Nur nachts ist es hell: Roman
Im Jahr 1972 mit fast 80 beschließt Elisabeth, ihre Lebensgeschichte aufzuschreiben. Sie wendet sich dabei an ein zunächst nicht identifiziertes Du. Später erfährt der Leser, dass es sich um Christina, die Enkelin eines ihrer zwölf Jahre älteren Zwillingsbrüder handelt. Elisabeth hat drei ältere Geschwister, außer den Zwillingen Carl und Eugen noch den fünf Jahre älteren Bruder Gustav, der im 1. Weltkrieg stirbt. Elisabeth heiratet seinen besten Freund Georg Tichy, Sohn eines Arztes, der den Krieg überlebt, aber einen Arm verliert. Während des Krieges arbeitet Elisabeth als Lazarettschwester und setzt sich danach gegen alle Widerstände mit ihrem Wunsch durch, Medizin zu studieren, absolut ungewöhnlich für eine Frau zur damaligen Zeit. Sie führt mit ihrem Mann zusammen eine Praxis, wo sie auch mit vielen traurigen Schicksalen konfrontiert wird – schwer verletzten Frauen, die wegen der verbotenen Abtreibung bei einer Engelmacherin Hilfe gesucht haben und häufig nicht überleben. Elisabeth erzählt, was den Mitgliedern ihrer vielköpfigen Familie in zwei Kriegen widerfuhr, wie sie den Nationalsozialismus in Österreich überstanden und irgendwie überlebt haben oder auch nicht. Dabei erfährt der Leser von Familiengeheimnissen und allen Arten von Konflikten. Die Geschichte liest sich nicht mühelos, weil Elisabeth nicht chronologisch berichtet und man immer wieder den Stammbaum am Ende konsultieren muss, um die Personen richtig zuordnen zu können. Elisabeth blickt auf ein ereignisreiches Leben mit Erfolgen, aber auch mit Fehlschlägen zurück. Sie hat vielen Menschen geholfen, weiß aber, dass sie keine besonders gute Ehefrau und Mutter war. Sie fragt ihre beste Freundin Franzi eines Tages: „Ach Franzi, was ist uns passiert?“ „Das Leben!“ antwortet sie ihr (S. 293).
Mir hat Judith W. Taschlers neuer Roman wieder gut gefallen und wird sicher nicht mein letztes Buch dieser Autorin bleiben.
Das neue Buch der Autorin ist die Fortsetzung ihrer Familiensaga von der Hofmühle aus ihrer Heimat, dem österreichischen Mühlviertel, das man auch ohne den vorangegangenen Band lesen kann.
Elisabeth, die Tochter des Hauses ist ein Kind aus der Zeit der Belle Epoque.
Sie durfte Bildung geniessen, wurde von Kind an gefördert selbständig zu denken und gehörte zu den ersten Generationen von Frauen, die das Abitur ablegen durften. Auch konnte sie Medizin studieren, trotz vehementer Gegnerschaft von Seiten der Professoren, die generell der Frau die Fähigkeit zum wissenschaftlichen Denken absprachen. Es ist eine Zeit, in der das Frauenwahlrecht als Entartung galt, wider die Natur der Frau.
Sie schreibt ihr Leben auf, das von den zwei großen Weltkriegen geprägt wurde. Sie verdeutlicht, welche Dramatik diese Katastrophen in das Leben der Menschen und deren Schicksal brachte und das es trotzdem weiterging.
Sie ist alt geworden und schreibt aus der Warte eines abgeklärten Menschen, der vieles versteht, weil er vieles gesehen und vieles erlebt hat.
Die Autorin lässt Elisabeth in einem meist sachlichen Ton schreiben, ohne Überschwang oder poetische Schwärmerei, sie ist Ärztin, und somit dem nüchternen Denken verpflichtet. Sie nimmt den Leser mit, in Geschichte und deren Geschichten.
Durch die Aneinanderreihung vieler biographischer Daten, geht öfter die unmittelbare Spannung verloren. Es fehlt dem Buch ein wenig an literarischer Inspiration und Esprit.
Wer den Vorgängerroman „ Über Carl reden wir morgen“ gelesen hat, der hat mit viel Vorfreude dieses Buch erwartet. Dort erzählte Judith W. Taschler die Geschichte der Familie Brugger, die in einem kleinen Ort im österreichischen Mühlviertel eine Mühle betreibt. Sie spannt dabei den Bogen über drei Generationen hinweg, vom frühen 19. Jahrhundert bis in die Zeit nach dem Ersten Weltkrieg.
„ Nur nachts ist es hell“ schließt unmittelbar daran an. Doch hier geht es vorrangig um das Leben von Elisabeth Brugger, der einzigen Tochter der letzten Bruggerfamilie. Im Vorgängerroman griff Judith W. Taschler zu verschiedenen Perspektiven und schuf so ein vielstimmiges Bild. Hier wird alles aus der Perspektive von Elisabeth erzählt. Man muss den Vorgänger allerdings nicht gelesen haben, um dieses Buch zu verstehen. Die österreichische Autorin baut alle notwendigen Informationen organisch in die Geschichte ein.
Elisabeth war das jüngste Kind und der Liebling ihrer Eltern. Die Zwillingsbrüder Carl und Eugen waren zwölf Jahre älter. Deren dramatisches Schicksal spielt auch in Elisabeths Leben herein. Gustav, der mittlere der Geschwister, der ihr in ihrer Kindheit am nächsten stand, stirbt in den Schlachtfeldern des Ersten Weltkriegs. Elisabeth wird später in dessen Fußstapfen treten und wie er Medizin studieren; eine ungewöhnliche Laufbahn für Frauen zur damaligen Zeit. Doch gegen viele Widerstände, zuerst von den Eltern, dann von Studenten- und Professorenseite aus, setzt sich Elisabeth durch und wird eine anerkannte und beliebte Ärztin. Zunächst aber arbeitet sie während des gesamten Krieges als Krankenschwester an der Front.
Nach Kriegsende heiratet Elisabeth Georg, einen Studienfreund ihres gefallenen Bruders. Georg kommt versehrt aus dem Krieg nach Hause; ihm fehlt der linke Arm. Aber er unterstützt sie in ihrem Wunsch, Medizin zu studieren und bis zum Tod ihres Mannes werden sie gemeinsam eine Arztpraxis in Wien betreiben. Das Paar bekommt zwei Söhne, die glücklicherweise den Zweiten Weltkrieg überleben.
Man spoilert nicht, wenn man das alles verrät, denn das erfährt der Leser schon zu Beginn des Romans. Hier fasst Elisabeth die Eckpunkte ihrer Biographie ganz sachlich zusammen, um sie dann im Verlauf des Buches mit Leben zu füllen.
Das Ganze ist angelegt als langer Monolog, adressiert an die Großnichte Christina. Ihr erzählt sie Anfang der 1970er Jahre ihr Leben, aber auch von den Verhältnissen in ihrer weitverzweigten Familie. Dabei geht sie nicht streng chronologisch vor, sondern springt zwischen den Zeiten hin und her. Oft greift sie vor, dann wieder nimmt sie zurückliegende Erzählfäden auf oder schweift ab. So erschließt sich nach und nach die komplexe Figur der Elisabeth und man kommt ihr erst gegen Ende wirklich nahe.
Ärztin zu sein ist für Elisabeth mehr als ein Job, sie versteht ihn als Berufung. Das Thema Medizin und Medizingeschichte nimmt deshalb auch einen breiten Raum im Roman ein.
Einen noch größeren Einfluss auf Leben und Alltag der Protagonistin haben die historischen Zeitumstände, allen voran die beiden Weltkriege. Judith W. Taschler verknüpft dabei die gut recherchierten geschichtlichen Hintergründe meist sehr gekonnt mit der Romanhandlung. Manches wird aber auch nur aufgelistet, nach dem Motto : Was geschah sonst noch in der Welt? ( Amüsiert zur Kenntnis genommen habe ich, dass die Veröffentlichung des ersten Romans von Franz Werfel „Verdi. Roman der Oper“ im neu gegründeten Zsolnay Verlag Erwähnung findet.)
Lakonisch und gänzlich unsentimental wird uns hier das Leben einer kämpferischen und fortschrittlich denkenden Frau präsentiert, ein Leben mit einigen Höhen und vielen Tiefen.
Der Roman endet mit der Frage, was entscheidend ist für das Leben eines jeden von uns. „ Was macht einen Menschen zu dem, was er ist? Was prägt ihn? Der Kopf und das Temperament. Hör auf dein Temperament….Bis zu einem gewissen Teil prägt einen auch die Familie, aus der man kommt.“ Doch Elisabeth hält nichts davon, die Verantwortung auf andere abzuwälzen. „ Geh davon aus, dass du allein die Verantwortung für dein Handeln trägst, und leb dein Leben danach.“ Diesen klugen Rat erteilt sie ihrer Großnichte. „ Und abgesehen von der Zeit, in die man hineingeboren wird und deren Unwägbarkeiten man sein Leben lang hinterherhechelt, gibt es auch noch Begegnungen mit Menschen, die direkt oder indirekt Einfluss auf uns nehmen.“
Genau all diese Aspekte greift der Roman auf: die eigene Persönlichkeit, das Elternhaus und die Familie, die Zeitumstände und die Menschen, die wichtig werden für das eigene Dasein.
Mit „ Nur nachts ist es hell“ ist Judith W. Taschler wieder ein unterhaltsamer Roman gelungen, der zwar nicht ganz an seinen Vorgänger heranreicht, aber sich zu lesen lohnt.
Der Anfang des Buches war nicht einfach für mich – fühlte ich mich doch von der Menge der Protagonisten fast erschlagen! Kein Wunder: mir fehlte ja der Vorgänger-Band ‚Über Carl reden wir später‘.
Doch nach kurzer Zeit wusste ich, um was es geht, wem Elisabeth in den 70er Jahren ihre Lebens- und Familiengeschichte erzählt und auch wie die Familienverhältnisse zusammenhingen. Große Erzählkunst!
Wir erfahren vom Elternhaus mit 3 Brüdern und dem verwirrenden ‚Spiel‘ der Zwillingsbrüder Carl und Eugen, den Liebes-Beziehungen von Elisabeth und ihrer Ehe mit Georg, der mit nur mehr einem Arm vom 1. Weltkrieg zurückkam. Ihre Berufsausübungen als Krankenschwester im 1. Weltkrieg, ihr Studium (mit den Herausforderungen dieser Zeit für Frauen) und ihre spätere Berufsausübung als Ärztin sind ein großes Thema und dabei serviert die Autorin auch gleich die Geschichte der Medizin, mitsamt der rechtlichen Lage von Abtreibungen und ihren Auswirkungen.
Begeistert hat mich der gut recherchierte historische Hintergrund! (Geschmunzelt habe ich bei der Erwähnung des neu gegründeten Verlags Zsolnay vor 100 Jahren – sehr charmant!) Und einen persönlichen Bezug habe ich auch zu einer erwähnten historischen Begebenheit mit weltpolitischen Auswirkungen: mein Großvater (*1891 im Sudetenland und vom Kriegsdienst wegen eines Herzleidens freigestellt, er wurde übrigens knapp 89 Jahre alt!) bewachte den Attentäter von Sarajevo, Gavrilo Princip, im nahegelegenen Theresienstadt in der Isolationshaft. Diese Aufgabe war oft Thema in meiner Familie gewesen!
4 Sterne vergebe ich diesem vielseitigen Werk und empfehle es allen, die Freude an gut erzählten Familiengeschichten haben.
2. Teil der Familienchronik und Lebenserinnerungen der Tochter
„Nur nachts ist es hell“ ist die Fortsetzung des großen Familienromans über die Mühlviertler Familie Brugger , deren erster Teil „Über Carl reden wir morgen“ ist.
Elisabeth ist das jüngste der vier Brugger-Kinder. Zusammen mit ihren Brüdern, den Zwillingen Eugen und Carl, und Gustav wächst sie behütet auf dem Familiengut auf. Der Erste Weltkrieg fügt der Familie Brugger großes Leid zu, keiner kann nach den Ereignisses ein unbeschwertes Leben weiterführen. Elisabeth, die für ihre Großnichte Christina die Familiengeschichte aufzeichnet, erzählt über ihr Leben und bindet darin die Schicksale ihrer Brüder und Eltern mit ein. Während des Krieges arbeitet sie als Lazarettschwester, und studiert später in Wien Medizin. Sie heiratet den besten Freund ihres geliebten Bruder Gustavs, der versehrt von der Südfront zurückkehrt und ist in der gemeinsam geführten Praxis u. a. als Gynäkologin tätig. Wiederum bleibt die Familie Brugger von Leid und Freud, Verstrickungen und Schicksalsschläge während der Zwischenkriegszeit und des 2. Weltkrieges nicht verschont.
Meine persönlichen Leseeindrücke
Wer eine Familie und einen Stammbaum, der mehrere Generationen umfasst, vorweisen kann, weiß um die Bedeutung von überlieferten Familiengeschichten, die diese begrenzte, ganz subjektive, kleine Familienwelt, in die man geboren wird, greifbar, verständlich und kostbar machen. Meist ist es die ältere Generationen, die erzählt und die jüngste, die gespannt und wissbegierig zuhört, um eingebettet im Flair vergangener Zeiten, von Ereignissen zu erfahren, die eine Familie bis in den heutigen Tag prägen.
Unter diesem Aspekt lese ich fasziniert den 2. Teil der Familienchronik. Es sind Lebenserinnerung von Elisabeth, die sie für ihre junge Großnichte aufzeichnet um ihr nicht nur zu sagen, aus welcher Familie sie stammt, sondern um ihr die geschichtlichen und politischen Begebenheiten zu erklären, die einschneidende, drastische Konsequenzen für die Familie Brugger hatten.
Die intimen Einblicke in Elisabeths Familienleben berühren mich sehr und auch wenn es zeitlich oft hin und her geht, so entspricht diese Erzählweise doch der Art, wie es ältere Mensch meist machen. Wie immer, wenn man sich lang zurückliegende Ereignisse ins Gedächtnis ruft, kommen diese nicht chronologisch geordnet sondern eher in Wellen wieder, in kleinen, zufälligen Happen, und sie springen immer wieder vor- und rückwärts in der Zeit. Durch die Ich-Form, die Judith W. Taschler bewusst verwendet, spüre ich eine engere Verbindung zu Elisabeth und durch sie zu ihren geliebten Brüdern. Es ermöglicht mir, die komplexe Gedanken- und Gefühlswelt auf eine sehr direkte Art und Weise zu verstehen, und ich bin sofort mitten im Geschehen. Diese Authentizität und die kleinen Bekenntnisse, deren Mitwisserin ich nun geworden bin, haben mich regelrecht in diesen Roman verlieben lassen.
Unter Umständen kann der Leser, der den 1. Teil der Familiengeschichte „Über Carl reden wir morgen“, der 2021 erschien, nicht kennt, mit Elisabeths Aufzeichnungen hadern. Liebhaber chronologisch geordneter Handlungsstränge sollten dies bei der Buchwahl berücksichtigen.
Fazit
Im zweiten Teil der Geschichte der Familie Brugger aus dem Mühlviertel „Nur nachts ist es hell“ erzählt die Tochter Elisabeth über jene Ereignisse, die nach dem ersten Weltkrieg bis hin in die 50ger Jahre, die Familie Brugger entschieden geprägt haben. Der Roman ist eine gelungene Fortsetzung der Familienchronik, erzählt von Elisabeth, der einzigen Tochter Carl Bruggers, einer für die damalige Zeit außergewöhnlichen, starken Frau.