Von dem, der bleibt

Buchseite und Rezensionen zu 'Von dem, der bleibt' von Matteo B. Bianchi
4.65
4.7 von 5 (3 Bewertungen)

Inhaltsangabe zu "Von dem, der bleibt"

Format:Kindle Ausgabe
Seiten:0
Verlag: dtv
EAN:

Rezensionen zu "Von dem, der bleibt"

  1. Wider ein Tabu

    Neige Sinno, die in ihrem autofiktionalen Memoir "Trauriger Tiger" von ihrem Leben als Missbrauchsopfer berichtet, reflektiert darin eine interessante Frage: Ist man als Schriftsteller verpflichtet ist, über gewisse Erlebnisse zu schreiben, muss der Auschwitz-Überlebende also über Auschwitz schreiben? Sie zitiert dazu eine amerikanische Kollegin:

    "Aber wenn man so was schon mal bei der Hand hat, wie Mary Karr über ihre eigene dysfunktionale Familie sagt, wäre es schade, nicht über dieses Thema zu schreiben." (S. 262)

    Neige Sinno bestreitet die Funktion von Literatur als Therapie:

    "Sobald man über das Trauma reden kann, ist man bereits ein wenig gerettet." (S. 93)

    Für die Überlebenden
    Beide Zitate sind wie gemacht für den autofiktionalen Roman "Von dem, der bleibt" des 1966 geborenen Italieners Matteo B. Bianchi. Nur, weil er 1998 den Selbstmord seines Ex-Partners und das nie endende Danach erlebte, konnte ein Text mit einer so brennenden Intensität und der Trauer als Protagonist entstehen. 25 Jahre arbeitete er an diesem Roman, zunächst nur in Gedanken, später auf Papier, bis er bereit war, ihn 2023 in Italien zu veröffentlichen. Obwohl es, wie bei Neige Sinno, kein Happy End im üblichen Sinne geben kann, war sein Weg zur Rettung zu diesem Zeitpunkt bereits weit fortgeschritten. Abzulesen ist die Entwicklung an der plötzlichen sachlichen Distanz zu dem dramatischen Ereignis im letzten Fünftel des Romans, nachdem Matteo B. Bianchi seine Leserinnen und Leser zuvor so dicht wie nur irgend vorstellbar an seinen Schmerz herangelassen hat. Seine Motivation zur Veröffentlichung beschreibt er so:

    "Ich schreibe dieses Buch unter anderem, weil ich damals so ein Buch hätte lesen wollen, eines über den Schmerz derer, die zurückbleiben." (S. 124)

    Ein Labyrinth aus Schmerz
    Nur drei Monate nach dem Ende der siebenjährigen Beziehung zwischen den in jeder Hinsicht ungleichen Männern nahm sich A. im November 1998 das Leben. Fünf helle, zwei dunkle Jahre und eine unschöne Trennung lagen hinter ihnen. Als A. angeblich seine Besitztümer aus der ehemals gemeinsamen Wohnung holte, nahm er sich dort, wo jetzt nur noch der Autor wohnte, das Leben. Niemand hatte den Warnzeichen zuvor die nötige Beachtung geschenkt.

    Matteo B. Bianchi zeigt den Schmerz in all seinen Facetten: Schock, Fassungslosigkeit, Zweifel, Verwirrung, Wut, Schuldgefühle, totale Vernichtung, Scham, grenzenlose Einsamkeit und Hilflosigkeit rundherum. Nichts, was er in seiner Verzweiflung versuchte, verschaffte ihm Erleichterung:

    "Es ist wie ein ständig brennendes Neonlicht. Die anderen können es ausschalten, du nicht." (S. 263)

    Bis er eines Tages durch Willensstärke zurück ins Licht fand:

    "Der Moment war gekommen. Jetzt oder nie. Der Moment, mich zu retten." (S. 277)

    „Ich setze dieses Buch aus Fragmenten zusammen, weil ich nichts anderes zur Verfügung habe.“ (S. 165)
    Matteo B. Bianchi will nicht Chronist sein, sondern Literat, mit der Freiheit, Details zu verändern. Aus „Scherben“ setzt er die Zeit vor und nach dem Suizid zusammen, reflektiert aber auch den Prozess seines Schreibens.

    Mich hat "Von dem, der bleibt" tief beeindruckt: durch seine umwerfende Ehrlichkeit frei von Pathos und Effekthascherei und die Kraft seiner Sprache und Bilder, die Amelie Thoma perfekt ins Deutsche übertragen hat. Auch wenn Matteo B. Bianchi in erster Linie für andere Überlebende schreibt, geht das Thema bei über 10.000 Selbstmorden 2023 allein in Deutschland doch alle an. Ein echtes Lese-Highlight!

  1. "Nur wer es durchmacht, weiß Bescheid."

    Bianchi widmet sich einem Thema, das weitestgehend tabuisiert ist: der Lage der Zurückgelassenen nach einem Suizid. Mit seinem Buch verfolgt er zwei Ziele: Zum Einen eine Auseinandersetzung mit seinen vielschichtigen Gefühlen, denen er sich nun, nach fast 20 Jahren stellen kann, und zum Zweiten eine Hilfestellung für Betroffene, die sich bislang in ihrer Trauer und ihren Konflikten weitgehend alleine gelassen wurden.

    Bianchi nähert sich dem Thema in einer beeindruckend offenen und reflektierten Art. Trauer, so liest man, ist ein äußerst ambivalenter Vorgang, der viele Gefühle umfasst: Wut, Verdrängung, Verzweiflung, Suche nach Hilfe, Realitätsfremdheit, und vor allem bohrende Schuldgefühle wie die Frage nach dem eigenen Versagen. Bianchi zeigt, dass vorschnelle Antworten und gutgemeinte Ratschläge eher das innere Leiden verstärken, als dass sie es lindern. Eindrucksvoll und facettenreich schildert er seinen Weg bis zu dem Punkt, an dem er sich selber verzeiht und sich mit einer bewussten Entscheidung wieder dem Leben zuwendet.

    Zugleich reflektiert Bianchi über seinen Schreibprozess. Er könne nur „Scherben“, wie er seine Erinnerungen nennt, zusammensetzen und sie so hin- und herschieben, dass sie zueinanderpassen. Dass sein Schreiben aber ein hohes Maß an Reflexion aufweist, erkennt man daran, dass er seinen Text mit eingeschobenen Zitaten strukturiert, die ebenfalls wie Scherben wirken, aber dem Folgenden eine Richtung vorgeben.

    Die Eindringlichkeit dieses Vorgehens wird gesteigert durch Bianchis Sprache. Bianchis Umgang mit der Sprache ist beeindruckend souverän. Immer klar, fast schonungslos, niemals pathetisch oder larmoyant, präzise, fast sachlich und immer durchdacht wirkt diese Sprache wie eine Statue – und mit dieser Sprache berührt Bianchi seine Leser und führt sie nahe an seinen Schmerz heran, ohne jemals aufdringlich zu sein.

    Dazu trägt auch die Tatsache bei, dass der Autor konsequent die Innenperspektive wahrt. Erst am Schluss verschiebt sich dieser Schwerpunkt, wenn er eher informierende Passagen über Suizid-Prävention u. ä. anfügt. Damit erweitert er zugleich seine individuelle Perspektive zu einer allgemeinen und versachlicht das Thema. Das mag sicher Teil seines Gesundungsprozesses sein, den ihm jeder Leser nur wünschen kann, aber die Dominanz der Information bricht die beeindruckende Literarisierung des Themas.

    4,5/5*

  1. Eindrucksvolles Memoir über Trauerbewältigung nach Suizid

    Der sympathische Autor Matteo B. Bianchi ist 'Überlebender'. So nennt man diejenigen, die einen lieben Menschen durch Suizid verloren haben. Man schätzt, dass es sechs bis zehn sind, die 'mitgerissen' werden und mehr oder weniger leiden. Bei ihm ist es der Geliebte, von dem er sich vor Monaten getrennt hatte und den er in seiner Wohnung aufgehängt vorfand. Sieben Jahre hatten sie zusammengelebt, die beiden von so unterschiedlicher sozialer Herkunft, Erziehung und Kultur. Erst nach vielen Jahren fühlt sich Bianchi endlich in der Lage, von seinen traumatischen Erfahrungen und von den Gefühlen, die damit einhergehen, zu sprechen bzw. zu schreiben und das tut er in mitreißender Eindringlichkeit.

    Zum einen verarbeitet er damit seine Erlebnisse, schließt mit der Vergangenheit ab, um ein neues Leben beginnen zu können, zum anderen hätte er sich damals gewünscht, mehr Literatur zu finden, die ihm hätte helfen können. Anderen Hilfe und Verständnis anzubieten, ist also sicher ein wichtiger Beweggrund.

    Damit ist schon klar, dass dieses Buch auf jeden Fall für alle die geeignet ist, die betroffen sind. Aber warum sollte jemand anderes dieses Buch lesen, ich zum Beispiel, die zum Glück nie solch' ein Erlebnis hatte? Mir hat es wichtige Erkenntnisse gebracht und Verständnis für die Seelenlage solcher Menschen. Und wenn man den Statistiken glauben darf, sind es gar nicht so wenige. Jeder könnte in die Situation kommen, dass sich ein Verwandter oder Bekannter das Leben nimmt, je näher, desto schlimmer. Selbst diejenigen, denen es nur berichtet wird und die emotional nicht betroffen sind, werden beeinträchtigt.

    Da ist die Frage der Schuld, mit denen sich einige herumplagen. Hätte man nicht etwas merken müssen? Etwas tun können? Hat man etwas falsch gemacht? Oder das Gefühl des Hasses: warum hat er/sie uns das angetan? Bestrafung, Lieblosigkeit? Da ist die Frage, wie man als Unbeteiligter reagiert. Alles das sind Gedanken und Problematiken, die in solchen Fällen auftauchen und die auch denn unbeteiligten Lesern an solchen Erfahrungen teilnehmen lassen und ihm wertvolle Einsichten und Empathie vermitteln.

    Das alles erzählt Bianchi in einer mitreißenden Sprache, zuerst abgehackt und mit Wortwiederholungen versehen, was die Dramatik der Seelenqual, die unermessliche Trauer und Verzweiflung deutlich macht, später, als die erste Verzweiflung abklingt, in Formulierungen und Sprachbildern, die dieses Buch auf eine literarisch anspruchsvolle Ebene heben.

    Fazit

    Ein sehr empfehlenswertes Buch nicht nur für Betroffene, sondern für alle Menschen, die wissen möchten, wie es 'Überlebenden' mit ihrer Seelenqual geht, das Verständnis und Empathie weckt.

    Ein paar Zitate:

    'Nur, wer es durchmacht, versteht. Nur, wer es durchmacht, weiß Bescheid.' (34)
    'Ich spüre, dass ich, anstatt zu fliehen, stehen bleiben und ihm die Stirn bieten muss. Dass ich nicht anders kann. Als wäre der Schmerz ein Brunnen, in den man eintauchen, ein Tunnel, den man ganz durchqueren muss, bis man den Ausgang erreicht.' (15)
    der 'zerrissene Wandteppich aus Vergessen und glasklaren Erinnerungen ohne Ordnung und Zusammenhang, der niemals eine endgültige Gestalt annehmen wird' (163)