Der Silberriese

Buchseite und Rezensionen zu 'Der Silberriese' von Andreas Moster
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Inhaltsangabe zu "Der Silberriese"

Format:Gebundene Ausgabe
Seiten:304
EAN:9783716028155

Rezensionen zu "Der Silberriese"

  1. Vom Vatersein, Lieben und Loslassen

    Patrik und Kara sind Leistungssportler, er im Diskus, sie im Hürdenlauf. Ein Leben, bei dem es auf die Effektivität des Körpers ankommt. Die verschiedenen Trainingseinheiten sind präzise geplant, man fokussiert sich auf den nächsten Wettbewerb, optimiert die Ernährung, ist Teil eines Teams. Man vergleicht sich, hat Bestweiten und -zeiten permanent im Blick, Struktur und Organisation sind Lebenselixier. Patrik ist der große Coup bereits gelungen: Silbermedaille 2004 in Athen! An diesen Erfolg gilt es anzuknüpfen, dabeizubleiben, hart zu arbeiten, um sich an der Weltspitze dauerhaft zu etablieren. Kara verfolgt sehr ähnliche Ziele, im Sport sind die beiden ein Team. Doch dann wird Kara schwanger: „Sie hatte nie darüber gesprochen, was es für sie bedeutete, ein Kind zu bekommen, nur dass sie es von Anfang an wollte, unbedingt wollte, nachdem es nun einmal passiert war.“ (S. 28) Patrik hat Zweifel, berechtigte Zweifel, wie sich zeigen wird.

    Tochter Ada wird 2007 geboren. Bedingt durch die Mutterschaft hat Kara ihre Ambitionen auf Eis gelegt, während Patrik sich weiterhin einem strammen Trainingsplan unterwirft. Er bemüht sich nach Kräften, Kara zu unterstützen, doch ist das nicht genug: Als Ada vier Monate alt ist, verschwindet Kara ohne Abschied, ohne Kommentar. Die lapidare SMS einer Freundin bringt Sicherheit: „She´s with me. Don´t worry“. Von nun an ist Patrik allein für Ada verantwortlich. Er übernimmt die Aufgabe vorbildlich mit allen Konsequenzen.

    Der Roman wird auf zwei sich abwechselnden Zeitebenen erzählt. Die eine beschäftigt sich mit der Vergangenheit, mit verschiedenen Stationen in Adas und Patriks Leben, aufgehängt an Adas jeweiligem Lebensalter. Fünfzehn Mal sind sie umgezogen, sie haben kaum Freunde und Bekannte, sind auf sich selbst gestellt. Kara spielt in ihrem Leben offenbar keine Rolle mehr. Patrik wird als hingebungsvoller Vater gezeichnet, der stets das Beste für seine Tochter will. Rückblenden zeigen eine überaus harmonische Vater-Tochter-Beziehung. Die zweite Zeitebene befasst sich mit der Gegenwart (2019). Ada ist mittlerweile eine selbstbewusste 12-jährige Teenagerin, die vor Kurzem erst eine Passion fürs Geräteturnen entwickelte, die Patrik nach Kräften unterstützt. Ada beginnt Fragen nach ihrer Mutter zu stellen, sie hat zunehmend eigene Interessen, möchte sich freier bewegen dürfen als bislang. Mit ihrer Freundin Carla sowie deren Mutter Mirell treten zwei neue Bezugspersonen in Adas und Patriks Leben. Ada beginnt, auf ungute, extreme Weise Grenzen zu testen, ihre Pubertät stellt Patrik vor völlig neue Herausforderungen. Konflikte sind vorprogrammiert. Patrik muss sich der schwierigen Situation stellen, zumal er Geheimnisse hat, die ihn angreifbar und dünnhäutig machen.

    Stefan Mosters Roman besticht durch die leisen, intensiven Töne. Die Schwierigkeiten alleinerziehender Elternteile werden anhand zahlloser berührender Episoden und Beispiele geschildert. Alltag, Einsamkeit, Krankheit, Selbstzweifel und Überforderung werden ebenso gezeigt wie Zweisamkeit, Glücksmomente und grenzenlose Liebe. „Sie (Patrik und Mirell) sprechen über das Alleinsein mit ihren Töchtern. Wie es alles durchdringt, Arbeit, Freizeit, das eigene Alleinsein, das keines mehr ist, weil die Verantwortung keine Minute, keine Sekunde abgegeben werden kann.“ (S. 97) Patrik entwickelt sich zunehmend zum überfürsorglichen Vater, der ungezählte Ängste um seine Tochter aussteht und schwer loslassen kann, obwohl er es müsste. Dabei wirkt seine Perspektive sehr ehrlich. Man spürt, wie stark der Sport seinen Charakter geprägt hat. „Kleine Schritte. Eine Ordnung etablieren. Einen Rhythmus finden.“ (S. 109) Man bekommt Einblicke in die Welt des Diskuswerfens. Patrik sucht Lösungen in seinem früheren erfolgsverwöhnten Leben, sobald er an erzieherische Grenzen stößt. Nostalgische Erinnerungen überfallen ihn unvorbereitet. Seine einstigen Bemühungen um einen perfekten Wurf finden Spiegelbilder in der Erziehungsarbeit. Auch Adas wachsender Ehrgeiz im Turnen passt da mit hinein. Der Autor versteht es meisterhaft, diese verschiedenen Fäden gekonnt zu einem Bild zu verweben. Dabei wird nichts idealisiert: Patriks kaputte Knie, Rücken- und Muskelschmerzen sind der Tribut für den einstigen Erfolg. Alles hat seinen Preis.

    Ich liebe Mosters erzählerische Finessen, seine teilweise rastlosen Sätze, die poetischen Metaphern, die lebensechten Dialoge und wechselnden Tempi. Manchmal steht die Welt still, dann überschlagen sich Gedanken und Ereignisse. Diese variierende Intensität sowie die bildreiche Atmosphäre, die davon ausgeht, sind einzigartig. Jede Szene wird plastisch beschrieben, viele sorgfältig konstruierte Details und Motive haben Gehalt. Automatisch passt man sich mit dem Lesetempo an. Man ist nah bei den Protagonisten mit ihren Ecken und Kanten. Man fühlt mit Patrik mit, auch wenn man sein falsches Verhalten erkennt und korrigieren möchte.

    „Der Silberriese“ ist ein psychologisch dichter Beziehungs- und Familienroman, der die ambivalenten Gefühle alleinerziehender Eltern vielfältig beleuchtet. Schönheit und Intensität der Sprache bestechen. Andreas Moster ist ein toller Erzähler und hat mich mit seinem verletzlichen, fehlbaren und doch starken Protagonisten erneut überzeugt.