Darwyne
Der zehnjährige Darwyne Massily lebt mit seiner Mutter Yolanda in Bois Sec, einem Slum in Französisch-Guayana. Darwyne ist ein Außenseiter, nicht nur wegen seiner körperlichen Beeinträchtigung. Der Junge befasst sich lieber mit der Flora und Fauna des Amazonasdschungels, als Interesse an seinen Mitmenschen zu zeigen. Als bei der Kinder- und Jugendhilfe ein anonymer Anruf eingeht, dass mit der Familie etwas im Argen sei, nimmt sich Sonderpädagogin Mathurine der Akte an. Auch sie liebt den Regenwald. Wird es ihr gelingen, eine Verbindung zu dem verschlossenen Kind aufzunehmen und sein Geheimnis zu erfahren?
"Darwyne" ist der neue Roman von Colin Niel, der bei Suhrkamp in der Übersetzung aus dem Französischen von Anne Thomas erschienen ist. Der Verlag verkauft das Buch als "Thriller" - eine Fehleinschätzung, die "Darwyne" eventuell einer falschen Zielgruppe zuführen könnte. Denn der Roman ist viel mehr als ein schnöder "Thriller", auch wenn er ähnliches Spannungspotenzial aufweist.
Benennt man einen Roman nach einer Hauptfigur, besteht immer das Risiko, dass diese ihrer Rolle vielleicht nicht gerecht werden könnte. Bei "Darwyne" besteht diese Gefahr jedoch nicht. Der junge Titelheld ist von Beginn an Fixpunkt der Erzählung. Er ist derjenige, der die Handlung auf seinen schmalen Schultern voranträgt. Er ist derjenige, bei dem sämtliche Fäden zusammenlaufen. Colin Niel macht in einer bewegenden Anfangsszene deutlich, wie sehr Darwyne seine Mutter liebt. Fast abgöttisch betrachtet er diese Frau während eines Gottesdienstes. Doch früh wird deutlich, dass Yolanda diese Gefühle nicht erwidert. "Kleines Opossum" nennt sie ihren Sohn oder auch mal "dreckigen Makaken".
Colin Niel gelingt es in seinem jüngsten Werk, auf einer Tonleiter der Emotionen nahezu sämtliche Klänge ertönen zu lassen. So gibt es Szenen, die so schwer zu ertragen sind, dass die Leser:innen mit Wut und Abscheu auf die zahlreichen Demütigungen Darwynes durch seine Mutter reagieren werden. Und es gibt unglaublich zärtliche Momente, etwa wenn Darwyne einen gemeinsamen Ausflug mit Mathurine in den Dschungel unternimmt und der Junge endlich seine ganze Individualität zeigen kann; wenn er zeigen kann, was der wahre Darwyne ist. Und nicht die "gerichtete" - welch schrecklicher Begriff - Version, die die Mutter erzogen hat.
Hervorragend ist auch die Figurenzeichnung, die der Autor mit seiner Multiperspektivität hervorruft. Nicht nur die vier zentralen Charaktere - neben den bereits genannten gibt es mit Jhonson noch den mittlerweile achten Stiefvater des Jungen - weisen die diversesten Schattierungen auf, auch die Nebenfiguren überzeugen. Selbst Mutter Yolanda, die in zahlreichen Szenen wie das üble Abbild einer modernen Medea wirkt, hat diese Grautöne. Beispielsweise, wenn sie Mathurine darüber berichtet, wie schwer es für sie ist, als Einwanderin an diesem unwirtlichen Ort Kinder großzuziehen.
Einen ganz eigenen Part nimmt im Roman der Dschungel ein. Seien es so wunderbare Tiernamen wie "Schreipihas", "Guane" oder "Allobates", seien es die Gerüche und Geräusche, die vor allem Darwyne wie kein Zweiter wahrnimmt - Colin Niel erweckt den Regenwald so furios zum Leben, dass man ihn selbst zu spüren glaubt. Hier merkt man, dass der Autor einige Jahre in Französisch-Guayana verbracht hat, wie man im Klappentext erfährt.
Ein zentrales Thema des Romans ist neben der Mütterlichkeit der Respekt - einerseits vor der Natur und ihren Lebewesen, aber auch der Respekt vor dem Menschen, vor der Invidualität eines jeden. Denn letztlich ist es dieser fehlende Respekt, gepaart mit einer existenziellen Angst vor der Andersartigkeit, die aus Yolanda eben diese schreckliche Mutter macht.
So ist "Darwyne", der in Frankreich bereits völlig zu Recht mit zahlreichen Literaturpreisen bedacht wurde, eben kein klassischer Thriller, sondern vielmehr eine Mischung aus Sozialdrama, Spannungs- und auch Abenteuerroman. In jedem Fall eine großartige Melange, die man nicht so schnell vergessen und verdauen kann. Gewarnt werden soll schließlich noch vor der Lektüre des Klappentextes, der bedauerlicherweise einen so zentralen Aspekt verrät, dass man es nur als Ärgernis bezeichnen kann.
Universelles Thema
Darwyne, zehn Jahre alt, wohnt mit seiner Mutter Yolanda in Bois-Sec, einem Slumviertel in Französisch-Guayana. Das Häuschen der beiden ist eine Bruchbude, in der die Mutter Mahlzeiten für den Straßenverkauf kocht, und unmittelbar dahinter beginnt der Amazonas - womit in diesem Fall nicht der Fluss gemeint ist, sondern ein mächtiges Regenwaldgebiet. Der Slum Bois-Sec vergrößert sich ständig und frisst sich in den Wald hinein, und umgekehrt frisst sich der Wald in das bebaute Gelände zurück. Yolandas wechselne Männer sind weitgehend damit ausgelastet, hinter dem Häuschen zu roden. Man kann gar nicht so schnell umhauen und ausreißen, wie es nachwächst. Für Yolanda ist das ein Ärgernis, für den kleinen Darwyne ein Faszinosum. Er nutzt jede Gelegenheit, im Wald zu verschwinden, Knochen zu sammeln, aus denen er kleine Pfeifen schnitzt, und Tiere zu beobachten. Und überhaupt ist der kleine Kerl nicht ganz normal: in der Schule taugt er zu nichts, er spricht kaum und bleibt für sich, und leicht behindert ist er obendrein mit seinen verdrehten Füßen.
Die Sozialarbeiterin Mathurine wird auf die Familie aufmerksam, als ein anonymer Hinweis auf Gewalt durch einen der wechselnden Stiefväter eingeht. Ihre Bemühungen um den Jungen sind zunächst erfolglos (wie überhaupt ihr ganzes Arbeitsleben einem Kampf gegen Windmühlen gleicht, wie eingehend erzählt wird). Der Kleine hat jedoch etwas an sich, was sie nicht loslässt, so dass sie sogar, nachdem sie den Fall bereits abgegeben hat, in ihrer Freizeit weitere Untersuchungen anstellt. Die Mutter ist allgemein hoch geachtet. Der aktuelle Stiefvater scheint auch in Ordnung zu sein. Und trotzdem ist, wie sich herausstellt, die Familie sehr ungewöhnlich.
Colin Niel, der eine Zeitlang in Französisch-Guayana gelebt hat, befasst sich in dem schmalen Roman mit einer unerwartet großen Fülle von Themen: Es geht um die Zustände in den Slumvierteln, um illegale Einwanderung (in diesem Fall aus Venezuela), um Arbeitslosigkeit und um die unterbesetzten, erschöpften Sozialbehörden, in denen nichts richtig erledigt werden kann, weil es einfach zu viel Arbeit für zu wenige Leute gibt. Vor allem geht es aber um ein universelles Thema: das Verhältnis des Menschen zum Wald und zur Natur überhaupt. Niel schafft es, an dem überschaubaren Personal des Romans symbolhaft aufzublättern, wie und warum wir uns von der Natur entfremdet haben; und vor allem zeigt er auf, wie und woher Rettung kommen könnte. Das mag ein altes Thema sein, aber ich habe es nie so ungewöhnlich spannend und eindrücklich aufbereitet gefunden wie hier.
Ich habe bereits zwei Romane von Niel gelesen - "Nur die Tiere" und "Unter Raubtieren" - die mir beide gut gefallen haben, mit der kleinen Einschränkung, dass nicht alle Erzählstimmen, deren Niel sich bedient, authentisch wirken. In "Darwyne" gelingt ihm dies überragend gut. Niel hält sich im wesentlichen an zwei Erzählperspektiven, die der Sozialarbeiterin Mathurine und die des kleinen Darwyne selbst. Besonders diejenige des Jungen ist so bewegend und wahrhaftig, dass das Buch allein dafür schon die Höchstwertung verdient. Dazu kommt noch ein Aspekt, der gar nicht hoch genug geschätzt werden kann: die erwähnte starke Stimme der Hoffnung, besonders am Ende des Buches, die den Leser gestärkt und begeistert aus dem Text entlässt. Ich gebe mindestens sechs von fünf möglichen Sternen. Besser geht es nicht.