Die Stadt und ihre ungewisse Mauer: Roman
Mein Hör-Eindruck;
„An jenem Sommerabend wanderten wir, den süße Duft von Gräsern atmend, flussaufwärts. ... Das klare kühle Wasser umspülte unsere Knöchel, und unsere Füße sanken tief ein in den feinen Flusssand – wie in weiche Wolken wie in einem Traum. Ich war siebzehn, du ein Jahr jünger.“
So poetisch beginnt Murakamis neuer Roman: mit den Erinnerungen ein eine Jugendliebe, die er zeit seines Lebens nicht vergessen kann. Die Suche nach dieser Jugendliebe ist der Motor des Romans. Das namenlose Mädchen ist es nämlich, die ihm von der „Stadt mit den ungewissen Mauern“ erzählte. In dieser Stadt lebe ihr wahres Ich, hier auf dieser Welt sei sie nur ein Schatten dieses Ichs.
Die Sehnsucht nach dem Mädchen und der geheimnisvollen Stadt macht den Protagonisten zu einem einsamen und ständig suchenden Menschen. Die Stadt wird bewacht von einem mächtigen Wächter – man denkt an Kafka. Sie wird beherrscht von einer großen Bibliothek, kann nur von goldenen Einhörnern und von Menschen ohne Schatten betreten werden. Auch das Motiv ist bekannt, z. B. aus Volksmärchen und Adalbert v. Chamissos „Peter Schlemihl“: der Mensch verkauft seinen Schatten an eine übernatürliche Macht, um Vorteile – Geld, ewiges Leben – zu erlangen. Der Vorteil in diesem Roman besteht darin, in eine andere Realität zu gelangen und eine andere Identität zu leben.
Mit diesen Realitäten beginnt der Autor ein fein konstruiertes Spiel. Beide Realitäten bestehen nebeneinander. Die eine ist geprägt von der Zeit, die andere nicht; in ihr hat der Uhrturm keine Zeiger, und das Ablaufen der Zeit ist aufgehoben. Eine weitere Realität erschafft er mit dem Inventar der Bibliothek: hier werden Träume gesammelt, und das Traumlesen wird zur Lebensaufgabe des Protagonisten. Der Inhalt der Träume? Das lässt der Autor offen.
Mit den Realitäten verbunden sind die verschiedenen Bewusstseinsebenen, die Frage nach dem Ich und dem zweiten Ich, dem Schatten-Ich, Verschwinden und Materialisieren, Geister und reale Menschen, und alle diese Ebenen vermischt der Autor mit leichter Hand. Dadurch erhält der Roman eine merkwürdig schwebende Konsistenz, wie Seifenblasen, die in der Luft schweben und nicht eindeutig zu fassen sind. Die vielen Wiederholungen, v. a. bei den Erinnerungen an das junge Mädchen seiner Jugend, tragen zu diesem Eindruck bei; sie wirken wie ein Singsang, der den Leser einlullt. Etwas weniger Wiederholungen hätten dem Roman aber durchaus gutgetan.
Ausgesprochen witzig fand ich daher, wie der Autor einen Kontrapunkt schafft und die uns bekannte Realität in den Roman hineinholt: der Protagonist kauft ein, er wäscht und bügelt seine Hemden und gibt sich allen möglichen Haushalts-Tätigkeiten hin – und zwar immer montags. Sein Alltag ist also streng geordnet und der Zeit unterworfen, und umso schwebender werden die anderen Realitäten.
Das Hörbuch wurde eingelesen von David Nathan. Sein Vorlesen erleichtert den Zugang zum Roman. Seine Art, sehr oft am Satzende die Stimmkurve nach oben zu führen, verleiht dem jeweiligen Satz etwas Offenes und Fragendes. Das kann einen stören. Man kann diese schwebenden Satzenden aber auch als Interpretation sehen, passend zum schwebenden Inhalt.
Fazit: ein langatmig komponierter Roman mit großer Sogkraft!
4,5 von 5*
Loblied auf Esoterik und Passivität.
Kurzmeinung: Vernebeltes Machwerk. LSD-Trip?
Der namenlose Protagonist - jedenfalls kann ich mich an keinen Namen erinnern – verliebt sich als er 17 Jahre alt ist in eine 16-jährige, die eine oder zwei Bahnstunden von ihm entfernt wohnt. Wahrscheinlich sind wir in Tokio. Sie erwidert seine Gefühle, meint aber, sie brauche für alles viel, viel Zeit. Eine ihrer gemeinsamen Beschäftigungen ist es, im Park auf einer Bank zu sitzen und sich Phantasien auszudenken, u.a. phantasieren sie sich eine imaginäre Stadt zusammen, schmücken sie mit immer noch mehr Einzelheiten aus und der Protagonist notiert sich alles haarklein in seinem Notizbuch. So weit ist die Story ganz charmant und hätte für einen zweiten Stern gereicht, hätte der Autor mir nicht im Nachwort erklärt, für wie ausgereift er sein Werk hält. *hüstel*.
Eines Tages verschwindet das Mädchen jedoch, warum? - beantwortet keine Briefe und keine Telefonate. Anstatt nun echte Nachforschungen zu betreiben, zur Not einen Privatdetektiv heranzuziehen, auf alle Fälle aber zu ihrem Haus zu gehen, in deren Schule, etc. etc., zur Polizei, auf Antworten zu insistieren - versinkt der Protagonist in eine Depression, die nie ganz weicht, obwohl das Leben fortschreitet. Eines schönen Wintertages fällt der Protagonist in eine Grube– und schwupps befindet er sich in der imaginierten Stadt, wo er das Mädchen vermutet. Tatsächlich ist dort ein ähnliches Wesen zuhause– dieselbe ?– die ihm in der Bibliothek scheußliche Tees kocht. Wer nun meint, es gäbe endlich eine Aussprache, der irrt sich gewaltig. Man macht Spaziergänge und bringt nichts zur Sprache. Man lässt das Leben passiv über sich ergehen. Tolle Botschaft. Dass man in der Stadt keinen Schatten haben darf, ist ein nettes Goodie, hat aber rein gar nichts zu bedeuten. Wie alles andere auch nicht. Auch Einhörner treiben ihr Wesen - und auch sie haben nichts zu bedeuten.
Der Kommentar und der Leseeindruck:
Die Übergänge zur mystischen Stadt, zweimal hin und zweimal her, löst der Autor simpel, es gibt mehre Möglichkeiten: man muss es nur ganz feste wollen, man fällt in einen Schlaf und wacht im Drüben oder Hüben auf, man stürzt sich in einen Fluss, je nachdem, wie es gebraucht wird, ich rolle die Augen!
Die Beschreibungen der Stadt, in der die Zeit still steht und der Protagonist in einer Bibliothek Träume liest statt Bücher – was für eine Verschwendung! – man erfährt nie, was das für Träume sind – sind ja ganz hübsch, aber so ziel und bedeutungslos wie eigentlich alles in diesem Roman.
Poetische Formulierungen sind nicht alles. Die kann Murakami. Wenn es aber an einem vernünftigen Plot fehlt, fehlt es an allem. Murakami baut immer wieder spannende Szenen auf, um sie dann einfach zusammenfallen zu lassen wie Seifenschaum, ob das nun die Erscheinung eines längst toten Bibliotheksbesitzers ist, mit dem man endlos Tee trinkt und sinnfreie Gespräche führt über Nichts und Widernichts, ob es die mystische Vereinigung mit einem autistischen Jungen ist, mit dessen Geist man sich nach der Vereinigung im tiefen Inneren der Seele trifft zu einem gemütlichem Plausch im Kerzenschein– nichts ergibt je einen Sinn. Dies allerdings in endlosen Schleifen schöner blenderischer Sätze erzählt, die wiederum ins Nichts führen.
Lebensbejahend ist dieser Roman nicht, es ist ein endloses depressives esoterisches Hinterhertrauern vergangener unerfüllter Liebe: erinnert mich an die Romantik von Novalis. Schwülstig, surreal, psychedelisch, auf dem Trip. Und ein Loblied darauf, das Leben passiv an sich vorüberziehen zu lassen, auf jede tätige Einwirkung zu verzichten. Vielleicht ist das ja japanische Lebensphilosophie. Meine nicht.
Und dass David Nathan so liest als ob jeder Satz eine Frage wäre, nervt unendlich und trägt nicht dazu bei, den Roman hochzulesen. Im Gegenteil. Man kann natürlich aus allem ein Geheimnis machen, selbst aus dem Halten einer Teetasse. Man kann alles in Frage stellen. Gesund ist das nicht. Das Geheimnis ist nämlich, dass es kein Geheimnis hinter den Dingen gibt und dass Tatsachen Tatsachen sind und nichts anderes. Das krampfhafte Bestreben des Autors in diesem Roman hinter der Realität eine unsichtbare irreale Welt zu vermuten und zu kreieren, geht mir so was von auf den Senkel, ich halte es, wie gesagt, direkt für ungesund.
Fazit: Furchtbar. Eigentlich noch furchtbarer als furchtbar. Wenn ich diesen Roman gelesen und nicht gehört hätte, wäre ich in der Klapsmühle gelandet. Totsicher. Vorgelesen hat mir die ruhige Atmosphäre zu vielen langen Spaziergängen verholfen. Und ich weiß jetzt, was "ein Murakami" ist. Nämlich nichts für mich.
JAHRESFLOP.
Kategorie: Esoterik
Hörbuch Hamburg am 12.01.2024