Nach den Fähren: Roman

Buchseite und Rezensionen zu 'Nach den Fähren: Roman' von Thea Mengeler
5
5 von 5 (3 Bewertungen)

Inhaltsangabe zu "Nach den Fähren: Roman"

»Vielleicht morgen, sagt der Hafenwärter. Vielleicht kommen die Fähren morgen wieder.« Auf einer vormals beliebten Urlaubsinsel bleiben mit einem Male die Fähren aus und mit ihnen die Urlauber. Das Leben kommt zum Stillstand, die meisten Bewohner verlassen die Insel, nur ein paar wenige harren aus. Hoffend auf eine Rückkehr der Fähren und isoliert voneinander gehen sie den immergleichen Tätigkeiten nach. Das Leben dieser Übriggebliebenen ändert sich erst, als ein Mädchen namens Ada auf unerklärliche Weise im Sommerpalast erscheint und die Nähe zu dem ehemaligen Hausmeister sucht. Ihre Fragen nach seiner Vergangenheit und nach der der Insel führen zu einem Umbruch, der auch dann nicht mehr aufzuhalten ist, als Ada so plötzlich verschwindet, wie sie aufgetaucht ist. Mehr und mehr verweben sich die Geschichten der Figuren, die beginnen, sich mit ihrer Vergangenheit auseinanderzusetzen - und mit der Frage, ob eine Rückkehr der Fähren überhaupt wünschenswert ist. Thea Mengelers Roman erzählt von privaten und gesellschaftlichen Machtverhältnissen, vom (Über-)Tourismus und von den Prozessen der Rückeroberung des eigenen Lebens, des eigenen Lebensraumes. In ihrer knappen, aber feinfühligen und präzisen Sprache schildert sie die Geschehnisse auf der Insel und das Innenleben ihrer Figuren, deren Lebensentscheidungen auf dem Prüfstand stehen.

Format:Gebundene Ausgabe
Seiten:175
EAN:9783835355859

Rezensionen zu "Nach den Fähren: Roman"

  1. Veränderungen

    Nur noch eine überschaubare Anzahl an Einwohner zählt die Insel, die in früheren Jahren ein Touristenmagnet war: die Doktorin, die Bäckerin, der demente General mit seiner Frau, die ihn nur noch hasst, und der Hausmeister. Andere werden nur am Rande erwähnt und sind auf ihre Funktion begrenzt wie z.B. der Barmann, die Fischerin, der Müller, aber auch die Besseren, die in einem großen Haus an der Steilküste wohnen, denn ‚ein Imperium verlässt man nicht‘.

    Am Anfang hatte ich das Gefühl, die Zeit und die Menschen wären erstarrt: es werden nur die negativen Folgen des erloschenen Tourismus‘ aufgeführt, z.B. dass die Geschäfte an der Promenade geschlossen sind, dass die Touristen fehlen, und das Bewusstsein eines Mangels, dass z.B. der Kaffee als erstes zur Neige ging. Nach und nach erfahren wir die Geschichte dieser Insel (namenlos und ohne Lagebezeichnung): wie der Tourismus hier entstand, wie er dann die Einwohner auch nervte (Da fielen mir die fast tagtäglichen Nachrichten z.Zt. über eine vom Massentourismus überschwemmte Insel ein) und wie von heute auf morgen die Fähren wegblieben. (‚Als die Leute die Tore schlossen, sagt der Müller, da fing es an. Das Verlassen. Das Verschwinden der Gäste.‘)

    Wunderschön geschriebene Szenen bezauberten mich wie z.B. ‚Zurück in der Wohnung, versucht sie zu lesen, doch die Bücher verweigern sich ihr oder sie sich ihnen. Sie liest ganze Seiten, ohne einen Gedanken zu erinnern, einen Satz.‘ Oder: ‚Das Kind wächst zur Tochter heran. Tochter zu sein verlangt Manieren und gutes Aussehen. Tochter zu sein verlangt Haltung und ein lächelndes Gesicht.‘
    Ich befürchte, dass dieses schmale Büchlein mit gerade mal 175 Seiten leider nicht alle ansprechen wird, denn besonders die Figur ‚Ada‘, ein junges Mädchen, schrammt nahe am Märchenhaften vorbei. Für mich stellte ihr Auftauchen jedoch einen Wendepunkt dar, um raus aus der Opferrolle zu kommen, auch das Positive an der Situation zu sehen.

    Mich begeisterte die klare und ausdrucksstarke Sprache, mit der Personen (ein Highlight: der Soldat!) und Situationen bildhaft beschrieben wurden. Mir gefiel die Zuversicht, die immer wieder durchschimmerte und ich empfand diesen Roman als überzeugendes Plädoyer für Veränderung! Fünf Sterne vergebe ich für dieses beeindruckende (und lange nachwirkende) Kunstwerk und empfehle es wärmstens!

  1. Ein nachdenklich stimmendes literarisches Kleinod

    Eine unverortete kleine Insel wurde touristisch erschlossen. Anfangs kamen nur wenig Urlauber, dann wurden es immer mehr, schließlich entwickelten sie sich ebenso zur Plage wie zur Lebensgrundlage. Bars, Restaurants und Geschäfte entstehen, Wohnhäuser fallen modernen Hotels in der ersten Reihe zum Opfer. Alles wird auf den Tourismus ausgerichtet. --- Doch plötzlich kommen keine Fähren mehr, die Insel wird von der restlichen Welt abgeschnitten. Von jetzt auf gleich reißt der Touristenstrom ab. Eine Zäsur großen Ausmaßes, die auch Verluste bedeutet. Nur wenige Menschen bleiben auf der Insel. Mengeler reduziert diese zwar vordergründig auf ihre Funktion und gibt ihnen keine Namen. Im Folgenden entwirft aber höchst atmosphärische Charakterstudien, die darüber Auskunft geben, wie der Tourismus das Leben jedes Einzelnen bestimmte, wie sich die gegenwärtige Lebenssituation darstellt und welche Alternativen sich noch bieten.

    Der Roman hat teilweise märchenhafte Züge. Im gelben Haus wohnt zum Beispiel der General mit seiner Frau. Der General ist demenzkrank, seine Frau pflegt ihn. Tagsüber darf er aber auf dem Pferd über die Insel reiten. Hoch zu Ross fühlt er sich wieder jung und klar bei Verstand. „Doch einmal im Sattel, richtet er sich auf und sein Gesicht nimmt die alte Ernsthaftigkeit an. Und gegen die Würde, die er dort oben ausstrahlt, kommt nicht einmal der Bademantel an, den er jetzt immer trägt.“ (S.7) Von solch einfühlsamen Sätzen ist das Buch durchzogen. Abends bringt das Pferd ihn wieder zurück.

    Im Sommerpalast lebt nur noch der Hausmeister, der wie früher die Gästezimmer reinigt und in Stand hält, weil er noch immer auf die Fähren mit den Touristen wartet. Er kümmert sich auch um Garten und Pool. Eines Tages bekommt er Besuch von Ada, einem Mädchen, das ihm Gesellschaft leistet und ihn regelrecht zum Aufblühen bringt. „Hast du nie daran gedacht, wegzugehen?“ „Ich blieb, um meinen Vater aus den Bars abzuholen nach zu viel Schnaps. Ich blieb, weil meine Eltern schon genug verloren hatten. Ich blieb auch, weil ich mir nicht vorstellen konnte, wie ein Leben aussehen könnte, anderswo.“ (S. 39) Als Ada wieder verschwindet, spürt der Hausmeister seine Einsamkeit bewusster und sucht Kontakt.

    Es gibt noch weitere liebevoll gezeichnete Figuren wie die Bäckerin, die Doktorin, die Fischerin oder den Barmann, die alle hervorragend in diese insulare Welt passen. Wir lernen ihre kleinen Geheimnisse und Sehnsüchte kennen, wir nehmen teil an ihren Erinnerungen, verfolgen die Entwicklungen und Interaktionen innerhalb der kleinen Gemeinschaft. Geschildert werden aber auch die Umbrüche, die der Tourismus auslöste. Die Kritik an den Touristenmassen, die alljährlich verschiedenste Ferieninseln stürmen und deren Infrastruktur zerstören, ist offenkundig, ohne je belehrende Züge anzunehmen. Die Autorin erlaubt sehr viel Innensicht auf ihre Figuren, legt sensibel deren Vielschichtigkeit und Widersprüchlichkeit offen. Jedem wendet sie sich so liebevoll zu, dass man am Ende meint, sie alle zu kennen.

    Dieses Buch ist wunderbar anrührend geschrieben, ohne je sentimental zu sein. Die Sprache wirkt zunächst mit ihren kurzen, prägnanten Sätzen einfach. Doch die Autorin flechtet zahllose tiefsinnige und lebenskluge Gedanken in ihre Prosa ein, die zum Nachdenken anregen. Ein wunderbarer kleiner Roman, der viel zu schnell ausgelesen ist. Man möchte noch viel länger auf der kleinen Insel verweilen und in diese präzise verdichtete Sprache eintauchen.

    Auch äußerlich ist das fadengebundene Hardcover eine mit Liebe zum Detail gestaltete Augenweide, in der man sogar eine Inselskizze zur Orientierung findet.

    Eine literarische Perle. Riesige Leseempfehlung!

  1. Von Fluch und Segen des Tourismus

    Kurzmeinung: Dieses Büchlein hat mich sehr berührt. Ein Kandidat für den Deutschen Buchpreis 2024.

    Eine Insel im Irgendwo verortet, das heißt, sie könnte überall sein. Eine Insel, die irgendwann einmal von Touristen entdeckt aus ihrem idyllischen Dornröschenschlaf erwacht. Sie wird zunächst als Geheimtipp gehandelt, doch allmählich kommt die Tourismusschwemme. Die Besucher stellen Ansprüche, wollen Komfort und eben das, was sie überall bekommen. Die Inselbewohner liefern. Indem sie jedoch die Ansprüche der Gäste bedienen, verliert die Insel das, was einst ihren Reiz ausmachte und die Gäste bleiben weg. Desaster.

    Der Kommentar und das Leseerlebnis:
    Die Autorin reduziert die wenigen Menschen, die der Insel die Treue halten auf ihre Funktionen, der Hausmeister, die Bäckerin, die Frau des Generals, der Barkeeper, die Fischerin, die Krankenschwester und die Doktorin, die eigentlich eine Dichterin ist. Auch die Handlung wird reduziert auf Begebenheitsorte, die Bar, das gelbe Haus, der Sommerpalast, der Strand, etc. Die Reduktionen, die die Autorin vornimmt, wirken zusammen mit der lyrischen Sprache ungemein reizvoll. Ich bin verliebt in das Büchlein, das einfach alles, was ein guter Roman braucht, auf komprimiertem Raum darstellt: men sieht in den Hintergrund der Personen, kennt ihre Hoffnungen und Wünsche von einst und erlebt das trostlose Leben jetzt, in dem man innerlich nur überlebt, in dem man stoisch an seinen Alltags-Pflichten festhält: Instandhaltung und Versorgung. Mit wenigen Mitteln und ohne pathetische Innenschau bringt die Autorin das Innenleben der Menschen an den Tag und zum Leuchten. Einfach, in dem sie beschreibt, was sie tun. Die spärliche Interaktion der Menschen enspricht dem, was man von wortkargen eigenbrötlerischen Insulanern erwartet. Karge Herzlichkeit. Das, was übrig ist an Menschlichkeit. Thea Mengeler gelingt die Darstellung von Einsamkeit, Verfall, Menschlichkeit, Hoffnung, Wunschdenken mit unglaublich leichter Feder! Natur und Dekadenz. Verlust. Mehrere Kapitel „Einige Verluste,“ sind nichts weiter als Aufzählungen, die Autorin bleibt konsequent dem Konzept von Reduktion treu – und dennoch sind diese kurzen Kapitel besonders berührend.

    Thea Mengelers „Nach den Fähren“ ist voller Melancholie, die teilweise auf den Erinnerungen "der Übriggebliebenen" fußt und teilweise auf die nicht totzuschlagende Hoffnung, die ein Mensch in sich trägt. Ohne Hoffnung kann man nicht leben. Obwohl es nicht explizit ausgesprochen wird, ist der Roman auch eine Ohrfeige an den unsere Umwelt rücksichtslos ausbeutenden und zerstörerischen Massentourismus.

    Fazit: Ein Juwel.

    Kategorie: Anspruchsvolle Literatur
    Verlag: Wallstein, 2024