Das Damengambit
Beth Harmon ist acht Jahre alt, als sie im Waisenhaus das Schachspielen vom Hausmeister der Einrichtung erlernt. Beth entwickelt ein unglaubliches Talent für das Spiel der Könige. Für sie ist das Spiel ein Ausweg aus den prekären Verhältnissen, in denen sie aufwuchs. Mit der Zeit wird sie immer erfolgreicher, gewinnt Turnier um Turnier und gerät in einen toxischen Kreislauf von Obsession, Sucht und Selbstzerstörung.
Das Damengambit ist eine spezielle Eröffnung im Schachspiel. Das habe ich gelernt bei der Lektüre des gleichnamigen Romans des amerikanischen Autors Walter Tevis. Die Serie auf Netflix war schon in aller Munde, als ich mich dem Buch zuwandte. Ich wollte das Geheimnis um den Hype dieser Serie auf den Grund gehen. Wie könnte das besser gehen als die Vorlage dazu, nämlich das Buch zu lesen.
Ich habe keine Ahnung von Schach und war sehr im Zweifel, ob ich mit diesem Thema überhaupt etwas anzufangen weiß. Doch die Geschichte von Beth Harmon, die Walter Tevis hier erzählt, entwickelt so einen Sog, dem ich mich einfach nicht entziehen konnte.
„König, Springer, Bauer. Es herrschten solche Spannungen auf dem Brett…“
Da haben wir dieses einsame Kind im Waisenhaus, ohne Eltern, ohne Perspektive, ruhig gestellt durch die regelmäßige Gabe von Tranquilizern. Dieses Kind wird zu einer Ausnahmeerscheinung im internationalen Geschehen der Schachturniere. Das Kind wird zur jungen Frau, die Sucht neben den „little helpers“ wird verstärkt durch den unbändigen Drang zur Perfektion, dem Willen zu siegen.
Walter Tevis zeigt uns hier eine so eindrückliche Charakterstudie. Der Roman wurde schon in den 1980ern geschrieben. Kaum jemand kannte den Autor, obwohl er unter anderem für die Vorlage für den Film „Haie der Großstadt“ (verfilmt mit Paul Newman) und „The Man Who Fell To Earth" (verfilmt mit David Bowie) verantwortlich zeichnet.
Beth Harmons Lebensgeschichte wirkt so authentisch, als ob es sich um eine Biografie handeln könnte. Die Geschichte ist allerdings fiktiv, zeigt aber Merkmale der Lebensgeschichte des Autors.
„Sie hörte nicht einmal das Ticken der Uhr. Sie ließ ihren Verstand vollkommen still werden.“
Ich habe diesen Roman verschlungen, kein Nebengeräusch konnte mich davon ablenken. Meine eigenen Bilder im Kopf dazu genügen mir vollkommen. Die Verfilmung dazu kann gar nicht daran heranreichen. Bis dato habe ich daher darauf verzichtet, mir die Serie anzuschauen.
Unter dem Originaltitel „The Queen´s Gambit“ erschien der Roman bereits 1983, die deutsche Übersetzung von Gerhard Meier haben wir dem Diogenes Verlag zu verdanken. Bestimmt hat die gleichnamige, sehr erfolgreiche Netflix-Serie dazu beigetragen, dass der faszinierende Roman nicht in Vergessenheit geraten ist.
Im Mittelpunkt steht die zu Beginn 8-jährige Waise Beth Harmon, die seit dem Unfalltod ihrer Mutter im Kinderheim lebt. Dort legt man Wert auf Gehorsam und Disziplin, Menschlichkeit ist rar gesät, mit Pillen stellt man die Kinder ruhig. Beth fühlt sich vom Schachspiel des Hausmeisters magisch angezogen. Sie schleicht sich so oft wie möglich zu ihm in den Keller, wo sie sich zunächst durch bloßes Zusehen die Regeln selbst beibringt, bis der verblüffte Mr. Shaibel ihr Talent anerkennt und sie weiter fördert.
Beth flüchtet sich mit Hilfe des königlichen Spiels aus ihrem tristen Dasein. Sie ist in der Lage, unterschiedliche Partien allein in ihrer Fantasie durchzuspielen und abzuspeichern. Der Heimleiterin sind alle Freuden und Extravaganzen ein Dorn im Auge. Deshalb wird Beth alsbald das Schachspiel verboten. Im Alter von 13 Jahren hat sie das Glück, von den Eheleuten Wheatley adoptiert zu werden, ihre einzige Freundin Jolene verliert sie aus den Augen. Der neue Vater ist verschlossen und nie zu Hause, die Adoptivmutter kränklich und psychisch labil. Noch immer bekommt Beth wenig Nestwärme, kann aber fortan ihrer Schachleidenschaft frönen. Ihr enormes Talent lässt sie bei ersten Turnieren brillieren, schnell wird sie Landesmeisterin von Kentucky. Die Medien interessieren sich für das junge Schachgenie, das in eine Männerdomäne einbricht. Beth hat ehrgeizige Ziele: sie möchte US-Meisterin und später Weltmeisterin werden. Um Letzteres zu erreichen, müsste sie gegen den amtierenden russischen Weltmeister Vasily Borgov antreten. Ein weiter Weg beginnt, wir begleiten Beth über insgesamt zehn Jahre.
Der Roman beginnt mit der märchenhaften Geschichte vom armen Waisenkind, das mit Talent, Ausdauer und Fleiß allen Widrigkeiten trotzen und am Schachhimmel zu einem leuchtenden Stern aufsteigen könnte. Derlei Geschichten sind aus der Welt des Sports weithin bekannt und bergen das Risiko, ins Kitschige oder Unglaubwürdige abzudriften. Walter Tevis gelingt es jedoch, diese Klippe zu umschiffen, indem er Spannungsfelder zeigt und Nebenhandlungen einfügt, die der Protagonistin Authentizität verleihen. So wird Beth durch die Adoption nicht all ihre Probleme los. Die Unterstützung der neuen Familie währt nicht lange. Beth muss einen erneuten Verlust verwinden und sich Allianzen suchen, um ihre Erfolgschancen zu optimieren. Als Einzelgängerin fällt ihr das nicht leicht, die angelernte Flucht in Suchtmittel stellt eine latente Gefahr dar. Es wird ein Weg voller Höhen und Tiefen beschrieben, der weit über Siege oder Niederlagen im Schach hinausgeht. Der Roman beschäftigt sich mit der faszinierenden Entwicklungsgeschichte einer jungen Frau, die sich lange nur über ihre Passion definiert, sich für hässlich hält, mit Misserfolgen schlecht umgehen kann und schließlich sogar daran zu zerbrechen droht. Tevis verharrt nicht lange an den Tiefpunkten, er erzählt die Geschichte im Fluss, wechselt die Stimmungen, so dass keine Schwermut aufkommen kann. Das Damengambit ist kein trauriger Roman.
Kann man das Buch lesen, ohne Kenntnisse vom Schach zu haben? Ein klares Ja. Natürlich werden die einzelnen Spielzüge und Eröffnungen während der Turniere detailliert beschrieben. Als absoluter Laie habe ich nicht alles verstehen können. Dem Autor gelingt es trotzdem, keine Langeweile aufkommen zu lassen. Er kombiniert Fachjargon mit Atmosphäre und Spannung, beschreibt die Szenerie, lässt den Leser an taktischen Überlegungen, Gefühlen und Reaktionen seiner Figuren teilhaben, so dass man stets weiß, worum es im jeweiligen Stadium der Partie geht, ohne die konkreten Spielzüge nachvollziehen zu müssen.
Mir hat es Spaß gemacht, einiges über die Komplexität des königlichen Spiels zu erfahren. Es ist enorm akribische Vorbereitung nötig, um es im Schach zur Meisterschaft zu bringen. Wie in jeder Spitzendisziplin sind individuelle Fähigkeiten wie Talent, Vorstellungskraft, Konzentration und Nervenstärke das Eine – ohne Fleiß, Ausdauer und unermüdliche Arbeit kann sich aber kein dauerhafter Erfolg einstellen. Die Schachwelt scheint darüber hinaus männlich dominiert zu sein, weibliche Spielerinnen wie Beth haben einen schweren Stand, werden kritisch beäugt und müssen sich immer wieder beweisen. Man muss allerdings bedenken, dass der Roman schon einige Jahrzehnte alt ist.
Viele zeitlose Themen werden harmonisch und stimmig in diesen Bildungsroman eingewoben: Schattenseiten im Spitzensport, Verlust und Tod, Freundschaft, Liebe und Sexualität, Missbrauch von Kindern in Heimen, Tabletten- und Alkoholsucht, unterschiedliche Arten von Diskriminierung und einige mehr. Beth ist eine starke, vielschichtige Protagonistin. Sie ist keine reine Heldin, sie entwickelt sich und unterläuft einen sichtbaren Reifungsprozess. Auch die Nebencharaktere sind mehrdimensional angelegt. Die schachspielende Zunft scheint aus eigenwilligen Persönlichkeiten zu bestehen, die mit Nähe schlecht umgehen können und gerne als Einzelgänger auftreten. Ob das wirklich so ist?
Ein Roman, den ich wirklich gerne und in Rekordzeit gelesen habe und zu dem ich mir ergänzend demnächst bestimmt noch die Netflix-Serie anschauen werde.
Große Empfehlung!
Schach dem Herrn
Beth Harmon wächst in einem Waisenhaus auf. dort hat sie es nicht leicht. Die Lehrer sind streng und bei ihren Mitschülern gilt sie als unsportliche Streberin. Ein Trost sind nur die grünen Pillen, die sogar schon an die achtjährigen verteilt werden. Jedenfalls bis das Jugendamt dahinter kommt und es nur noch Vitamintabletten gibt. Ein kleiner Lichtblick sind die Stunden, die sie mit dem älteren Hausmeister verbringen kann. Er bringt ihr das Schachspiel bei und bald merkt Beth, dies ist genau die Ablenkung, die ihr eine kleine Flucht erlaubt. Als Beth fast schon die Hoffnung aufgegeben hat, wird sie von einem älteren Ehepaar adoptiert wird.
Ungewöhnlich, dass ein kleines Mädchen ans Schach spielen kommt und dieses Spiel nach kurzer so gut beherrscht, dass es auffällt. Ihre Lehrer angefangen von dem zurückhaltenden und wortkargen Mr. Shaibel werden nach und nach besser. Beth saugt sämtliche Informationen, die sie über das Spiel und verschiedene Schachpartien bekommen kann, förmlich auf. Und noch ist sie ein Kind. Nach ihrer Adoption durch die Wheatleys entdeckt Beth, dass die Möglichkeit besteht, auf Schachturnieren zu spielen. Ob das etwas für sie sein könnte? Als Mrs. Wheatley in finanzielle Schwierigkeiten gerät, bietet sich für Beth sogar die Möglichkeit, zur Verbesserung der Lage beizutragen.
Gerade die Geschichte der frühen Kindheit und Jugend von Beth Harmon zieht einen in ihren Bann. Wie das junge Mädchen durch das Schachspiel sich selbst entdeckt und dass es noch eine andere Welt gibt da draußen, das ist toll beschrieben. Zwar verliert das Ganze etwas an Fahrt als Beth beginnt, gegen stärkere und renommoriertere Schachspieler anzutreten. Wenn man selbst nicht Schach spielt, geraten die Beschreibungen von Zügen und Partien etwas weniger spannend. Dennoch bleibt die Darstellung von Beths Entwicklung zu einem besonderen Menschen und einer außerordentlichen Schachspielerin bemerkenswert und mit den Höhen und Tiefen von Beths Entwicklung hat man ein Bild von einem Mädchen wie aus dem Leben.