Chor der Pilze
Klappentext:
„Natürlich spricht sie die neue Sprache, auch wenn keiner in der Familie das glaubt. Dabei könnte sie, wenn sie wollte, im Kopfstand Shakespeare zitieren, bis sie Nasenbluten bekommt, behauptet die alte Dame. Sie ist vor zwanzig Jahren aus Japan eingewandert, sitzt unverrückbar im Flur ihres kanadischen Hauses und beobachtet alles. Als sie ins Heim soll, macht sie sich mitten in einem Schneesturm davon, geht mit einem jungen Trucker, der sie aufliest, auf einen Roadtrip. Niemand weiß, wo sie sich aufhält – außer ihrer Enkelin Muriel, eine junge, schon in dem neuen Land geborene Frau, mit der die Großmutter in ständiger telepathischer Verbindung steht. Man erzählt sich drei Leben, ein altes, ein neues, ein mögliches, doppelt gespiegelt und in allen Facetten veränderlich. Ein erzählerisches Meisterstück über kulturelle Identität, Feminismus, Rassismus, und eine Hommage an die Heimat, die wir alle im Kopf haben: unsere Sprache. Mit Passagen von betörender Schönheit.“
Hiromi Goto hat mich mit diesem Buch sehr tief berührt. Die Geschichte der alten Dame ist so voller Gefühl, voller zarter Worte, voller Beobachtung und voller Ehrfurcht. Man ist als Leser sehr neugierig und verfolgt gebannt die Geschichte um ihr Leben. Goto‘s Sprachstil ist so zart und dennoch so voller Kraft, zeigt so viele gedankliche Denkweisen auf, bringt dem Leser zum nachdenken und vor allem zeigt Goto mit enormer Stärke die Kraft der Frauen. Die Frage nach Heimat ist hier der Tenor und Muriel und ihre Großmutter haben beide besondere und verschiedene Antworten darauf - genau wie jeder von uns, aber dennoch meinen wir alle das Gleiche. „Wo gehöre ich hin? Darf ich hier sein? Was soll ich hier? Warum bin ich hier?“ sind nur ein paar Fragen die aufkommen wenn man diese Geschichte inhaliert. Man liest sie nicht einfach weg, man stellt sich diese Fragen selbst und versucht eine Antwort mit der eigenen Selbstreflexion zu finden.
Diese Geschichte ist wunderbar philosophisch und hallt unheimlich nach - ich bin sehr begeistert und dankbar, diese Geschichte gelesen zu haben! 5 von 5 Sterne.
Von der heilsamen Kraft des Erzählens und passender Speisen
„Chor der Pilze“ hat mich auf ganz besondere Weise berührt. Es fällt mir schwer, in Worte zu fassen, warum mir dieser Roman so gut gefallen hat. Er hat irgendetwas tief in mir zum Klingen gebracht und trotz schwergewichtiger Themen, die sich um Heimat, Identität, Migrationserfahrung, Ankommen und Aufbrechen sowie Rassismus drehen, hat der Text etwas Hoffnungsvolles und Warmes, besticht durch einen positiven Blick auf die Zukunft und zeichnet sich durch eine große Freude am Erzählen aus.
Im Mittelpunkt des Romans stehen drei Frauen einer Familie: Tochter, Mutter und Großmutter, die gemeinsam mit dem Ehemann der Mutter vor mehr als zwanzig Jahren Japan verließen, nach Kanada auswanderten und dort eine Pilzfarm eröffneten.
Die 85-jährige Großmutter Naoe verbringt die Tage auf einem Stuhl im Flur sitzend. Sie führt Selbstgespräche auf Japanisch und beobachtet, wer im Haus ein und aus geht. Ihre Tochter Keiko hat alles Japanische aus ihrem Leben verbannt (auch die Sprache) und versucht sich in allem der kanadischen Kultur anzupassen. Ihre Tochter Muriel wächst mit und in der kanadischen Kultur auf und wird trotzdem von ihrem Umfeld als Fremde wahrgenommen. Auch wenn sie kaum Japanisch spricht, hat sie ein inniges Verhältnis zu ihrer Großmutter, die ihr den japanischen Namen Murasaki gegeben hat. Eines Tages beschließt Naoe, ihren Stuhl im Flur zu verlassen und verschwindet spurlos in einer windigen, kalten Nacht. Während Naoe sich auf einen abenteuerlichen Roadtrip begibt und Keiko einen Zusammenbruch erlebt, wird Muriel klar, dass es eine große Leerstelle in ihrem Leben gibt, die unmittelbar mit ihrer japanischen Herkunft und ihrem fehlenden Bezug zu diesem Teil ihrer Identität zusammenhängt.
Die Erzählweise ist sprunghaft und vielstimmig - im Wechsel werden die unterschiedlichen Perspektiven der Frauen eingenommen. Hinzu kommt die Erzählstimme der erwachsenen Murasaki (Muriel), die ihrem Freund zwischen Liebesspielen immer wieder eine Geschichte erzählt. Dabei wird sie auf magische Weise von ihrer verschwundenen Großmutter unterstützt, die ihrer Enkelin über die Distanz von Raum und Zeit hilft, die richtigen japanischen Wörter zu finden und die Geschichten ihrer Familie zu erzählen. „Dann öffnete sich mein Mund von selbst und Wörter fielen heraus wie Schätze. Ich konnte nicht aufhören. Versuchte nicht, aufzuhören. Sie wirbelten, schwollen an und strudelten. Die Wörter fegten hinaus, wo der prärieformende Wind an ihnen zog und zerrte. Wie eine Samenkette erhoben sie sich. Streuten sich aus. Obāchan und ich, unsere Stimmen klangen nach, wurden von hohlen Wänden zurückgeworfen und erstreckten sich mit Bändern aus Seidenfäden über das Land.“ (S. 69).
Auch der Schreibstil variiert: ist mal einfach, dann sehr poetisch, manchmal auch derb und immer mal wieder mit japanischen Wörtern und Sätzen angereichert. Obwohl ich kein Japanisch spreche, es keine Übersetzung gibt, stört es weder den Lesefluss noch das Verständnis. Ganz im Gegenteil erhält der Roman dadurch einen ganz eigenen Rhythmus und Klang. „Chor der Pilze“ spricht alle Sinne an, artikuliert Klänge, Gerüche, die Beschaffenheit von Lebensmitteln und ihren Geschmack, zeigt wie untrennbar ein Heimatgefühl damit verbunden ist. Essen und Erzählen erweisen sich in diesem Roman als heilsame Mittel der Erkenntnis und Selbstfindung; dabei spielt es gar keine so große Rolle, ob die erzählten Geschichten wahr oder erfunden sind, erst während des Erzählens Form annehmen oder erlebte Erinnerung sind. Warm, verrückt, magisch und mit Tiefgang hat mich dieser Roman auf eine leise, sehr besondere Art berührt. Trotz der Vielstimmigkeit und der sprunghaften Erzählweise fügt sich alles ganz wunderbar zusammen; dieser mehrstimmige Chor hat einen Platz in meinem Herzen erobert - ich bin begeistert!
Hiromi Gotos „Chor der Pilze“ erschien bereits 1994. Der auf Englisch verfasste Roman wurde aber erst im Jahr 2000 ins Deutsche übersetzt. Die Autorin wurde in Japan geboren und wanderte als Kleinkind mit ihren Eltern nach Kanada aus. Auch ihre Familie betrieb eine Pilzfarm. Es gibt also durchaus einige autobiografische Übereinstimmungen, das meiste in diesem Roman ist allerdings Fiktion.