschichte spielt in den 1990er Jahren in der fiktiven Ortschaft Bovenmeer in Belgien. Hier wohnt der neunjährige Jimmy, ein Einzelgänger und Außenseiter, allein mit seiner Mutter. Seine Familie hat einen schweren Stand im Dorf, denn der Vater, ein Steuerberater, hat einige Menschen hier mit dubiosen Geschäften um ihr Geld gebracht. Jimmy ist sensibel und klug, ein eifriger Sammler und Sachensucher. Sein ganzer Stolz ist seine Flippo-Sammlung. Flippos sind kleine Scheiben mit Sammelbildern, die in Chipstüten zu finden sind.
Kurz nachdem nun sein Vater verschwunden ist, tritt Tristan Ibrahimi in Jimmys Leben. Der Elfjährige ist mit seinen Eltern und seinen sieben Geschwistern aus dem Kosovo geflohen und die Familie hat hier nun eine Unterkunft gefunden. Jimmy soll sich auf Wunsch der Lehrerin um den fremden Jungen kümmern; eine Aufgabe, die er gerne erfüllt. Endlich ist er nicht mehr allein. Er hilft Tristan nicht nur beim Erlernen der Sprache und den Hausaufgaben, sondern die beiden werden richtige Freunde. Als größten Freundschaftsbeweis legt Jimmy sogar ein eigenes Flippo-Sammelalbum für Tristan an. Das will er ihm feierlich überreichen, als er zum Übernachten bei Tristan eingeladen ist. Aber dann drängt sich ein anderes Ereignis in den Vordergrund. Die Ibrahimis sollen abgeschoben werden. Um das zu verhindern, schmieden Tristan und seine zwölfjährige Schwester Jetmira einen gewagten Plan, in dem Jimmy eine nicht unerhebliche, aber gefährliche Rolle zukommt. Das ist eine Herausforderung für ihn, doch um der Freundschaft willen bekämpft er seine inneren Zweifel und Ängste.
Sehr einfühlsam und konsequent aus der Perspektive des neunjährigen Jimmy beschreibt die Autorin die Geschehnisse. Die Einsamkeit des Jungen ist deutlich spürbar. Auch, wie sehr ihn die Gemeinschaft dieser Großfamilie anzieht. Hier erlebt er einen Zusammenhalt und eine Wärme, wie er sie nicht kennt.
Dafür bringt Jimmy viel Verständnis auf, wenn sein älterer Freund von „ inneren Erdbeben“ erschüttert wird. Wenn Tristan plötzlich Angst bekommt vor lauten Geräuschen, vor Uniformen, vor dem Meer, dann beruhigt Jimmy ihn, ohne nachzufragen. Schließlich weiß er, dass die Familie Schlimmes erlebt hat auf ihrer langen Flucht. Die Lehrerin hat, sobald Tristan sich verständlich machen konnte, der ganzen Klasse den Fluchtweg auf einer Landkarte aufgezeigt. „ Kosovo lag in Luftlinie ungefähr zweitausend Kilometer von Belgien entfernt, aber sie waren keine Vögel, sie hatten Grenzposten passieren müssen, zweimal kehrte der Zeigestock von Italien auf dem Landweg nach Albanien zurück, zweimal waren sie nach der lebensgefährlichen Überquerung des Meeres in einen Bus nach Albanien gesetzt worden. Beim dritten Mal hatten sie es geschafft, obwohl sie einen halben Kilometer vor der Küste aus dem Boot gestoßen worden waren. Sie waren auch keine Fische, ein Kind der Familie, mit der sie das kleine Boot teilten, hatte sich nicht bis ans Ufer retten können.“
Die Familie aus dem Kosovo ist im Dorf freundlich aufgenommen worden. Freigebig wurden alle zum „ Ausmustern bestimmten Sachen -Matratzen, Elektrogeräte, Bettwäsche, Spielzeug, Bücher, Instrumente, Trampoline, Babysachen, Werkzeuge - lieber den Ibrahimis“ geschenkt, statt beim Recyclinghof abgeliefert. Die Wohnung dort ist ein Abenteuerspielplatz für die Kinder.
Der Roman beschreibt eine Freundschaft zwischen Kindern vor dem Hintergrund großer Probleme. Dabei schafft es die Autorin, nicht in Klischees zu verfallen oder ins Sentimentale abzurutschen. Was Flucht und Integration bedeutet, wird an konkreten Figuren nachvollziehbar dargestellt.
Eine packende und bewegende Lektüre, die auch für ältere Kinder und Jugendliche geeignet ist, ja, sich als aktuelle Schullektüre anbietet.
Wie es im Nachwort heißt, wurde die Autorin von einer wahren Geschichte inspiriert. Eine zehnköpfige Familie aus dem Kosovo, die nach ihrer Flucht in einem belgischen Dorf unterkam, sollte wieder ausgewiesen werden. Doch nach massivem Protest des Dorfes erhielten sie Asyl.
Was ich zunächst nicht wusste: Dieses schmale Büchlein von Lize Spit wurde in den Niederlanden in der boekenweek (Buchwoche) als Buchgeschenk zu einem gekauften Buch dazu gegeben. De boekenweek dauert neun Tage und findet jedes Jahr im März statt. Beim Kauf von mindestens 15 Euro an niederländischsprachiger Lektüre erhält man also ein speziell für diese boekenweek geschriebenes Buch. Diese Ehre, dieses Buchgeschenk schreiben zu dürfen, wurde also in diesem Jahr Lize Spit zuteil.
Beim Blauen Sofa in der Bertelsmann Repräsentanz in Berlin, Anfang März 2024, durfte ich nun diese bezaubernde und charmante Autorin persönlich kennenlernen und sie hat mir dieses Buch signiert. Mit einer ganz speziellen Widmung, die ich übersetzen muss. Ich verstehe das so, dass ich den Mansch vom Papri-Club unbedingt probieren soll. Und manchmal auch „Ja“ zu Dingen sagen soll, wo ich eigentlich „Nein“ sagen würde. Mal sehen …
Im „ehrlichen Finder“ geht es um die Freundschaft zweier Jungen und auch um das (schändliche) Ausnutzen des anderen unter der Vorspiegelung der Freundschaft. Und es zeigt sich auch, dass bei verschiedenen Nationalitäten eben unterschiedliche Werte zählen. Der kluge und einsame Jimmy kümmert sich aufopferungsvoll um den Migranten Tristan, indem er ihm nicht nur die Sprache beizubringen versucht, sondern auch die üblichen Verhaltensweisen. Jimmy gefällt auch die riesengroße Familie von Tristan. Denn er selbst hat keine Geschwister und sein Vater verschwand spurlos, nachdem er das halbe Dorf finanziell betrogen hatte. Kein guter Start für den Sohn in der Schule.
Was nun weiterhin geschieht, kann hier nicht verraten werden, nur so viel: Jimmys Gaben weiß man nicht zu schätzen und was man von ihm verlangt, ist viel, viel zu viel.
Lize Spit hat es verstanden, den wenigen Seiten Leben einzuhauchen und eine Geschichte aufzubauen, die es in sich hat. Und ja, manchmal braucht es viel Mut, um ein Feigling zu sein. (Frei zitiert von S. 109.) Warum das Buch aber diesen Titel trägt, das hat sich mir leider nicht erschlossen.
Das Cover bezieht sich auf Jimmys Flipposammlung. S. 32: „Von der Time-Serie und den Pop-up-Monstern hatte er noch am wenigsten. Diese beiden, die aus insgesamt lediglich vierzig Stück bestanden, erwischte man am schwersten.“ Deshalb also sind vierzig Kreise auf dem Cover. Und die Flippos findet man in Kartoffelchips-Tüten und natürlich soll damit der Verkauf der Ware angekurbelt werden. Gab es zuvor offensichtlich schon in Korea, Griechenland, England etc. aber in Deutschland (leider) nicht. Aus den Chips kann man einen wunderbaren Mansch herstellen, den Jimmy und Tristan im Geheimen genießen. In ihrem Papri-Club.
Fazit: Ich habe alle drei Bücher dieser fantastischen jungen Autorin gelesen und kann sie nur wärmstens empfehlen. Ihre Themen sind sehr unterschiedlich, nichts ist aufgewärmt und sie weiß genau, wovon sie schreibt und fühlt sich extrem in ihre Figuren ein. ****
Jimmy geht in die dritte Klasse und ist ein einsamer, fantasiebegabter Junge. Seine Eltern haben sich gerade erst scheiden lassen. Der Vater ist auf und davon, die Mutter nimmt sich wenig Zeit für ihren Sohn. Jimmy hat sich eine eigene innere Welt geschaffen. Er sammelt mit leidenschaftlicher Hingabe Flippo Sammelbilder aus Chipstüten, imaginiert eigene Heldengeschichten, er ist überdurchschnittlich klug und dabei leider ein Außenseiter. Letzteres ändert sich, als Tristan Ibrahimi in seine Klasse kommt. Mit elf Jahren ist Tristan zwar einiges älter, doch hat er mit seiner Familie eine tragische Flucht aus dem Kosovo hinter sich und soll nun erst einmal zur Ruhe kommen sowie die Sprache erlernen. Zu diesem Zweck wird ihm Jimmy an die Seite gestellt, der sich dieser Aufgabe auch engagiert und ideenreich widmet. Die beiden ungleichen Jungen werden dicke Freunde. Jimmy genießt Zusammenhalt und Gemeinschaft in Tristans großer Familie, in der jeder seine Aufgaben hat und gebraucht wird. Er freut sich riesig, als er zum ersten Mal zu einer Übernachtung eingeladen wird, die eine spannende Entwicklung nimmt.
Die Figuren werden mit großer Unmittelbarkeit vorgestellt, überwiegend aus der Perspektive Jimmys. Schnell sympathisiert man mit dem ruhigen Jungen, der fast verzweifelt auf einen Anruf seines Vaters wartet. Man gönnt ihm den neuen Freund von Herzen, der seine innere Vereinsamung durchbricht. Doch auch Tristan hat seine Geheimnisse, an denen man nicht rühren darf. Er wurde stark traumatisiert, so dass ihn plötzlich auftretende Ängste lähmen können und sein Verhalten nicht immer nachvollziehbar machen. Man liest den kleinen Roman über weite Strecken wie ein spannendes Jugendbuch, bis die reale Erwachsenenwelt ins Geschehen einbricht. Familie Ibrahimi ist nämlich von Abschiebung bedroht.
Ohne belehrende Botschaften konstruiert Lize Spit einen bewegenden Plot, der aus völlig ruhigen Fahrwassern dramatische Spannung entwickelt. Anonyme Flüchtlinge bekommen ein Gesicht und eine Identität, die Autorin zeigt deren Schicksal exemplarisch ohne Dramatisierung oder Beschönigung. Tristan möchte seine Chance nutzen, er möchte unbedingt in Belgien bleiben und ist dafür bereit, auch Risiken einzugehen.
Am Ende des Romans muss man zweifellos nachdenken. Über Familie, Freundschaft, über Asylpolitik, Integration - vor allem aber über den Ausgang dieser Geschichte, die einiges an Interpretationsspielraum offenlässt. Ich kann mir das Buch wunderbar als Schullektüre vorstellen, die schon aufgrund ihrer Kürze und der gezeigten kindlichen Lebensrealität bestimmt gern gelesen wird. Gut und Böse verschwimmen bewusst, der Bezug zum Titel hat eine Doppeldeutigkeit. Helga von Beuningen hat den Roman hervorragend aus dem Niederländischen übersetzt.
All Age Leseempfehlung!
Unfassbar intensive Erzählung - voller Dichte und Emotionen
Das Buch war ein echtes Highlight und ich bin nach der Lektüre noch immer ganz angespannt. Es war mein erstes Buch von Lize Spit und ich war unschlüssig, ob eine Kurzgeschichte mich emotional wirklich ergreifen kann. Naja, und wie sie das konnte! Die Autorin hat ein unglaubliches Talent für sprachliche Feinheiten und liefert mit „Der ehrliche Finder“ ein so dichtes Werk, dass es lange nachhallt. Die Geschichte ist von einer wahren Begebenheit aus Belgien inspiriert und ich weiß nicht, ob es das jetzt besser oder schlimmer macht.. <3
Wir erleben eine Geschichte über Freundschaft aus der Sicht von Jimmy, der nicht erst durch die Scheidung seiner Eltern viel Einsamkeit ertragen muss. Mobbing in der Schule ist an der Tagesordnung und so flieht er in seinen Job als „ehrlicher Finder“. In diesem sammelt er mit leidenschaftlicher Präzision Flippos - kleine Sammelmarken aus Chipspackungen. Dann tritt aber Tristan in sein Leben, der mit seiner Familie vor dem Krieg im Kosovo geflohen ist und eine traumatische Fluchterfahrung hinter sich hat. Als der Abschiebebescheid eintrifft, schmiedet Tristan mit seiner Schwester einen Plan, der die Abschiebung verhindern soll - und Jimmy soll dabei eine entscheidende Rolle spielen.
Lize Spit schafft es für mich phänomenal, die Sprache des 10-jährigen Jimmys in ihrer kindlichen Zugewandtheit abzubilden. Der Text ist damit leicht zugänglich und die Lesenden können gar nicht umhin, in die Sichtweise des Protagonisten einzutauchen. Seine Sicht auf die Welt ist so kindlich optimistisch wie ernsthaft, an keiner Stelle wirken seine Schilderungen lächerlich. Die Traumata der Familie Ibrahimi werden an wenigen Stellen angeschnitten und obwohl das eher nebenbei passiert, trifft es eine*n ins Mark!
Die Geschichte ist eine perfekte Balance zwischen Zartheit sowie bedingungsloser Liebe und einer Dunkelheit rund um Hass gegen Geflüchtete, Traumata und Einsamkeit. Sie hat mich emotional komplett auf links gedreht und wirkt sehr lang nach. Das Ende hat mir das Herz herausgerissen und ich wollte vor lauter Unrecht schreien. </3
Lest dieses Buch mit seinen zarten 125 Seiten, mehr kann ich echt nicht sagen.