Das andere Tal
Auf die Lektüre des Buches "Das andere Tal" von Scott Alexander Howard habe ich mich schon gefreut, seit ich das erste Mal davon gelesen habe, worum es in diesem Buch geht: eine Welt, die aus lauter fast identischen Tälern besteht, deren einziger Unterschied ist, dass sie jeweils in der Zukunft oder in der Vergangenheit liegen. In diesen Städten gibt es die gleichen Landschaften, die gleichen Gebäude, grundsätzlich auch die gleichen Menschen... jeweils 20 Jahre früher oder später.
Das macht natürlich mögliche Reisen zwischen den Tälern sehr attraktiv... wer würde nicht gerne wissen, was in Zukunft aus ihm wird, oder noch einmal liebe Menschen aus der Vergangenheit sehen?
Da solche Reisen aber mit großen Risiken verbunden sind - ändert sich auch nur eine Kleinigkeit in der Vergangenheit, kann das völlig unvorhersehbare Auswirkungen auf die Zukunft haben - sind sie nur in Ausnahmefällen, meist Trauerfällen gestattet. In diesen Fällen muss ein persönlicher Antrag auf eine solche Trauerreise gestellt werden, der dann vom sogenannten Conseil angenommen oder abgewiesen wird.
Vor diesem Hintergrund lernen wir die jugendliche Odile und weitere Bewohner des Tals kennen und erleben auf knapp 450 Seiten ihr Leben und ihre Entwicklung in dieser Welt, mit allen möglichen philosophischen Fragen, die diese stellt.
Das Buch ist in gut lesbare Kapitel geteilt und die Handlung ist überwiegend sehr spannend, jedoch mit einigen Längen zwischendurch. Manche für das Buch eher irrelevant scheinenden Themen werden bis in ganz viele Details abgehandelt, was es zwischendrin dann manchmal etwas langweiliger und mühsamer zum Lesen macht, während für die wirklich spannenden philosophischen Fragen manchmal (für meinen persönlichen Geschmack) zu wenig Raum bleibt und auch am Ende noch einige dieser Fragen und einige aufgeworfene Themen offen und ungeklärt bleiben. Hier hätte ich mir noch eine sorgfältigere Überarbeitung gewünscht, die an manchen Stellen präzisiert und gekürzt und andere dafür präzisiert und ausgebaut hätte. Für ein Debüt ist es dennoch insgesamt auf gutem literarischen Niveau.
Atmosphärisch ist das Buch sehr düster und spielt in einer harten, kalten, dystopischen (und auch frauenfeindlichen) Welt. In dieser Welt gibt es nur wenig echte Freundschaft oder Mitgefühl zwischen den Menschen und man kann aufgrund eines kleinen Fehlers, eines Verrats eines anderen oder einfach nur, weil man gerade Pech hat, sehr schnell ganz unten in der Gesellschaft landen, und das ist in dieser Gesellschaft noch um vieles härter als in den meisten mitteleuropäischen Ländern heutzutage, was auch ausgiebig beschrieben wird. Es werden auch diverseste Formen menschlichen Leids, von körperlicher Gewalt bis hin zu Mord, geschildert.
Ich empfehle das Buch also nur Menschen, die bereit sind, sich bewusst auf so ein nicht nur spannend-philosophisches, sondern auch hartes und thematisch heftiges Buch einzulassen... es ist definitiv keine aufheiternde oder locker-flockige Urlaubslektüre (als solche ist es aber auch nicht angekündigt) und es macht nachdenklich, ist aber an sich nicht unbedingt stimmungsaufhellend und braucht eine gewisse psychische Stabilität, um es gut auszuhalten.
Insgesamt ist es ein spannendes Buch, das sehr zum Nachdenken über die Themen Wahlfreiheit, alternative Universen und Determinismus anregt. Ich mag solche Bücher sehr und werde sicher noch einige Zeit darüber nachdenken.
Die junge Odile wohnt in einem ganz besonderen Tal. Dieses Tal gibt es nämlich gleich mehrmals parallel, aber immer 20 Jahre zeitversetzt. Die Täler sind durch eine scharf bewachte Grenze voneinander getrennt. Nur um verstorbene Verwandte zu sehen, kann man sie besuchen.
Odile erkennt zufällig die Eltern ihres besten Freundes Edme als eine dieser Besucher und weiß nun, dass er bald sterben wird. Doch sagen darf sie nichts.
Der Autor hat hier eine ganz tolle Dystophie geschaffen, welche einen so schnell nicht mehr loslässt. Alle Charaktere durchleben mehrere Wendungen und erscheinen mal mehr, mal weniger sympathisch.
Man fragt sich, wie man selbst gehandelt hätte, wenn man sich den Konsequenzen gar nicht so sicher sein kann. Das System schein auf dem ersten Blick gar nicht so schlimm, doch umso weiter man in die Story eintaucht, umso grausamer mag es einen erscheinen.
Am Anfang wollte ich diese spannende Story ganz schnell lesen, aber das war nicht so einfach, da der Autor keinerlei Anführungszeichen für die wörtliche Rede setzt und er den Leser somit zwingt, mehr achtsam zu lesen. Erst fand ich das etwas störend, aber der Autor hat schon Recht, man sollte sich Zeit für das Buch nehmen. Der Spannung tut dies jedenfalls keinen Abbruch.
Am Ende werden auch nicht alle Fragen beantwortet und ich habe noch etwas länger über dieses Buch nachgedacht, als ich dies gewöhnlich tue.
Und genau deshalb, kann ich es nur weiterempfehlen.
Von Zeit zu Zeit gibt es immer mal wieder Debatten über die Existenz von Parallelwelten. Die Idee, in verschiedenen Ebenen gleichzeitig zu existieren hat etwas Faszinierendes. Viele Fragen ergeben sich, wenn man über die Verwobenheit der verschiedenen Ebenen nachdenkt. Um diese Thematik kreist der Roman "Das andere Tal" von Scott Alexander Howard. Im Mittelpunkt der Geschichte steht die 16jährige Odile, die in einem kleinen Dorf eines Tals lebt, das eine Besonderheit aufweist, denn westlich angrenzend befindet sich das identische Dorf, jedoch 20 Jahre in der Vergängenheit, östlich davon widerum das identische Dorf 20 Jahre in der Zukunft. Dies ist die Ausgangskonstellation für das Gedankenexperiment, das Howard anstellt. Es geht um Zeitreisen und die Frage, ob Eingriffe in vergangengen Zeiten möglich sind, und welche Konsequenzen sich daraus gegenenfalls für die Gegenwart und Zukunft ergeben.
Odiile geht zunächst noch zur Schule. Es geht um die Berufsfindungsphase. Es scheint klar, dass Odile eine Position im begehrten Council anstrebt, der über die Möglichkeiten und Grenzen von Talbesuchern entscheidet. Sie hat es in derr Schule nicht leicht, wird aber von Alan und Edme unterstützt. Doch irgendwann erfährt sie zufällig, welches Schicksal Edme bevorsteht und wird vor die Frage gestellt, ob und wie sie eingreifen sollte und welche Konsequenzen daraus erwachsen könnten?
Das Buch beginnt spannend und löst einen gewissen Sog aus. Howard kann schreiben und seine Leserschaft fesseln. Doch es dauert einige Zeit, bis der Roman am Hauptpunkt angekommen ist: der Frage, die Odile vor eine Gewissensprobe stellt. Dann gibt es einen recht harschen Bruch und man folgt der um 20 Jahre gealterten Odile, die nun als Gendarmin arbeitet. Ab da hat die Geschichte mich immer mehr verloren. Ich konnte mich auf die konkrete Zeitreise nicht voll einlassen und befürchtete immer mehr ein Jugendbuch-Verlauf mit klassischen Happy End. Das Ende hat mich nicht nur enttäuscht, sondern sogar verärgert.
Alles in allem glaube ich, es ist einfach auch nicht mein Thema. Das Buch an sich ist durchaus gut erzählt und spannend geschrieben. Daher würde ich dem Autor ggfs. bei einer anders angelegten Thematik auch noch mal eine Chance geben.
Die 16jährige Schülerin Odile lebt in einem Tal, das im Osten und Westen von völlig identischen Tälern begrenzt wird. Einziger Unterschied ist die Zeit, denn in dem einen Tal leben die Menschen zwanzig Jahre zuvor, in dem anderen zwanzig Jahre in der Zukunft. Die Grenzen werden bewacht, ein Überschreiten ist streng verboten und nur auf Antrag und in Begleitung möglich. Entschieden wird darüber von den Mitgliedern des Conseils, deren Autorität nicht in Frage gestellt wird. Die genauen Kriterien, warum Besuche gestattet oder abgelehnt werden, sind nicht transparent.
In der Schule herrscht ein autoritärer Unterrichtsstil, zu dem auch ganz selbstverständlich körperliche Züchtigungen gehören. Obwohl Odile augenscheinlichlich gemobbt wird, schreitet der Klassenlehrer nicht ein, lediglich Alan und Edme, zwei Mitschüler, stellen sich auf ihre Seite.
Am Ende des Schuljahres steht der Übergang in die Ausbildung bevor, am begehrtesten ist natürlich die Aufnahme in die Ausbildung am Conseil. Zunächst bewirbt Odile sich nur, weil es ihrer Mutter so wichtig ist. Doch ein Erlebnis hat Odile zutiefst irritiert, ohne dass sie darüber sprechen konnte. Sie hat Edmes Eltern als Besucher aus der Zukunft gesehen, sie weiß also, dass Edme sterben wird, ohne den genauen Zeitpunkt oder die Ursache zu kennen. Durch einen Zufall erfährt ihr Lehrer davon und empfiehlt sie deshalb für die Ausbildung. Für sie selbst überraschend, beginnen die herausfordernden Aufgaben sie zunehmend zu faszinieren und ihren Ehrgeiz zu wecken. Gleichzeitig ändert sich ihr Status bei ihren Klassenkamerad:innen und sie wird Teil einer Clique. Insbesondere zu Edme fühlt sie sich hingezogen, ohne ihm von ihrem Wissen über seinen bevorstehen Tod zu berichten.
Während dieses ersten Teils liest sich der Roman wie ein Jugendbuch, in dem es im Rahmen einer Dystopie um die ganz typischen Themen wie Außenseitertum, Mobbing, erste Liebe und langsames Erwachsenwerden geht. Gerade Odile wirkt in einigen Szenen viel jünger als 16 Jahre, um dann aber insbesondere im Zusammenleben mit ihrer Mutter viel zu erwachsen für das Alter zu handeln und zu denken. Insgesamt wirkt Odile sehr beherrscht und zeigt viel weniger Emotionen, als zu erwarten wären.
Der zweite Teil spielt 20 Jahre später. Sprachlich unterscheidet er sich gravierend von Teil I. Auch die Stimmung ist viel düsterer, von Aufbruchstimmung keine Spur. Odiles Dasein lässt sich nur als trist und monoton beschreiben, ihre Wünsche sind bescheiden. Doch dann geschehen einige Dinge, die sie aus ihrer Erstarrung aufwecken und Gedanken in Gang setzen, die sie bisher nicht zugelassen hat.
Der promovierte Philosoph Scott Alexander Howard erinnert mit seinem ersten Roman an berühmte Vorbilder, in denen es um autoritäre Systeme oder um klassische Zeitreisen geht. Diese beiden Themen verknüpft er geschickt und unterhaltsam, fordert seinen Leser:innen aber auch einiges an Konzentration ab. Unweigerlich stellt man sich die Frage, wie man selbst handeln würde. Was würde geschehen, wenn man die Vergangenheit ändern könnte? Welche Auswirkungen hätte das, nicht nur für die eigene Person, sondern für ganze Systeme?
Das andere Tal ist kein Wohlfühlbuch, dafür ist die Atmosphäre über weite Strecken zu düster. Der erste Eindruck, es könnte ein Jugendbuch sein, ist spätestens zu Beginn des zweiten Teils verflogen.
Auch Odile, die die tragende Figur des Romans ist, eignet sich nicht als Identifikationsfigur, obwohl sie letztlich eine Sympathieträgerin ist. Ebenso wie sie sind die anderen Hauptcharaktere überzeugend herausgearbeitet.
Klare Leseempfehlung für Leser:innen, die sich auf das Thema einlassen mögen und sich von düsteren Szenarien nicht abschrecken lassen.
Scott Alexander Howard hat sich mit seinem Roman "Das andere Tal" dem Thema Zeitreisen und deren mögliche Folgen verschrieben. Fast jeder hat sicher schon mit dem Gedanken gespielt, was passieren könne, wenn man in die Zukunft oder in die Vergangenheit reisen dürfte.
Odile ist sechzehn und wird von ihrer Mutter bedrängt zu versuchen in das Auswahlverfahren des Conseil zu gelangen. Sie selbst hat diesen begehrten Posten damals nicht bekommen, und arbeitet dort nun lediglich im Archiv. Odile ist ein zurückhaltender Typ, so dass es zu Beginn der Lektüre fast aussichtslos erscheint, dass gerade sie diese Chance bekommen soll.
Das Conseil ist eine Organisation, die sich um Belange der Täler kümmert, und eventuelle Reisen zwischen diesen befürwortet oder ablehnt. Zum Verständnis dazu ist es wichtig zu wissen, dass sich neben dem Tal in dem Odile lebt, zu zwei Seiten noch andere Täler befinden, die jeweils 20 Jahre vor, bzw 20 Jahre nach der aktuellen Zeit in Odiles Tal vorhanden sind. So ist es also möglich, sich selbst in der Zukunft oder in der Vergangenheit zu besuchen, was allerdings fatale Folgen haben kann, denn jede Änderung kann einen enormen Rattenschwanz nach sich ziehen…..
Als Odile die Eltern ihres Freundes Edme aus der Zukunft sieht, weiß sie bald, dass dies mit einem schlimmen Ereignis in Verbindung stehen muss….Edmes Tod.
Der Autor reißt dieses schreckliche Ereignis nur kurz an, und katapultiert den Leser dann ein ganzes Stück weiter, und lässt ihn die ältere Odile begleiten. Natürlich hat Edmes Tod etwas ausgelöst, nicht nur bei Odile, auch bei seinem besten Freund Alan, und natürlich bei den Eltern. Der weitere Verlauf der Handlung überraschte mich dann vor allem zum Ende hin. Die Gehirnwindungen bekommen jedenfalls reichlich Input, denn man muss ständig überlegen, wie alles zusammenhängt, und was passieren könnte, sollte jemand rückwirkend in die Geschehnisse eingreifen. Einige Erklärungen zu den paradoxen Phänomen wirken ein wenig hölzern, oder werden gar nicht thematisiert, wahrscheinlich hatte auch der Autor nicht für alles eine stimmige Erklärung parat, aber darüber konnte ich hinweg sehen.
Die Handlung hat mich zum Großteil überzeugt und war sehr spannend, daher gibt es eine Leseempfehlung von mir!
Dieses abgeschottete Tal zwischen steilen Hängen ist anders als andere Täler. Denn überwindet man die Hänge Richtung Westen, trifft man das identische Tal mit den gleichen Häusern, Straßen und Bewohnern 20 Jahre früher, Richtung Osten 20 Jahre später. Die Grenzen werden scharf bewacht und nur in Trauerfällen, um nochmal Abschied zu nehmen, sind Besuche unter strengen Voraussetzungen gestattet. Damit dies eingehalten wird, dafür sorgt das Conseil, die oberste Behörde.
Das ist die Welt, in der wir uns in dem Debütroman von Scott Alexander Howard, übersetzt von Anke Caroline Burger, bewegen. Wir müssen uns also mit Zeitreisen auseinandersetzen, vornehmlich mit Reisen in die Vergangenheit und die Chancen und Gefahren, die diesen Reisen zugrunde liegen.
Protagonistin ist Odile, ein einsames, sechzehn Jahre altes Mädchen, eine Außenseiterin ohne wirkliche Freunde. Sie befindet sich in ihrem letzten Jahr an der Schule, an dem sie sich zusammen mit ihren Klassenkameraden entscheiden muss, welchen beruflichen Weg sie einschlagen will. Auf Drängen ihrer Mutter entschließt sich Odile, am Auswahlverfahren für das Conseil teilzunehmen. Doch zuvor macht Odile eine Beobachtung, die sie nicht hätte sehen dürfen: Sie erkennt die Eltern ihres Freundes Edme Pira bei einem Besuch in ihrem Tal. Das kann nur bedeuten, dass Edme bald sterben wird. Odile wird verpflichtet, Stillschweigen zu bewahren und gleichzeitig Edme im Auge zu behalten. Dabei nähert sie sich Edme mehr und mehr an und gerät in einen immer stärkeren Konflikt. Was sich anfangs noch wie eine Coming of Age Geschichte liest, verändert sich im Mittelteil deutlich. Während Odile anfangs von der Außenseiterin langsam eine Integration in eine Gruppe, erste Erfolge im Auswahlverfahren des Conseils und eine zögerliche Annäherung an Edme erlebt, ist sie im Mittelteil, der 20 Jahre später spielt, gescheitert. Als Gendarmin fristet sie beim Bewachen der Außengrenzen ein trostloses Leben und wieder erfährt sie zufälligerweise Details, die sie nicht wissen sollte.
Wie beeinflusst Odiles Wissen nun ihren weiteren Lebensweg und ihre Entscheidungen für ihre weitere Karriere? Und ist Wissen wirklich Macht? Auch diese Frage stellt sich während der Lektüre des Romans mehrmals.
Es ist die große Stärke des Romans, dass er uns immer wieder zum Nachdenken anregt, zu eigenen Überlegungen und zur Reflexion der eigenen Gedanken. Wie würden wir handeln, wenn wir die Möglichkeit hätten, Einfluss auf die Vergangenheit zu nehmen?
Odile hält sich zunächst an das ihr auferlegte Schweigegebot. Sie nimmt keinen Einfluss auf Edme und seine Familie und verhindert die aufziehende die Katastrophe nicht. Doch reißt ihr sein Verlust derartig den Boden unter den Füßen weg, dass sie das Auswahlverfahren schließlich hinwirft und Gendarmin wird. Als Gendarmin, ist sie weiterhin sehr regimetreu, befolgt die Anweisungen und Vorgaben und lebt ein tristes, wie erstarrtes Leben. Erst als sie wieder zufällig ein Detail sieht, das sie nicht sehen sollte, beginnt sie ihre Starre zu durchbrechen um ihre Zukunft zu ändern.
Ab hier nimmt der Roman an Fahrt auf, wird zunehmend spannender und läuft auf die große Frage zu: Kann man die Vergangenheit ändern, um die Gegenwart zu beeinflussen? Ja, hier macht es sich der Autor leicht und lässt mögliche Paradoxen und Verstrickungen aus, führt aber – zumindest für meinen Geschmack – die Geschichte zu einem runden Ende.
Als letzter Punkt möchte ich die sprachliche Gestaltung erwähnen: Auch wenn der Text sprachlich nicht hochkomplex elaboriert wirkt, so entwickelt der Sprachstil einen kontinuierlichen Lesefluss, der den Leser fesselt. Die Spannung, die sich nach und nach aufbaut, tut ihr übriges dazu. Besonders sind eingestreute fast schon lyrische Passagen zu erwähnen, wenn es um Naturbeschreibungen im tristen Alltag Odiles geht. Hier beweist der Autor großes Sprachgefühl.
Insgesamt ist ein besonderes Buch, das zum Nachdenken anregt, spannend zu lesen ist und den Leser längere Zeit begleitet. Auch wenn es ein paar Schönheitshelfer hat, kann ich es dennoch empfehlen!
Odile ist 16 Jahre alt und lebt in einem begrenzten Tal - es ist abgeschirmt durch strikte Grenzzäune und keinem ist es erlaubt, diese zu überschreiten. Außer die Bewohner:innen stellen einen Antrag - meist im Trauerfall. Denn im Westen existiert das selbe Tal, nur 20 Jahre in der Vergangenheit, wohingegen sich im Osten das Tal 20 Jahre in der Zukunft befindet. Alleinig die jeweiligen "Conseils" entscheiden, ob der oder die Antragssteller:in reisen darf. Odile entscheidet sich, an der Aufnahmeprüfung für die Schule der Conseils teilzunehmen, um ihren beruflichen Weg in dieser hochangesehenen Tätigkeit zu bestreiten. Doch ein folgenschweres Ereignis verändert ihre Pläne - und somit auch Zukunft und Vergangenheit...
Der kanadische Autor und Philosoph Scott Alexander Howard präsentiert mit "Das andere Tal" sein literarisches Erstlingswerk. Er besticht durch eine atmosphärische, bildgewaltige Sprache, die einen umgehend in diese ganz besondere Welt versetzt. Howard beherrscht die Kunst, die Erzählung voranschreiten zu lassen, ohne dass geahnt werden kann, in welche Richtung sie sich entwickelt. Dabei begleiten einen stets philosophische Denkanstöße über Vergangenheit, Gegenwart und Zukunft, Gut und Böse, Recht und Unrecht. Erst im Laufe der Zeit wird einem bewusst, dass es sich bei der hier geschaffenen Welt wohl um eine Diktatur handelt, die unbarmherzig mit ihren Bewohner:innen umgeht. Alle haben ihren vorbestimmten Weg, haben sich an die Regeln zu halten, haben keine zweite Chance verdient. Erstaunlich ist, dass sich scheinbar keiner mit diesem strikten Regelwerk auseinanderzusetzen und widersetzen zu scheint, (fast) alle nehmen ihre Lebensumstände als gegeben hin.
Ein besonderes Highlight ist die Hauptprotagonistin Odile. Sie erzählt in der Ich-Form, man bekommt viele Einblicke in ihre Gedankengänge, bis zum Schluss ist es jedoch nicht möglich, sie zu charakterisieren, geschweige denn einzuordnen. Sie scheint ein sehr regelkonformer Mensch zu sein, der sich seinem Schicksal ergibt - allerdings täuscht man sich hier, wie in einigen anderen Aspekten auch. Was aber feststeht ist, dass sie zäh ist. Ihr Leben entwickelt sich in Richtung Hölle auf Erden, aber aufgeben tut sie nie.
Der Roman spielt in unterschiedlichen Zeitabschnitten. Erst begleiten wir die jugendliche Odile, die mit üblichen jugendlichen Problemen kämpft - Schüchternheit, Freundschaft, komplizierte Beziehung zu den Eltern. Der zweite Abschnitt reist 20 Jahre weiter und zeigt eine hoffnungslose Odile, die sich ihrem Schicksal, das von grauenhaften Begegnungen mit den hässlichsten Seiten der Menschheit geprägt ist, fügt. Doch wie erwähnt kommt es immer wieder zu unerwarteten Wendungen in der Geschichte, die einem die Hoffnung nach dem Guten nie gänzlich nimmt.
In den Diskussionen über den Roman wird immer wieder angemerkt, dass die geschaffenen Zeitebenen - die verschiedenen Täler - und der geregelte Umgang damit, unlogisch seien, vom Autor zu wenig erklärt werden. Für meine Wahrnehmung waren die Erklärungen ausreichend, ich habe mich mit dem vorgegebenen Konstrukt zufrieden gegeben. Viel spannender waren für mich die damit einhergehenden philosophischen Auseinandersetzungen, die mir auch viel Stoff gegeben haben, um Parallelen mit der realen Welt herzustellen.
"Das andere Tal" war für mich ein absolutes Lesehighlight, dass mich auch in den Lesepausen immer wieder fest in Gedanken bei der Geschichte sein ließ. Es ist ein fesselndes Werk, dass immer wieder mit unerwarteten Wendungen aufwartet und die Gehirnwindungen ordentlich arbeiten lässt. Die Atmosphäre - Märchenhaftigkeit gepaart mit trister, grauenhafter Realität, wird mir dieses Buch nicht so schnell vergessen lassen. Gespannt warte ich auch weitere Werke des Autors!
Die Welt hat Grenzen, denn jenseits des Tals gibt es nichts - der Zaun ist gut bewacht, die Flucht nahezu unmöglich. Es gibt keine anderen Kontinente oder Länder oder auch nur fremde Städte, die sich besuchen ließen. Und doch stimmt das so nicht ganz, denn an den Rändern des Tals fällt man nicht ins Nichts, endet das Universum nicht einfach plötzlich, im Gegenteil: Es erstreckt sich bis ins Unendliche nach Osten und nach Westen. Würde man, könnte man, entlang dieser Achse reisen, dann käme man immer und immer wieder ins selbe Tal, in dieselbe Stadt am See im Wald - nur jedes Mal 20 Jahre weiter in der Zukunft oder der Vergangenheit. Wie Perlen an einer endlos langen Kette reihen sich so die Täler aneinander, und in jedem leben dieselben Menschen (oder deren Urahnen oder Nachkommen).
Doch, wie gesagt: Der Zaun ist gut bewacht, und wer ihn überqueren will, muss einen Antrag stellen und hoffen, dass dieser bewilligt wird. Besuche in anderen Tälern sind in seltenen Fällen erlaubt, etwa, um Verstorbene noch einmal zu sehen. Doch sie sind immer eine Gefahr, und zwar für alle, denn was, wenn man zum Beispiel in der Vergangenheit erkannt wird oder absichtlich oder unabsichtlich den Lauf der Dinge ändert, sodass plötzlich Gegenwart und Zukunft ausgelöscht und durch neue Realitäten ersetzt werden?
Odile steht fast am Ende ihrer Schulzeit. Für sie entscheidet sich nun, welchen Lebensweg sie weiter gehen wird, und sie bewirbt sich mehr aus dem Ehrgeiz ihrer Mutter heraus denn aus eigenem Antrieb für eine Ausbildung beim Conseil. Und tatsächlich, Odile hat Glück und darf das strenge Auswahlverfahren antreten. Jede Woche werden Teilnehmer*innen ausgesiebt, während sie alle um eines kämpfen: bis zum Ende ausgebildet zu werden, um in alle Geheimnisse der Täler eingeweiht zu werden und fortan die Entscheidung darüber treffen zu dürfen, wessen Reiseanträge genehmigt werden.
Und Odile hat Talent, es läuft gut für sie. Dann jedoch kommt es zu einem Zwischenfall: Sie begegnet den Eltern ihres Schulfreundes Edme. Nicht etwa jenen der Gegenwart, sondern jenen der Zukunft. Und das kann nur eines bedeuten: Edme wird sterben.
"Das andere Tal" ist eine Mischung aus Jugendbuch und Dystopie, Coming of Age und Zeitreiseroman. Odile muss sich mit den klassischen Teenager-Problemen herumschlagen: Mobbing und Außenseitertum, sich langsam offenbarenden Gefühlen, der Frage nach dem, was die Zukunft bereithält. Das liest sich wunderbar, ist jedoch noch lange nicht alles. Denn nach und nach wird offensichtlich, dass diese so normal, ja beinahe idyllisch anmutende Welt so toll dann doch nicht ist: Grenzpatrouillen, Wachtürme und bewaffnete Gendarmen überall, wenn man nur genau genug hinschaut (was die meisten aber lieber nicht tun). Keine Gnade für jene, die kein Glück mit ihrer Ausbildungswahl hatten oder jene, die sich den Gesetzen entgegenstellen. Und zwischen alledem Odile, die weiß, dass die Grenzen zu Vergangenheit und Zukunft in greifbarer Nähe liegen; Odile, die weiß, dass der Junge, in den sie sich gerade verliebt, sterben wird.
Howards Roman ist ein Gedankenexperiment, das die Frage danach stellt, was wäre, wenn ebendiese Grenzen zu Vergangenheit und Zukunft überwindbar wären. Dabei ist der Roman sehr nachdenklich und manchmal auch sehr verwirrend, und man muss beim Lesen sehr mitdenken, welche Ereignisse zeitlich wie durch andere bedingt sind und was kausal auseinander folgt oder eben nicht. Ob das tatsächlich an allen Stellen immer ganz logisch war, kann ich nicht mit abschließender Gewissheit sagen, aber eines war es auf jeden Fall: spannend. Und das nicht im Sinne dessen, dass sich auf jeder Seite die Ereignisse überschlagen, denn eigentlich ist der Roman die meiste Zeit über recht ruhig, etwa, wenn wir Odile dabei begleiten, wie sie im Wald sitzt und ihre Aussicht mit dem Messer auf einer Holzplatte verewigt. "Spannend" war für mich eher der nachdenkliche, philosophische, zum Mitdenken anregende Aspekt des Romans, und letztendlich ist es genau diese Mischung, die interessante Welt, das Sich-Selbst-Gedanken-Machen und das Ruhige in Kombination mit der schönen Sprache, die mir an diesem Roman unglaublich viel Spaß gemacht hat.
Daher bleibt nach einem solchen Debütroman nur eines zu sagen: Ich bin sehr gespannt, was da noch so kommt!
Die 16-jährige Odile lebt in einem ganz besonderen Tal. Würde sie dort die Grenze nach Westen überschreiten, befände sie sich 20 Jahre in der Vergangenheit. Eine Grenzüberschreitung nach Osten katapultierte sie hingegen 20 Jahre in die Zukunft. Doch über die Grenzen und das gesamte Leben im Tal entscheidet das regierende Conseil, das eine Reise in die Vergangenheit oder in die Zukunft nur in ganz wenigen begründeten Ausnahmefällen zulässt - beispielsweise, um einen zu früh verstorbenen Menschen wenigstens noch ein einziges Mal sehen zu können. Als Odile zufällig zwei maskierte Gäste aus der Zukunft im Tal entdeckt und dahinter die Eltern ihres nahezu einzigen Freundes Edme erkennt, ringt sie mit sich. Soll sie verbotenerweise in das Geschehen eingreifen, um Edmes Tod doch noch zu verhindern? Oder konzentriert sie sich ganz auf ihre angestrebte Ausbildung im Conseil und nimmt damit den Verlust des Freundes in Kauf?
"Das andere Tal" ist der Debütroman des kanadischen Autors Scott Alexander Howard, der jüngst in der deutschen Übersetzung aus dem kanadischen Englisch von Anke Caroline Burger bei Diogenes erschienen ist. Es ist ein bemerkenswert kluger Roman, dem man den philosophischen Hintergrund Howards nahezu durchgehend anmerkt, ohne dass er auch nur ansatzweise verkopft daherkommt. In den existenziellen Fragen nach Schuld und Moral in Verbindung mit einer jugendlichen Protagonistin erinnert er zeitweilig an Jostein Gaarders "Sofies Welt", über weite Strecken des ersten Teils kommt er einem hingegen wie ein sehr guter Jugendroman vor. Es ist nicht nur die für das Genre typische Begleitung einer Außenseiter-Figur, die sich mit der Zeit stark entwickelt und nach und nach Anschluss findet, sondern es sind auch die Themen wie Freundschaft, erste Liebe, Schule und Ausbildung, die daran erinnern lassen. Und auch wenn junge Leser:innen durchaus Gefallen an "Das andere Tal" finden könnten, sollten Erwachsene nicht den Fehler machen, das Buch zu unterschätzen. Denn im zweiten Teil wird die Handlung ungleich düsterer und nähert sich immer stärker einer Dystopie an.
Sprachlich ist "Das andere Tal" klar strukturiert und gönnt sich wenig Abschweifungen. Doch auch wenn der Roman extrem handlungsorientiert und souverän erzählt wird, weiß Scott Alexander Howard seine sprachlichen Fähigkeiten wohldosiert einzusetzen. Beispielsweise bei einer ungemein romantischen Nachtszene, in der der Geige spielende Edme Odile seine Kompositionen auf einer Klippe vorstellt. Oder bei einem Regenschauer, der sich kongenial mit Odiles Stimmungsbild verbindet.
Das größte Verdienst des Buches ist es aber, dass man als Leser:in im positiven Sinne dazu gezwungen wird, seine grauen Zellen anzustrengen. Das philosophische Konstrukt hinter einer offenbar unendlich wirkenden Reihe von Tälern zu verstehen - oder es zu dekonstruieren. Sich selbst zu hinterfragen, wie man sich entscheiden würde. Und wenn man zu dieser Entscheidung gekommen ist, sich wiederum zu fragen, warum man diese Entscheidung so getroffen hat. Das macht Scott Alexander Howard herausragend, indem er mit den Erwartungen der Leserschaft spielt und diese animiert.
Da ist es dann doch sehr schade, dass ausgerechnet die zentrale Idee des Buches der Hinterfragung nicht standhält. Die ernst gemeinte Begründung der für alle Beteiligten und auch für das Conseil extrem riskanten Grenzüberschreitungen bzw. Zeitreise lautet nämlich tatsächlich: "Das war schon immer so." Hier macht es sich Howard zu einfach und unterschätzt die klugen Leser:innen. Mit bösen Absichten könnte man so die eigentlich hervorragende Grundidee - und damit auch den Roman - komplett auseinandernehmen.
Da "Das andere Tal" einen ansonsten aber nahezu über die gesamte Dauer der etwas mehr als 450 Seiten komplett für sich einnimmt, bleibt dies ein mittelgroßer Wermutstropfen eines ansonsten wunderbaren Debütromans, der große Lust auf weitere Werke des Kanadiers macht.
Das andere Tal ist ein besonderer Ort. Geht man nach Osten oder Westen, stößt man auf die gleichen Häuser, Hügel, Straßen doch alles ist zwanzig Jahre zeitversetzt. Im Westen – Ouest 1 - liegt das gleiche Tal in der Vergangenheit, zwanzig Jahre zurück. Im Osten – Est 1 - befindet sich das gleiche Tal, doch zwanzig Jahre früher.
Zeitreisen in die Zukunft oder in die Vergangenheit können beantragt werden. Sie werden an die Counseils der jeweiligen Täler gestellt und nur unter ganz besonderen Umständen genehmigt.
Als die 16jährige Odile in Besuchern aus der Zukunft die Eltern ihres Freundes Edme erkennt, weiß sie, dass er bald sterben wird. Sie durchläuft gerade die Bewerbung für eine Praktikumsstelle beim Counseil und wird mit den harten Regeln, die mit diesem Ereignis zusammenhängen, konfrontiert.
Meine persönlichen Leseeindrücke
Das andere Tal ist ein ganz besonderer Roman, ein schriftstellerisches Gedankenspiel, das sich mit der Frage beschäftigt, was wäre, wenn wir ein Ereignis im Leben so ändern könnten, dass sich das Leben anders gelebt hätte.
Für die Beantwortung dieser Frage erschafft Scott Alexander Howard die Hauptromanfigur Odile, die an einem Tag ganz unerwartet die Zukunft sieht und damit in große Schwierigkeiten kommt. Sie weiß, dass sie nichts sagen darf, dass sie nicht eingreifen darf und sie hält sich im ersten Teil des Romans auch ganz an die Vorschriften.
In diesem Teil finde ich die Geschichte ganz geschickt aufgebaut. Der Autor bedient zwar das ein oder andere Klischee aber die Spannung bleibt. Besonders spricht mich die Beschreibung der zarten jungen Liebe an und generell das Feinfühlige in seinem Vermitteln der Gefühle der jungen Menschen, die vor einer wichtigen Wahl stehen und Erinnerungen an meine Jugend leben plötzlich wieder auf.
Ich bin dann vom 1. in das 2. Kapitel katapultiert worden, meine junge Freundin ist 20 Jahre älter und als Gendarmin an der Ostgrenze des Tales stationiert. Das ist der gesellschaftliche Abstieg schlechthin, der absolute Tiefpunkt ist der Dienst an der Westgrenze, die das Tal von der Vergangenheit beschützt. Odile ist also gerade dabei, ihr Leben an die Wand zu fahren.
Es ändert sich die Atmosphäre und das Konstrukt, wie diese Gesellschaft funktioniert, kommt klarer zum Vorschein. In diesem Teil ereignen sich einige Vorfälle und mir fallen einige Aspekte auf, die ich mir nicht ganz erklären kann oder deren Logik sich mir nicht entschließt. Das Ungewöhnliche gewinnt an manchen Stellen die Oberhand und ich entferne mich emotional von Odile, deren Verhalten ich nicht mehr richtig einschätzen kann. Es kommt der Punkt, an dem die Fantasie ihren Platz im Roman beansprucht, durchaus nicht unpassend aber mich wirft es dann trotzdem ein wenig aus der Beobachtungsperspektive als Leserin.
Fazit
Was nach der Lektüre bleibt, ist eine schöne Erinnerung an eine ungewöhnliche Geschichte, mit viel Fantasie und spannend bis zum Schluss geschrieben. Ich lasse die Täler im Buch und bin froh, dass das nicht die Wirklichkeit ist.
Ungewöhnliches Buch über mögliche Reisen in die Vergangenheit oder Zukunft – Gedankenspiele über Erinnerungen, Folgen von Entscheidungen
Ein kleines Städtchen am See, Berge ringsherum, Weinberge, Obstplantagen – welche Idylle! Doch nein, wer genauer hinguckt, wird einen über sechs Meter hohen Metallzaun ringsherum sehen, Wachtürme, patrouillierende Gendarmen – eine Grenze. Schockierend. Die Bewohner der vermeintlichen Idylle dürfen ihr Tal nicht verlassen. Links des Tales, im Westen, hinter den Bergen, befindet sich das gleiche Tal mit den gleichen Menschen, doch zwanzig Jahre früher. Das ist die Vergangenheit, die sich in weiteren Tälern fortsetzt; das Gleiche Richtung Osten, in die Zukunft, ebenfalls in Zeitsprüngen von zwanzig Jahren.
Warum darf man nicht in diese Täler reisen? Es wäre doch interessant, in die Vergangenheit oder in die Zukunft zu gucken, jemanden wiederzusehen, vielleicht andere Entscheidungen zu treffen. Das hat sich schon so mancher gewünscht. Oder gäbe es vielleicht Gefahren oder Probleme? Genau darum geht es hier.
Zuerst mutet der Geschichte um die 16-jährige Odile Ozanne wie ein Jugendroman an: Mobbing, Außenseiterin, erste Verliebtheit, Aufgaben in einem Auswahlverfahren. Doch schon ziemlich bald ergeben sich schwierige Überlegungen zu möglichen Zeitreisen, denn es gibt Ausnahmen der Reiseverbote, die in einem strengen Verfahren vom sog. Conseil genehmigt oder abgelehnt werden. Der einzige Grund, sich für eine derartige Reise zu bewerben, ist Trauer um eine Person, Trost in einem geheimen Wiedersehen zu finden, das streng geregelt ist und das drastische Strafen nach sich zieht, wenn man sich nicht an die Regeln hält.
Für dieses Conseil bewirbt sich Odile auf Drängen ihrer Mutter und erfährt im Auswahlverfahren einiges über die Vorstellungen der Verantwortlichen und welche Gefahren es birgt, denn es könnte Veränderungen geben und die würden letztlich viele Personen betreffen, ganze Täler, also weitere Kreise ziehen.
Dann passiert etwas Unerwartetes: Odile sieht durch Zufall, was sie nicht hätte sehen dürfen und aus dem sie ihre Schlüsse ziehen kann. Das und die Folgen verändern ihr ganzes Leben.
Im zweiten Teil ist Odile 20 Jahre älter und hat sich mit einem Leben als Gendarmin abgefunden. Das wird ziemlich trostlos geschildert, weil die Lebensumstände des Wachpersonals nicht gerade erfreulich sind. Sie hat sich 'ein Nest in den Trümmern' gebaut (229) und alle eigenen Ambitionen aufgegeben.
'Trauer und Reue waren schon vor vielen Jahren in mir eingetrocknet und abgefallen wie tote Haut. Manchmal vergaß man, weil man vergessen musste, und es war gut so.' (248)
Doch dann geschehen wieder einige Dinge, die Odiles Leben eine Wendung geben oder geben könnten. Es wird richtig spannend und ich konnte das Buch nicht mehr aus der Hand legen. Was wird nun aus Odiles Leben werden? Wird sie in ein anderes Tal gehen können? Was wird passieren? Wie immer soll das hier nicht verraten werden.
Ich halte dieses Buch weder für einen Jugendroman – auch wenn es einige entsprechende Elemente gibt – noch für eine Dystopie oder Science Fiction. Ich schließe alle Genre-Schubladen und nehme den Roman, wie er ist: eine spannende Geschichte, ein Gedankenexperiment, ein Spiel mit Gegenwart und Zukunft und anregende Gedanken, die in mir noch eine Zeitlang nachgewirkt haben. Würde ich in die Zukunft blicken oder zurück in die Vergangenheit reisen und Menschen treffen wollen, die gestorben sind? Oder sogar mich selbst 20 Jahre früher oder später?Würde ich in Versuchung geraten, etwas zu ändern, anders zu entscheiden? Welche Folgen würde das haben? Was wäre, wenn...?
Wie man unschwer merkt, hat mich dieses Buch gut unterhalten und danach noch lange beschäftigt, mich auch mit seiner teilweise bildhaften Sprache – besonders bei kurzen Natur- oder Wetterbeschreibungen - nachhaltig beeindruckt.
Kurzmeinung: Phantasie und Kreativität - da geht noch was.
Der Autor Scott Alexander Howard beschäftigt sich in seinem Debütroman „Das andere Tal“ mit dem Zeitphänomen Vergangenheit/Zukunft. Aber zunächst einmal begleitet die Leserschaft Odile Ozanne zur Aufnahmeprüfung in den Conseil. Der Conseil ist das oberste Gremium in dem Staat, in dem sie lebt, die Führungsriege. Kann sie, die 16jährige Außenseiterin, dort wirklich einen Ausbildungsplatz bekommen und einst die Geschicke des Landes beziehungsweise des Tales lenken? Das Prüfungsverfahren ist wie ein Auswahlverfahren und knallhart. Nur die Besten bestehen, diejenigen, die scheitern, bekommen keinen guten Platz im System. Dieser Romanteil ist sehr jugendbuchspezifisch und hat typische, beliebte Elemente desselben: Konkurrenzkampf, Bewährungsproben, Aussenseitertum, Auserwähltsein.
Das Tal, in dem Odile und alle anderen Bewohner leben, ist besonders. Man darf es ohne ausdrückliche Erlaubnis des Conseil nicht verlassen und diese Erlaubnis wird sehr selten erteilt. Denn östlich vom Tal befindet sich dasselbe Tal noch einmal, nur zeitversetzt um 20 Jahre in der Zukunft; dieselben Leute, 20 Jahre älter. Im Westen jedoch existiert wiederum dasselbe Tal, dieselben Bewohner wie in Odiles Tal, nur 20 Jahre früher. Wandert man also nach Osten (wenn man das dürfte, man darf aber nicht), kommt man in seine eigene Zukunft, wandert man nach Westen, in seine eigene Vergangenheit. Man kann sich vorstellen, wie leicht es zu Zeitparadoxen kommen könnte, wenn man zum Beispiel auf sein jüngeres oder sein älteres Ich träfe. Deshalb ist in allen Tälern der jeweilige Conseil (Rat) der Hüter der Zeit oder auch der Wächter der Zeit. Aus dieser „Wache“ ist allerdings ein totalitärer Staat geworden mit allem, was dazu gehört, autoritäres Brainwashing im Erziehungswesen, Geheimdienst, Grenzkontrollen. Willkür.
Viele Dinge im Totalitarismus leuchtet der Autor nicht gerade aus, wie sieht es mit Pressefreit aus, gibt es überhaupt eine wie auch immer geartete Berichterstattung, gibt es Straftaten, - wie werden sie geahndet, werden Bücher geschrieben, was gibt es für Berufe, wie viele Menschen leben im Tal, gibt es Bauwesen und Straßenbau? Protestbewegungen, Klimaschutz? Sind wir modern mit Handys unterwegs oder befinden wir uns in einer Brieftaubengesellschaft? Wahrscheinlich sind wir in einer Agrarwirtschaft zuhause. Es gibt Landwirtschaft, so viel ist sicher. Und ein Archiv natürlich, sprich Verwaltung! In welchem Staat gäbe es keine Verwaltung, sprich keine Beamten. Aber gibt es ein Gericht, dem man seinen Fall vortragen kann, Anwälte, etc. Unserer Phantasie sind keine Grenzen gesetzt; die des Autors hilft nicht weiter: er spricht nicht darüber!
Die Ausgestaltung/Ausmalung des Tals ist dem Autor freilich nicht wichtig. (Aber mir). Sein Schwerpunkt liegt ganz auf seiner Protagonistin Odile und auf ihren Kameraden. Wird sie die Prüfungen bestehen und wenn nicht, was wird dann mit ihr passieren? Und kommt es nicht doch irgendwann einmal zu einem Zeitparadoxon?
Odile findet schließlich und endlich ihren Platz in der Gesellschaft. Freilich, ihr Leben ist nicht so, wie sie es sich vorgestellt hat. Von Privilegien keine Spur! Dann, eines nicht so schönen Tages hat sie eine Zeit-Begegnung der unschönen Art, die ihr Leben umkrempelt und die Story endlich herumreißt. (Aber das hat gedauert).
Der Kommentar und das Leseerlebnis:
Der Roman hat durch die diversen Aufgaben, die Odile bewältigen muss und den flüssigen angenehmen Schreibstil des Autors einen enormen Lesesog. Immerzu will man wissen, wie es weitergeht. Da gibt es Besucher aus der Vergangenheit und der Zukunft, die aber keiner erkennen darf, wegen der vom Conseil befürchteten Zeitphänomene. Hallo, warum sind solche Besuche überhaupt erlaubt? Weil es immer schon so war, sagt die oberste Rätin (und der Autor) – und wenn man die Erlaubnis dazu nicht mehr gäbe, würde es schon die Zeit verändern. Ich finde, die Antworten des Romans sehr lapidar und bin unzufrieden.
Der Grenzpolizei kommt eine tragende Rolle zu im Roman. Haben die Gendarmen Schießbefehle? Hat keiner Gewissensbisse, jeder eine Untertanenmentalität? So sieht es aus. Der enorme Lesesog täuscht fast darüber hinweg, dass der Autor Logiklücken nicht schließt und Fragen der Leserschaft nicht beantwortet und lapidar sagt, „das war immer so“. Der zweite Teil des Romans befasst sich hauptsächlich mit den Zuständen bei der Grenzpolizei.
Woraus besteht der Roman also? Im ersten Teil aus den Prüfungsaufgaben und im zweiten Teil aus dem kargen Leben der Grenzpolizisten, das ein wenig an den Gulag erinnert: Schikanen, Willkür, schlechtes Essen, Intrigen. Das ist mir einfach zu wenig, auch wenn der Roman an sich glänzend geschrieben ist.
Fazit: Macht Spaß, aber es wäre mehr Wumms drin gewesen, hätte der Autor mehr Kreativität und Phantasie auf das Interieur und die Zeitparadoxen verwendet. Man muss seinen engen Fokus auf einige wenige handelnde Personen hinnehmen, dann hat man einen spannenden Roman. Freilich ist sein Jugendbuchcharakter unverkennbar. Der Schluss ist phantasielos und gibt Punktabzug.
Kategorie: Gute Unterhaltung. Jugendbuch.
Verlag: Diogenes
Ein ungewöhnliches Setting hat sich Scott Alexander Howard einfallen lassen. Die 16-jährige Protagonistin Odile, aus deren Ich-Perspektive der Roman erzählt wird, lebt in einem Tal, das von Bergen und einem See begrenzt wird. Jenseits der Berge im Osten liegt das gleiche Tal, allerdings 20 Jahre in der Zukunft, dahinter eine weiteres Tal, wieder 20 Jahre in der Zeit voran. Wie viele von den Tälern es gibt, bleibt offen. Im Westen hingegen liegt die Vergangenheit - das Tal vor 20 Jahren, sowie weitere Täler, jeweils 20 Jahre in der Zeit zurück.
Die schüchterne Außenseiterin Odile, die in der Schule keinen Anschluss hat, bewirbt sich auf Bestreben ihrer Mutter - ihr Vater ist gestorben, als sie 4 Jahre alt war - für eine Ausbildung im Conseil. Dieses regelt die Besuche zwischen den Tälern. Menschen, die jemanden verloren haben, den sie sehr geliebt haben, können unter bestimmten Umständen diesen in der Vergangenheit besuchen, oder wenn Menschen wissen, dass sie sterben, einen geliebten Menschen in der Zukunft sehen. Diese Besuche unterliegen strengen Auflagen und müssen von eben jenem Conseil entschieden und überwacht werden.
Odile muss im Auswahlverfahren auf die Frage antworten, in welches Tal sie reisen wolle - nach Osten oder Westen.
Diese Frage wirft viele Gedanken auf:
Würde ich wirklich in die Vergangenheit reisen wollen, um einen geliebten Menschen noch einmal sehen zu dürfen? Wenn ich weder mit ihm sprechen darf noch die Zeit verändern darf? Würde es mich nicht allzu sehr belasten und die Trauer noch verstärken?
Odiles Leben nimmt eine entscheidende Wendung, als sie zufällig vor der Schule Besucher aus einem anderen Tal trotz deren Masken erkennt. Es sind die Eltern Edmes, eines Mitschülers, der sich für Odile in einer Situation eingesetzt hat, in der sie gedemütigt wurde, und für den sie zunehmend Gefühle entwickelt. Der Besuch kann nur bedeuten, dass Edme bald sterben muss.
Bis dahin wähnt man sich in einem klassischen Jugendbuch und die Vermutung entsteht, dass sie sich ernsthaft in Edme verlieben und in ein Dilemma geraten wird. Soll sie ihm verraten, dass er sterben wird? Soll sie ihn warnen? Und was wird auch ihrer Bewerbung für das Conseil, wenn sie solch eine Handlung vollzieht.
Im Conseil wird während des Bewerbungsverfahrens darüber diskutiert, ob in dem Moment, in dem ich die Vergangenheit ändere, auch die Zukunft für alle eine andere wird. Die Gefahr besteht, dass man die Zukunft so beeinflusst, dass bestimmte Dinge bzw. Menschen nicht nur verschwinden, sondern es so sein wird, dass sie nie existiert haben.
"Was es nie gegeben hat, hinterlässt keine Spur. Keine schwache Erinnerung, kein störendes Gefühl, dass etwas nicht stimmt, kein Erschaudern, nichts." (S.125)
Eine Veränderung würde alle betreffen würde, wie Wellen würde sich die Veränderung durch das ganze Tal ziehen.
Sehr kompliziert, die Sache mit der Zeit, wenn man nicht Einstein ist - aber auch sehr faszinierend. In der Leserunde wurde intensiv über das Paradox der Zeitreisen diskutiert.
Eine Frage haben wir uns auch gestellt: Was ist mit der genetischen Vielfalt im Tal, wenn es nur diesen begrenzten Raum gibt?
Im 2.Teil des Romans wird die Handlung deutlich düsterer und verliert zeitweise den Jugendbuchcharakter. Über das Ende wurde in der Leserunde heftig diskutiert. Dieses möchte ich aber den zukünftigen Leser:innen des Romans nicht vorwegnehmen. Es gab Stimmen pro und contra und auch andere mögliche Alternativen für den Schluss kamen zur Sprache.
Mir persönlich hat das Ende gefallen und ich fand das Zeitreise-Gedanken-Experiment sehr spannend und interessant, es führt uns selbst zu der Frage "was wäre gewesen wenn "- allerdings können wir (noch) nicht in der Zeit zurückreisen, um eventuelle Fehler wieder gut zu machen oder unsere Zukunft zu verändern.
Auch sprachlich hat mich der Roman überzeugt, dem Autor gelingt es die jeweilige Stimmung der Situation einzufangen. Eine schöne Passagen, in denen Edme für die Aufnahmeprüfung am Konservatorium übt und Odile ihm zuhört:
"Wie ein Derwisch sprang Edme vor den Bäumen umher; seine Geige zerriss die Nacht in schmale Bänder. als er fertig war, herrschte dröhnende Stille." (S.152)
Ein lesenswerter Debütroman, dem hoffentlich noch weitere folgen werden.
Was wäre, wenn die Zeit real an verschiedenen Orten nebeneinander existieren würde? Wenn ich einfach nur über einen Berg gehen müsste, um exakt dasselbe Tal vorzufinden, um 20 Jahre zeitversetzt? Ich könnte mich und meine Mitmenschen vor oder in 20 Jahren sehen, dürfte aber in das Geschehen nicht eingreifen. Würde ich das wollen? Und was wäre, wenn ich doch versuche, die Vergangenheit zu verändern?
Mit diesem faszinierenden Gedankenexperiment setzt sich Scott Alexander Howard in seinem Debütroman "Das andere Tal" auseinander. Er entwirft eine düstere Welt, die von vielen Regeln und Verboten beherrscht wird. Das Conseil entscheidet, wer in die Zukunft oder Vergangenheit reisen darf, Grenzen und Gendarme wachen streng über die Einhaltung der Regeln.
Die 16-jährige Odile lebt als Außenseiterin in diesem Tal und versucht, ihren Platz zu finden. Gehänselt von ihren Mitschülern und unter dem Druck der Erwartungshaltung ihrer Mutter versucht sie, selbst Teil des Conseils zu werden und damit Einfluss auf das Schicksal zu nehmen. Gerade, als sie anfängt, Freundschaften zu schließen und sich zu verlieben, geschieht ein Unglück, das sie aus der Bahn wirft.
Howard hat diese düstere Welt so kunstvoll gezeichnet, dass ich alle Orte und Menschen lebhaft vor meinem inneren Auge hatte. Mich hat dieses Buch fasziniert und beschäftigt mich auch zwei Wochen nach dem Lesen immer noch. Wie hätte ich mich an Odiles Stelle verhalten?
Das Ende hat mich zwar leider nicht überzeugt, weil es alle meine Zeitreise-Überzeugungen in Frage stellt, aber mehr möchte ich an dieser Stelle nicht vorwegnehmen. Ich empfehle das Buch unbedingt weiter.
Den einen Stern hat Howard bei mir nur für das Ende eingebüßt.
Getrieben durch boomende Bücher, Filme und Reihen, die sich mit dem Kampf gegen ein übermächtiges, ungerechtes Regierungssystem und Zeitmanipulationen hervortun, weckt der Autor Scott A. Howard mit seinem Debüt "Das andere Tal" zunächst den Eindruck, mit seiner cleveren Idee der um 20 Jahre versetzten Nachbartäler einen ähnlichen Science Fiction zu präsentieren.
Odile ist 16 Jahre alt und das Schicksal hält für sie in einer düsteren Welt die Außenseiterrolle parat. Trotz einiger positiver Entwicklungen, scheitert sie immer wieder an ihren opportunistischen Zielen und Hoffnungen: einem intakten Familienleben, den vermeintlichen Freunden, der außergewöhnlichen Ausbildung zu einer hohen Amtsträgerin, der großen Liebe und nicht zuletzt an ihrer eigenen Körperlichkeit während der Pubertät. Dabei ist es keine Coming-of-Age-Geschichte, wie man anfangs meinen könnte. Über lange Strecken schwankt der Roman zwischen Utopie und Dystopie. Man wünscht sich, dass Odile endlich ihr Glück findet, aber mit dem Unfalltod ihrer großen Liebe Edme nimmt ihr Leben einen fatalen Verlauf. Aufgrund der sporadischen, streng kontrollierten Grenzübertritte in das Zukunfts- oder das Vergangenheitstal mit den älteren oder jüngeren Personen, sofern sie nicht gestorben oder bereits geboren wurden, ist den Talbewohnern bekannt, dass es Möglichkeiten gibt, die eigene Lebensgeschichte neu zu schreiben. Diese Grundidee ist durchaus spannend und trägt den Leser bis ans Ende.
Der promovierte Philosoph Howard nutzt sein Debüt in erster Linie, um mit diesen Möglichkeiten zu spielen. Dabei ist das Buch weder ein actiongetriebener Science Fiction wie am Anfang erwähnt und von manchen vermutlich erwartet, noch ist es ein strenggläubiges Philosophenwerk. Stilistisch ist es ein gefühlvolles und sehr gut bebildertes Debüt. Allerdings schwächelt es in der Ausgewogenheit der Struktur, denn einige Passagen geraten zu lang, andere, insbesondere der Abschluss, furios und zu kurz. Auch die Auswahl der Perspektiven, der Zeitsprünge dürften den einen oder die andere Leser:in aufrütteln und etwas verständnislos zurücklassen. Bedauerlich ist ebenfalls, dass einige lose Fäden bleiben und keine Antworten auf aufgeworfene Fragen gegeben werden. Dazu gehört auch das Gedankenspiel rund um das Großvaterparadoxon, welches hier als große Lösung die Bedürfnisse einer optimistisch gestimmten Leserschaft befriedigt, aber an dem Howard in logischer Hinsicht scheitert.
Insgesamt kann ich "Das andere Tal" allen empfehlen, die auf der Suche nach originellem, unverbrauchtem Lesestoff sind. Und die nicht zu zartbesaitet sind, denn anders als auf der Buchrückseite beworben geht es hier nicht um "Herzschmerz und Hoffnung". Über lange Strecken ist es eher "Überleben und Aussichtslosigkeit".
Der Debütroman des Kanadiers Scott Alexander Howard spielt in einem auf den ersten Blick idyllischen Tal: eine Stadt, ein See, Obstbaumwiesen, hohe Berge. Bei genauerem Hinsehen entpuppt sich der Ort als isoliert, umgeben von Stacheldrahtzäunen, Wachtürmen und patrouillierenden Gendarmen. Niemand darf das Tal ohne Zustimmung des Conseils verlassen, um in die identische Stadt im Osten zu gelangen, die 20 Jahre in der Zeitlinie voraus ist, oder im Westen, wo es 20 Jahre früher ist. In 20-Jahres-Schritten wiederholen sich die Täler in unendlicher Abfolge. Flüchtlinge werden gnadenlos gejagt. Wer auf eine Eingabe hin eine der seltenen Besuchsbewilligungen in die Zukunft oder Vergangenheit erhält, meist im Zusammenhang mit einem Trauerfall, darf die Zeitlinie bei Androhung drakonischer Strafen weder stören noch gar verändern:
"Verlass nie dein Tal, misch dich nirgendwo ein." (S. 100)
Ein ungeplanter Zwischenfall
Die zunächst jugendliche Erzählerin Odile Ozanne steht als 16-Jährige zu Beginn des Romans kurz vor dem Schulabschluss und soll sich auf Wunsch ihrer Mutter für das Auswahlverfahren zum Conseil bewerben, wo ihr dauerhaft Macht, Ansehen und finanzielle Sicherheit winkt. Odile ist eine schüchterne, unsichere Außenseiterin, die gerade erst eine Gruppe von Freunden gefunden hat. Während sie am strengen Ausscheidungswettbewerb teilnimmt, wird sie zufällig Zeugin eines Besuchs aus dem Osten, der Zukunft. Odile erkennt in den trauernden Besuchern ausgerechnet die Eltern ihres Freundes Edme, ihrer ersten Liebe, und erfährt auf diese Weise, dass er bald sterben wird. Der ungeplante Zwischenfall, der dem Conseil nicht verborgen bleibt, stürzt Odile in einen Loyalitätskonflikt: Soll sie dem Conseil gehorchen, der jede Einflussnahme streng verbietet, oder ihren Freund warnen?
Eine gebrochene Biografie
Im zweiten Teil des Romans, der sich nun nicht mehr wie ein Jugendroman liest, ist Odile 20 Jahre älter. Ihre gebrochene Biografie hat sie als einzige Frau in die Grenzgendarmerie geführt, wo sie Flüchtlinge abfängt oder Besucherinnen und Besucher begleitet und in ihrer einsamen Freizeit Holzschnitte anfertigt. Noch einmal erhascht sie einen verbotenen Blick, dieses Mal in die eigene Zukunft. Wieder steht sie vor einer Entscheidung, doch ist sie nun nicht mehr die unerfahrene Jugendlich, sondern eine desillusionierte erwachsene Frau.
Ein spannendes Gedankenexperiment
Obwohl ich nie Science-Fiction lese, hat mich das dem Buch zugrundeliegende Gedankenexperiment mit den zeitverschobenen Orten sofort gereizt. Was, wenn man die Vergangenheit oder die Zukunft ändern könnte, wenn Schicksale auf ungeahnte Weise veränderbar wären? Der promovierte Philosoph Scott Alexander Howard hat wohlüberlegt und sorgfältig konstruiert ein Universum erschaffen, in das ich gerne eingetaucht bin. Die bedrückende Atmosphäre der streng abgeriegelten, diktatorisch regierten Stadt, die genauen Ortsbeschreibungen, spannende Nebenschicksale, die gut begründete Entwicklung der Protagonistin und das rasante Ende haben mir gefallen. Sprachlich ist der Roman unspektakulär und eher einfach, gedanklich verlangt er jedoch bisweilen größte Konzentration, wenn es um die Konsequenzen der Zeitverschiebung geht.
"Das andere Tal" ist ein sehr besonderer Roman über Zeit und Schicksal, Fremdbestimmung und freien Willen. Weniger als die Geschichte von Odile wird mir die ungewöhnliche Prämisse im Gedächtnis bleiben, über die sich immer wieder neu nachdenken lässt.
Mit seinem ersten Roman „Das andere Tal“ entwirft der promovierte Philosoph Howard eine Welt nicht nur mit einem interessanten metaphysischen Grundkonzept sondern auch mit Denkanstößen zu moralphilosophischen Fragen. Das geschieht im Gewand eines zunächst sogar eher wie ein Jugendbuch anmutenden Romans, der sich in der zweiten Hälfte zu einer hoch spannenden Lektüre entwickelt und eine unerwartete Auflösung bietet.
Odile ist gerade sechzehn geworden und lebt auf den ersten Blick das Leben einer durchschnittlichen Jugendlichen, die aber nicht so recht in die Gruppendynamiken der Schule passt. Man merkt schnell, dass die Stadt, in der sie lebt, irgendwie anders ist, als das, was wir von unserer Gegenwart kennen. Die Stadt, die verwendete Technik, die Personen scheinen wie aus der Zeit gefallen. Unbestimmbar. Und mit „der Zeit“ hat es hier auch etwas ganz Besonderes auf sich, denn die Stadt befindet sich in einem Tal und würde man nach Westen reisen, ins nächste Tal, befände sich dort der gleiche Ort aber 20 Jahre in der Vergangenheit. Der nächste Ort im Westen, wieder weitere 20 Jahre (also insgesamt 40 Jahre) in der Vergangenheit. In Richtung Osten würden wir uns in die Zukunft, auch in 20er Schritten, bewegen. Nun steht Odile zwar eigentlich „nur“ vor der Entscheidung, die jede Person zum Abschluss der Schulzeit treffen muss, nämlich welche Ausbildung sie beginnen möchte. Doch ihre Geschichte ist komplizierter, da sie sich für das Conseil bewirbt, welches eine Art ethisches Gericht ist, welches entscheidet, wer im Trauerfall die Wanderung in die Vergangenheit antreten darf, um seine Liebsten noch einmal aus Entfernung sehen zu können. Gleichzeitig wird sie verstrickt in genau einen solchen Vorgang und folgenschwere Geschehnisse werden losgetreten.
Scott Alexander Howard hat hier ein wirklich spannendes Gedankenexperiment um Zeitreisen, Trauer und ethisch-moralische Entscheidungen entworfen. Durch seine Prämisse der zeitverschobenen Täler umgeht er technische Fragen zum Thema Zeitreisen komplett, wenn auch nicht die daraus entstehenden Paradoxa. Es macht Spaß diesem Gedankenexperiment zu folgen, auch wenn in der ersten Hälfte des Romans es manchmal so wirkt, als ob der Autor Vignetten mit moralischen Fragestellungen aus seinen Philosophieseminaren eingebunden hat. Das wirkt zunächst ein wenig didaktisch und könnte daher auch durchaus für den Schulunterricht genutzt werden. Trotzdem bleibt der Roman für erwachsene Leser:innen auch immer interessant und wird im Verlauf immer spannender. Zuletzt habe ich richtig mit der Protagonistin mitgefiebert und wollte das Buch gar nicht mehr aus der Hand legen. Der Autor löst ein gewisses Problem des hiesigen Zeitreisekonzeptes geschickt auf und lässt die Geschichte von Odile wunderbar offen.
Sprachlich liest sich der Roman, wenn man sich erst einmal an die mitunter wenig gängigen französischen Namen gewöhnt hat, sehr flüssig runter, ohne zu simpel geschrieben zu sein. Den Charakteren, auch neben Odile als Ich-Erzählerin, folgt man sehr gern. Howard kann die Atmosphäre dieses Tals ganz wunderbar heraufbeschwören, sodass man problemlos in die Geschichte eintauchen kann und vor dem inneren Auge einen spannenden Film sieht. Apropos Film: Das Buch soll als Miniserie verfilmt werden, was man sich bei diesem Stoff sehr gut vorstellen kann.
Insgesamt hat mich der Roman nicht nur sehr gut unterhalten sondern gleichzeitig ein interessantes, für mich ein neues Konzept für Zeitreise entworfen und Fragen zum Thema Trauerarbeit aufgeworfen. Erfrischend.
4,5/5 Sterne
Vielleicht wäre mehr drinnen gewesen
Stellt euch vor ihr wohnt in einem Tal. Ihr erkundet die Umgebung. Ihr wandert nach Osten, ihr findet die gleichen Häuser dieselbe Landschaft. Es verschlägt euch nach Westen, wieder dieselbe Szenerie wie in eurem Dorf im Tal. Der einzige Unterschied, hinter den jeweiligen Ost- bzw. Westgrenzen, findet das Leben genau zwanzig Jahre zeitversetzt statt. In der einen Richtung zwanzig Jahre früher, in der anderen zwanzig Jahre später. Die Grenzen dürfen natürlich nicht so mir nichts dir nichts überschritten werden., damit in der Gegenwart kein Schaden entsteht. Dies dürfen nur wenige Auserwählte. Eine dieser Auserwählten ist Odile Ozanne, die genau in solch einen Tal lebt und sich in einem Auswahlverfahren für das sogenannte Conseil befindet, eine Art Überwachungsinstitution.
Nur in bestimmten Fällen der Trauer dürfen die Grenzen von den Einwohnern überschritten werden. Eines Tages erkennt die junge Odile die Eltern ihres Freundes Edme als maskierte Besucher aus der Zukunft. Sie weiß nun, dass etwas Schreckliches passieren wird. Die Regeln sind streng, unter keinen Umständen darf darüber gesprochen werden. Wird Odile dennoch ihr Schweigen brechen.
Ergeht es euch nicht auch so. Wenn ihr die Möglichkeit hättet, manche Dinge in eurer Vergangenheit anders zu machen – würdet ihr es dann tun? Was hätte die Änderung für Auswirkungen auf unser heutiges Leben? Würdet ihr auch in die Zukunft reisen, oder lässt ihr euch lieber vom Leben überraschen?
Obwohl man gleich zu Beginn schnell in die Geschichte reingesogen wird und der Autor auch sein Handwerk gelernt hat, hat dieses Buch seine Längen und aus meiner Sicht auch Lücken, die bis zum Ende des Buches auch nicht geschlossen werden. Aus diesem Grund bin ich etwas zwiegespalten nach Beendigung des Buches.
Sehr gut gefallen hat mir jedenfalls die düstere Stimmung, die der Autor kreiert und auch bis zum Ende beibehalten hat. Ich liebe Zeitreisengeschichten, da diese immer zum Nachdenken anregen. Was wäre wenn? Als Leser muss man hier stets konzentriert bleiben, damit man mit dem Zeitenthema nicht durch einander gerät.
Wenn man es schafft sich auf dieses Buch einzulassen, dann wird man seine Freude damit haben. Wenn einem dies gelungen ist, wird dieses Buch nachhallen, man wird länger darüber nachdenken. Wenn nicht, wird man wohl die Orientierung in dem einen oder anderen Tal verlieren. Ich habe zwar nicht die Orientierung verloren, aber mir hat irgendetwas gefehlt.