Wohnverwandtschaften: Roman
Wohngemeinschaften gab es unfreiwillig nach dem Zweiten Weltkrieg in Deutschland durch Zwangseinquartierungen. Ab den 1960er-Jahren entdeckten Studierende diese Wohnform für sich. Angesichts explodierender Mieten, Wohnraumknappheit, steigender Zahl von Singlehaushalten und fehlender Heimplätze gibt es sie inzwischen für jedes Alter, jede Lebenssituation und jeden Geldbeutel.
3+1=4
In der Hamburger WG im neuen Roman "Wohnverwandtschaften" der Übersetzerin und Autorin Isabel Bogdan leben vier mitten im Leben stehende Erwachsene aus ganz unterschiedlichen Motiven. Jörg, Rentner Ende 60, kann das Geld aus der Vermietung für seine geplante Reise mit dem Bulli nach Georgien gut gebrauchen und hat sich nach dem Tod seiner Frau wieder Leben in die Wohnung geholt. Anke lebt seit mittlerweile mehreren Jahren bei ihm und wird von Zukunftsängsten geplagt. Sie war einst eine erfolgreiche Schauspielerin, leidet nun aber sehr unter den fehlenden Rollenangeboten für Frau über 50. Murat, ebenfalls um die 50, Fachmann für IT und Deutschtürke aus Köln, ist der Sonnyboy der WG, kocht gern für alle, liebt seinen Schrebergarten, den FC St. Pauli, seinen großen Freundeskreis und seine Mitbewohnerinnen und Mitbewohner. Er ist es auch, der die jüngere, nicht ganz so lockere Zahnärztin Constanze als Vierte im Bunde anheuert. Frisch getrennt, sieht sie die WG als Notlösung und Zwischenstation. Mit ihrem Einzug im Januar 2022 setzt der Roman ein:
"Neues Zuhause. Übergangsweise. Irgendwann werde ich ja eine eigene Wohnung finden, ein richtiges Zuhause. Meins. Ach, Mist. Ich hatte doch schon mal eins." (S. 7)
Eine Zerreißprobe
Abwechselnd erzählen in den kurzen Kapitel die vier WG-Mitglieder von ihrem Alltag, chronologisch und mit genauer Angabe von Wochentag und Datum. Dazwischen gibt es Abschnitte mit mehreren Personen und Dialogen ähnlich einem Theaterstück. Je weiter der Roman fortschreitet, desto mehr Kapitel kommen aus der Sicht aller, denn nach Jörgs Blinddarmoperation ist er nicht mehr derselbe und der WG-Alltag wird zunehmend auf den Kopf gestellt. Abhängig von ihrem Charakter gehen Anke, Murat und Constanze zunächst verschieden damit um und brauchen unterschiedlich lang, um die Tragweite der Veränderung zu begreifen. Aber eins ist klar: Sie lassen ihren vierten Mann nicht im Stich.
Leicht und warmherzig
"Wohnverwandtschaften" ist mit seinem Anklang an Goethes "Wahlverwandtschaften" eine einfallsreiche Wortneuschöpfung mit Potential für eine Aufnahme in den Duden. Zwei Jahre lang, bis Silvester 2023, verfolgen wir lesend die Ereignisse in der WG, Fortsetzung nicht ausgeschlossen. Isabel Bogdan schreibt leicht, amüsant und mit viel Empathie für ihre Figuren über ein Zusammenleben, das mir allerdings bei so unterschiedlichen Charakteren ein wenig zu konfliktfrei und harmonisch ablief. Ich hätte mir auch gewünscht, dass Anke, Constanze und Murat sich in ihrer Sprache mehr unterschieden hätten, wie es bei Jörg sehr gut gelungen ist. Als warmherziger Wohlfühlroman über wachsende Freundschaft und geteilte Verantwortung liest sich das Buch jedoch gut. Noch besser allerdings kann ich mir den Text aufgrund seiner innovativen Struktur in der Hörfassung, auf der Bühne oder im Film vorstellen.
„Wohnverwandtschaften“ gehen manchmal sehr viel tiefer als echte Verwandtschaft – das zeigt Isabel Bogdahn in ihrem liebevollen und warmherzigen Roman, der mir im Hinblick auf seine innovative Erzählidee gut gefallen hat.
Über einen Zeitraum von knapp zwei Jahren folgt der Leser dem Leben in der WG von Jörg, Constanze, Anke und Murat – Einblicke erhält man unmittelbar über die unterschiedlichen Ich-Perspektiven. Unterbrochen werden die einzelnen Reflexionen und Berichte der Figuren über ihr Leben in und außerhalb der WG, über ihre Gemeinschaft, Sorgen, Ängste und ihre Vergangenheit durch Gemeinschaftsszenen, die als dramatischer Text verfasst sind. Diese Erzählstruktur ist sehr gelungen und abwechslungsreich, allerdings hat mir bei der Umsetzung ein bisschen die ureigene Stimme der Figuren gefehlt. So unterschieden sich die Kapitel in ihrer inhaltlichen Ausrichtung natürlich, aber bis zu dem Zeitpunkt, an dem Jörgs Kapitel von der fortschreitenden Demenz gekennzeichnet werden, fehlte mir der klar identifizierbare Ton der jeweiligen Figur – so wie man es z.B. aus Nick Hornbys A Long Way Down kennt, wo man eigentlich gar keine Überschrift braucht, da die Erzählstimme so klar erkennbar dem entsprechenden Charakter zuzuordnen ist.
Inhaltlich haben mich sowohl die Darstellung tiefer erwachsener Freundschaft als auch die des sich entwickelnden Gemeinschaftsgefühls überzeugt, der schmerzhafte allmähliche Verlust eines Freundes an die Demenz wird von Isabel Bogdahn ebenfalls sehr eindrücklich dargestellt, zumal sie das Abgleiten in das Vergessen nicht nur aus der Perspektive der Umgebung, sondern auch aus dem Blickwinkel des Betroffenen selbst schildert.
Dennoch hat mich der Roman insgesamt nicht wirklich mitreißen und begeistern können. Mir war insgesamt alles ein wenig zu niedlich, oftmals auch hinsichtlich der Figurenkonzeption zu verspielt und kindlich, die Figuren denken und fühlen häufig nicht unbedingt erwachsen, auch wiederholt sich so einiges – das mag authentisch und unterhaltsam sein, aber es verleiht diesem in Thema und Erzählstruktur durchaus ambitioniertem Roman eine zu oberflächliche Note. So habe ich den Roman durchaus mit einigem Interesse und auch Vergnügen gelesen, aber er wird in mein Lesetagebuch als „nettes Buch“ eingehen – unterhaltsam und voller Wärme, aber ohne nachhaltigen Effekt.
Isabel Bogdan ist vielen sicherlich bekannt durch ihre Romane Laufen und Der Pfau. Mit Wohnverwandtschaften ist ihr neuester Roman bei Kiepenheuer & Witsch erschienen, der eine zusammengewürfelte WG und deren Bewohner in den Mittelpunkt stellt.
Startpunkt der Handlung ist der Einzug von Constanze in die besagte WG, die dort auf einen bunt zusammengewürfelten Haufen an Charakteren trifft. Erzählt wird in abwechselnden Perspektiven oder in gemeinsamen Szenen in Dialogform, das mochte ich sehr, brachte es doch einen tollen Drive in die Handlung.
Bei allen Protagonisten blickt man schnell hinter die Fassade, denn jeden treibt sein ganz eigenes Thema um. Die Autorin hat dabei sehr sensibel und unaufgeregt viele gesellschaftliche Themen einfließen lassen, die zum einen nachdenklich machen. Abgewechselt wird dies immer wieder mit auflockernden Szenen der WG, die den Leser zum Schmunzeln bringen.
Eine kurzweilige aber intensive Lektüre, die ich sehr mochte. Vor allem die Aufbereitung der Themen wie Verlust und das Älterwerden hat Isabel Bogdan toll umgesetzt.
Als Constanze, eine Frau, die eigentlich mitten im Leben steht, sich auf einmal in einer WG mit drei anderen erwachsenen Menschen wiederfindet – dem Hamburger Wohnungsmarkt sei Dank – stuft sie die neue Wohnsituation zunächst als vorübergehend ein. Aber das Zusammenleben mit diesen so ganz unterschiedlichen Menschen entpuppt sich als überraschend angenehm und herzlich, so dass ein baldiger Abschied immer mehr in den Hintergrund rückt.
Ich gebe ganz ehrlich zu: Ich habe alles von Isabel Bogdan gelesen. Und so unterschiedlich ihre Bücher auch sind, ich bin jedes Mal wieder hellauf begeistert von ihrem Schreibstil und von ihrem trockenen Humor. Darauf hatte ich mich auch bei ihrem neuen Werk riesig gefreut – und wurde definitiv nicht enttäuscht.
Alle in der WG fand ich als Charaktere interessant und sympathisch, wobei ich insbesondere Murat und Constanze total gerne gelesen habe. Ich mochte auch den Aufbau mit den vier Perspektiven und den zusätzlichen gemeinsamen Dialogen, die sich ein bisschen wie ein Drehbuch oder Theaterstück lasen – das hat zusammen super funktioniert. Bei den inneren Dialogen war man praktisch live mit dabei, so dass man als Leser wirklich mitfühlen konnte.
Dass das Thema Demenz im Buch eine Rolle spielt, kam für mich sehr überraschend. Mir hat es gut gefallen, wie es aufgearbeitet wurde – allerdings hätte ich es zugegebenermaßen gerne vorher gewusst, weil ich direkt davor ein anderes Buch zu dem Thema gelesen hatte.
Insgesamt habe ich das Buch unheimlich gerne gelesen und die Seiten flogen nur so dahin. Es gibt so einige Szenen, die mir sehr im Gedächtnis geblieben sind, und ich habe auch das ein oder andere Mal sehr gelacht. In diesem Sinne gibt es von mir auch für dieses Buch der Autorin eine absolute Leseempfehlung.
Isabel Bogdan hatte sich längst einen Namen als Übersetzerin ( z.B. von Jane Gardam ) gemacht, bevor sie 2016 mit ihrem ersten Roman „ Der Pfau“ einen Bestseller landete. Ernstere Töne schlug sie mit ihrem nächsten Buch an; in „ Laufen“ schreibt sie über eine Frau, die den Suizid ihres Lebensgefährten mit Laufen verarbeitet.
„ Wohnverwandtschaften“ nun erzählt von einer Wohngemeinschaft, die zu einer Art Ersatzfamilie für alle wird. Jörg ist mit Ende Sechzig der Älteste, ihm gehört die Wohnung. Doch nach dem Tod seiner Frau ist sie ihm zu groß, außerdem lebt er nicht gerne allein. So sind Anke und Murat bei ihm eingezogen. Und zu ihnen gesellt sich zu guter Letzt noch Constanze. Die dreißigjährige Zahnärztin hat nach dem Heiratsantrag ihres Freundes die Flucht aus ihrer so spießigen wie langweiligen Beziehung ergriffen und findet auf die Schnelle keine Wohnung. Als Übergangslösung war das gedacht, schließlich träumt sie weiterhin von einer eigenen Familie. Doch Constanze findet zunehmend Gefallen an der neuen und für sie ungewohnten Situation. Denn die Vier verstehen sich gut, bis auf ein paar Eifersüchteleien , obwohl sie völlig unterschiedliche Typen sind.
Jörg war früher Journalist und träumt nun von einer langen Reise. Bis nach Georgien will er mit seinem alten VW-Bulli fahren. Da kommt ihm die Miete der anderen gerade recht für seine Reisekasse.
Die Schauspielerin Anke steckt in einer richtigen Krise. Mit Anfang Fünfzig bekommt sie keine Rollenangebote mehr. Das kratzt an ihrem Selbstwertgefühl und bringt sie in eine finanzielle Schieflage.
Murat ist der Sonnenschein der Truppe. Immer gut gelaunt, immer ein offenes Ohr für die Nöte der anderen, ein Liebling der Frauen und ein Kumpel für seine Fußballkollegen. In seiner Freizeit werkelt der IT- Spezialist mit Begeisterung in seinem Schrebergarten und verarbeitet danach dessen Erzeugnisse zu phantasievollen Gerichten, sehr zur Freude seiner Mitbewohner. „ Darin ist er echt gut, genießen kann er. Was auch immer. Essen, die Sonne, das Leben.“ so denkt, beinahe neidisch, Constanze, der diese Lockerheit fehlt.
Die Autorin schreibt vom Alltag dieser Wohngemeinschaft wechselweise aus den Perspektiven der vier Protagonisten. So entstehen aus der Innensicht und der Außenperspektive glaubhafte und lebendige Charaktere, die dem Lesenden bald vertraut sind. Dazwischen gestreut finden sich immer wieder lebensnahe Dialoge zwischen den Figuren. Das alles wird in einem lockeren, flapsigen Stil erzählt.
Doch dann schleicht sich zusehends ein ernsterer Tonfall ein. Denn Jörg gibt Anlass zur Sorge. Seine Schusseligkeit wird immer schlimmer. Gut, etwas verpeilt war Jörg schon immer. So versucht er und versuchen es seine Mitbewohner abzutun. Doch es häufen sich die Situationen, wo Jörg nicht mehr weiß, wo er sein Auto abgestellt hat oder nicht nach Hause findet. Manchmal erkennt er nicht mal mehr seine Freunde, versucht das aber geschickt zu verbergen. Aber irgendwann ist seine zunehmende Demenz für alle offensichtlich. „ Mir fallen die Wörter nicht mehr ein, wo sind meine Wörter hin, meine Schätze? …Sie fehlen mir, die Wörter. Die schönen. Und die hässlichen. Meine Schätze, Wortschatz, Wortschätze. Wo sind sie hin, meine Wörter?“ Dieses Defizit macht Isabel Bogdan durch Lücken im Text greifbar.
Für die Wohngemeinschaft stellt sich nun die Frage, wie sie mit Jörgs Erkrankung umgehen sollen. Sie wollen zusammenhalten, denn schließlich sind sie so etwas wie eine Familie geworden. Alle bringen sich ein, wechseln sich ab mit der Betreuung, suchen Hilfe von außen. Aber wie lange können sie das? Und welche Konsequenzen hat das für jeden von ihnen? Sie sehen mit Sorge, dass ihr Zusammenleben in Gefahr ist.
Isabel Bogdan verhandelt in diesem Roman ernste Themen. Sie zeigt, dass es Rücksicht braucht und ein Verantwortungsbewusstsein, wenn eine solche selbst gewählte Wohngemeinschaft auch in Krisenzeiten funktionieren soll. Gleichzeitig stellt ein solches Lebensmodell eine Alternative dar angesichts der vielen unfreiwilligen Singles und den horrenden Mieten in den Städten.
„ Wohnverwandtschaften“ ist ein unterhaltsamer Roman, der zugleich Stoff zum Nachdenken liefert. Ein Buch, das mit seiner Menschlichkeit und Wärme berührt und Hoffnung gibt.
Jörg ist Ende sechzig und plant eine Reise nach Georgien. Als Brigitte noch lebte, war er viel mit ihr unterwegs, aber fast nur in Europa, denn sie mochte es warm. Einmal zog es sie nach Dänemark, aber da hatte Basti ein schwer zu ertragenes Teenagertief, das Brigitte die Reise versaut hat. Jörg hat zwei Zimmer seiner Wohnung an Anke und Murat vermietet. Sein Arbeitszimmer hat er gerade für eine neue Mitbewohnerin freigeräumt.
Constanze hat sich von Flo getrennt. Er hatte ihr einen Antrag gemacht und sie die Flucht ergriffen. Eine bezahlbare Wohnung in Hamburg zu finden gestaltete sich schwierig, deswegen versucht sie übergangsweise in dieser WG zu wohnen. Das Klavier, das sie von Flo geschenkt bekommen hat, muss in dem 20 Quadratmeter Zimmer untergebracht werden, obwohl sie gar nicht spielen kann.
Anke, die Schauspielerin ohne Aufträge, war zuerst nicht erbaut, ihre beiden Mitbewohner mit einer Frau zu teilen. Allmählich jedoch gewöhnt sie sich an die Zahnärztin. Sie sehnt sich nach einer Rolle nicht nur finanziell, auch wegen des Selbstwerts. Die Regisseure bevorzugen allerdings Frauen, die mindestens zehn Jahre jünger sind als sie.
Murat liebt das Leben und weil er gern isst, kocht er oft für seine Mitbewohnerinnen. Er hat den kleinen Garten von Jörg übernommen, den früher Jörgs Brigitte bewirtschaftet hat. Von dort kommen die Kartoffeln, Kohlrabi und Bohnen, die Murat jedes Frühjahr setzt und hegt und pflegt. Er liebt seine Anke, der er zu gerne Rollen verschaffen würde und in seinem Herzen ist auch noch Platz für die neue Constanze, die viel lockerer ist, als Anke glaubt.
Fazit: Eine gelungene Geschichte, die Isabel Bogdan gezeichnet hat. Die Kapitel beginnen mit dem Tagesdatum und einer Protagonistin, der sie beim Denken zugeschaut hat. Wechselweise lese ich über das Innenleben aller Beteiligten oder schaue ihren Interaktionen zu. Die Autorin hat einen geübten Blick für die großen und kleinen Alltagsprobleme. Das Leben schweißt die unterschiedlichen Charaktere zusammen. Der Autorin ist eine warme Geschichte gelungen, in der sich Freundschaft zart entwickelt und stabil wird. Der Titel „Wohnverwandtschaften trifft den Kern des Konstrukts sehr genau, denn die vier Menschen werden zu einer Wahlfamilie, in der gemeinsam genossen, gelacht und geweint wird. Eine schöne Idee, so eine gut gelingende WG. Lesenswert!
Ich muss sagen, das Buch hat mich Überrascht.
Aber erst mal von vorne. Das Cover: Sofortige Assoziation mit Goethes Buch Die Wahlverwandtschaften. Kann man bei dem Titel gar nicht anders. Worum es da geht? Ein Ehepaar verliebt sich ausserhalb der Ehe jeweils in eine Person ihres Freundeskreises. Dadurch entsteht natürlich ziemliches Chaos. In diesem Kontext stehen natürlich auch die chemischen Wahlverwandtschaften. Zu Goethes Zeit bezeichnete man die Eigenschaft bestimmter chemischer Elemente, bei der Annäherung anderer Stoffe ihre bestehenden Verbindungen zu lösen und sich mit den neu hinzugekommenen Elementen zu vereinigen als Wahlverwandtschaften.
Somit sind wir schon näher am Stoff des Buches.
Dazu noch die herrliche Farbgebung: türkis für Empathie und Fürsorge, weinrot für Beständigkeit und Zusammensein. Das sind zwar nur Interpretationen, aber die treffen schon auf das Buch zu.
Die WG von Constanze, Jörg, Murat und Anke kann man als Zweckgemeinschaft bezeichnen. Die sich aber entwickelt. Freiwillig und durch tragische Umstände.
Sehr gut gelungen ist die sprachliche Übertragung der WG und ihr funktionieren . Im Buch liest man passagenweise mal von dem einen, mal aus der Sicht einer Kombi von Personen. Jeweils durch Form und Sprache gut abgestimmt auf die Personen.
Rundum gelungen, anrührend und mir persönlich macht es Hoffnung, dass Wohngemeinschaften oder Freundeskreise den Halt bieten werden, den früher die Familie bieten konnte.
Jörg, Ende sechzig, hat nach dem Tod seiner Frau seine Wohnung sozusagen zu einer WG umstrukturiert. Er lebt jetzt mit dem Computerspezialisten Murat und der Schauspielerin Anke zusammen. Als Murat mitkriegt, dass seine Zahnärztin Constanze eine Unterkunft sucht, bietet er ihr kurzerhand an, zu ihnen in die WG zu ziehen. Da Constanze bei ihrem Ex-Lebensgefährten schnell ausziehen möchte, nimmt sie das Angebot an. Aber eine Wohngemeinschaft in ihrem Alter? Nur als Zwischenlösung, bald wird sie sich eine eigene Wohnung suchen. Doch allmählich lebt sich Constanze ein und ehe es sich die BewohnerInnen versehen, sind sie gute Freunde. Doch dann kommt, wie so oft, das Leben dazwischen und Constanze, Anke, Murat und Jörg müssen sich neu sortieren.
Auch der neue Roman von Isabel Bogdan überzeugt mit einem einnehmenden Schreibstil, der es einem leicht macht in die Geschichte hineinzufinden. Der Text lässt sich sehr flüssig lesen, so dass ich überrascht war, wie schnell ich auf den letzten Seiten angelangt war.
Jedes Kapitel trägt als Überschrift den Namen einer Mitbewohnerin bzw. eines Mitbewohners aus deren/ dessen Sicht die Geschichte erzählt wird. Unterbrochen werden diese Abschnitte von Dialogen zwischen den ProtagonistInnen, die in einer Art Drehbuchformat geschrieben sind. Auf der einen Seite bringt dies Abwechslung in den Fließtext, allerdings fiel es mir dadurch schwer den handelnden Figuren wirklich nahe zu kommen. Aber auch bei den Sichtweisen jeder/s Einzelnen fehlte mir etwas der Tiefgang. Themen die aufgegriffen werden, werden für meinen Geschmack zu schnell, zu oberflächlich abgehandelt.
Nun muss ich ein bisschen aufpassen, damit ich nicht zu viel verrate. Gut gefallen hat mir am Ende die graphische Darstellung von Jörgs Situation. Es sind zwar nur Leerstellen, doch sagen sie so viel mehr als Wörter aus. Wenn ihr es lest, werdet ihr wissen, was ich meine.
Fazit:
Eine insgesamt schöne Geschichte mit herzerwärmenden Charakteren.
Über fast zwei Jahre leben vier Menschen unterschiedlichen Alters mit unterschiedlichen Zielen, Charakter und Karrieren in einer Zweckwohngemeinschaft in Hamburg. Teils wegen einer Trennung, teils aus finanziellen Gründen entwickelt sich diese zufällig entstandene WG zu einem Verbund voller Freundschaft und tiefer Bindung durch den rapiden dementen Verfall des Ältesten in diesem Quartett. Der bildhafte, teils humorige Schreibstil wechselt je Kapitel zwischen kurzen Dialogen zu inneren Monologen, Reflexionen und Erinnerungen, jeweils aus der Perspektive wechselnder Bewohner. Das schwierige Thema der fortschreitenden Demenz und die damit einhergehenden Alltagsprobleme werden authentisch beschrieben, bewältigt allein durch die drei Bewohner, statt durch seinen fern ab lebenden Sohn mit Familie. Die stetig enger werdende Verbundenheit, das Verantwortungsbewusstsein und die große Fürsorge sind einfühlsam beschrieben je nach fortschreitendem Verfall durch die Demenz von Jörg.
Eine berührende Geschichte über ein sich schnell wandelndes Leben für alle Beteiligten ohne Garantien.
Wie man sich eine Wohngemeinschaft wünscht
Kurzmeinung: Kurzweilig, macht Spaß und hat Tiefgang.
Isabel Bogdan macht einen guten Job, ihre Romane funktionieren für mich. Ich mochte „Der Pfau“ und „Laufen“ und ich finde es großartig, dass sie sich immer wieder neu erfindet, sprich: sich nicht zu schnell auf ein Thema oder ein Genre festgelegt hat und keine eingefahrene Schiene anstrebt. Jeder Roman ist eine echte Überraschung für mich. Der vorliegende Roman „Wohnverwandtschaften“ ähnelt einem Theaterstück. Ich kanns mir sehr gut auf der Bühne vorstellen, es funktioniert aber auch als Hörbuch und schlicht gelesen bestimmt genauso gut.
Die Protagonisten leben in einer WG. Zuletzt ist Konstanze dazugestoßen. Finanziell hat sie es als gutverdienende Zahnärztin nicht nötig, in einer WG zu leben, aber als sie sich von ihrem langjährigen Freund trennt, findet sie es besser, nicht allein zu wohnen, um abgelenkt zu sein. Denn obwohl die Trennung von ihr ausging, Trennung ist immer mit Kummer verbunden. In der Wohnung lebt bereits Murat, die Seele des Haushalts, der alle bekocht und zu jedem einen guten Draht hat. Murat muss man einfach mögen, jeder will ihn als besten Freund. So ein Typ ist er. Jörg ist der Älteste, es ist seine Wohnung, die er zur Verfügung stellt. Nach dem Tod seiner geliebten Frau wollte er nicht alleine sein und gründete eine WG. Und Anke. Anke fällt auch irgendwie aus dem Rahmen, sie ist eine charmante, arbeitslose Schauspielerin, die älter geworden, keine Rollenangebote mehr bekommt. Man kennt das ja. Die Branche ist gnadenlos gegenüber älteren Frauen.
Der Kommentar und das Leseerlebnis:
Das Hörbuch ist mit hochkarätigen Sprechern besetzt, darunter Katharina Wackernagel mit ihrer prägnanten Stimme. Die Dialoge sind lebensecht und die beginnende Demenz von Jörg so empathisch und authentisch vermittelt, dass man sich trotz seiner Krankheit mit ihm wohl fühlt, so empathisch sind seine Mitbewohner, dass mir das Herz aufgeht. Trotz der Tehematik der aufkommende Demenz hat der Roman keine larmoyante Note. Auch das Ende ist stimmig. Und ein Ende zu einem Roman zu schreiben, der ein schwieriges Thema leichtfüßig vermittelt, ist nicht ganz ohne. Isabel Bogdan hat es spielend gemeistert.
Fazit: Ein Unterhaltungsroman auf hohem Niveau, sprachlich einwandfrei, dialoglastig, aber immer mitreißend, Chapeau, Isabel.
Hörbuch: Argonverlag, 2024
KiWi, 2024