Annas Lied: Roman
Hannah ist noch klein als im Kopenhagen der 1930er die ersten Anzeichen auftauchen, dass das Leben der Familie Koppelman nicht immer so ruhig weitergehen wird. Doch zunächst wächst in Hannah der Wunsch ein Instrument zu spielen. Ihre vier älteren Brüder sind der Musik ebenfalls sehr zugetan. Sie alle wollen ihre Mutter stolz machen, wobei die Jungen durchaus ihren eigenen Kopf haben und die jüdischen Traditionen nicht immer wunschgemäß befolgen. Trotz der Unstimmigkeiten hat Hannah eine glückliche Kindheit, Viel Zeit verbringt sie mit ihrer besten Freundin Elisabeth, die sie im jugendlichen Alter auch mal in die Freiheit einer Tanzveranstaltung entführt.
Die Erzählung eines Lebens entfaltet sich in diesem zeitgeschichtlichen Roman. Als jüdische Familie in Dänemark können die Koppelmans noch von Glück reden, dass sie vom Krieg relativ lange unbehelligt bleiben. Doch schon früher hatten sich die Eltern auf den Weg gemacht. Von Polen sollte es nach Amerika gehen, doch dafür reichte das Geld nicht. Und so hat sich Vater Yitzhak in Kopenhagen eine Schneiderwerkstatt aufgebaut, mit der er die Familie ernähren kann. Leider hält das glückliche und relativ sichere Leben nicht ewig und es kommen schwere Zeiten auf die Familie Koppelman zu. Hannah wird eine Entscheidung abverlangt, die eine so junge Frau eigentlich nicht treffen müssen sollte.
Als Leser oder Leserin begleitet man Hannahs bewegtes Leben. Ihr Traum von der Musik muss lange anderen Pflichten weichen. Überhaupt führt Hannah ein Leben der Pflichterfüllung. Manchmal ist es herzzerreißend, wenn man liest, wie Hannah sich selbst und ihre Wünsche hintenanstellt. Bis zu einem gewissen Punkt ist es verständlich, aber irgendwann waren Zeiten schon so, dass sich auch andere Möglichkeiten geboten hätten. Dann fragt man sich wieso. Dennoch ist Hannah eine tolle Persönlichkeit, die der Musik immer gewogen bleibt. Sie lebt ein verlustreiches, aber auch volles Leben. Nicht jede Einzelheit kann geschildert werden. Es sind die besonderen Episoden, die hervorgehoben werden. Ein bewegender Roman mit Bezug zur Wirklichkeit.
Mit dem Bildausschnitt auf dem Titelbild wird die innere Einsamkeit Hannahs, aber auch ihre Liebe zur Musik sehr gut ausgedrückt.
Benjamin Koppel ist ein dänischer Jazzmusiker und Komponist, dessen Debutroman in seiner Heimat die Bestsellerlisten erobert und die Kritiker gleichermaßen begeistert hat. Nun ist diese dänisch - jüdische Familiensaga auf Deutsch erschienen und ich bin überzeugt, dass auch die deutschen Leser dieses Buch lieben werden.
Der Roman basiert auf seiner eigenen Familiengeschichte, denn die Hauptfigur Hannah ist seiner Großtante Anna Koppel ( 1921 - 2019 ) nachempfunden.
Hannah ist das jüngste Kind und einzige Tochter von Bruche und Yitzhak Koppelmann. Die Familie lebt in Kopenhagen. Hierher sind Yitzhak und seine Frau Anfang des Zwanzigsten Jahrhunderts geflüchtet. Auch Yitzhaks Brüder haben ihre Heimat im polnischen Blaszki verlassen und sich, bis auf einen, in Dänemark niedergelassen. Yitzhak arbeitet von früh bis spät in seiner Schneiderwerkstatt, um seiner Familie ein angemessenes Leben zu ermöglichen. Die vier älteren Brüder Hannahs führen das väterliche Erbe nicht weiter, denn alle sind sehr musikalisch und werden erfolgreiche Musiker. Mit dem Berufswunsch der Söhne können sich die Eltern arrangieren, doch dass alle vier nichtjüdische Frauen heiraten, trifft vor allem die Mutter sehr.
Ihre ganze Hoffnung richtet sich nun auf Hannah, sie darf ihre Familie nicht enttäuschen, sie muss das jüdische Erbe weitertragen. „ Hannah würde niemals Schande über die Familie bringen, Hannah würde nie gegen den Willen ihrer Eltern handeln.“ Dabei hat sich Hannah doch gerade leidenschaftlich in Aksel verliebt, einen jungen Kommunisten, der voller Enthusiasmus für eine bessere Welt kämpft. Mit ihm kann Hannah reden und lachen, er nimmt sie und ihre Wünsche und Träume ernst. Denn Hannah möchte wie ihre Brüder Musikerin werden. Sie liebt die Musik und ist eine begabte Pianistin.
„ Musik war eine unerschöpfliche Quelle des Glücklichseins….Das Instrument hörte ihre geheimsten Gedanken, verstand ihre Gefühle und all die anderen Dinge, die sie kaum in Worte fassen oder mit anderen teilen konnte.“
Doch ihre Mutter hat andere Pläne. Sie arrangiert eine Ehe mit Francois, einem wohlhabenden Franzosen aus jüdischer Familie. Dann aber muss erstmal die Hochzeit verschoben werden, denn die Weltgeschichte macht auch vor Dänemark nicht Halt. Die Deutschen besetzen 1940 das Land und einige Zeit später droht auch Familie Koppelman die Deportation. Mit Hilfe von Freunden gelingt ihnen die Flucht nach Schweden
Nach Kriegsende soll nun endlich die geplante Hochzeit stattfinden. Doch zwischenzeitlich hat Hannah eine folgenschwere Entscheidung treffen müssen, was sie schwer belastet . Sie hat keine Kraft mehr, sich zu widersetzen und willigt in die Ehe mit einem für sie fremden Mann ein. Dafür muss sie sogar ihre geliebte Heimat verlassen und nach Paris ziehen. Und Francois erweist sich als despotischer Ehemann und Vater. Doch Hannah bleibt bei ihm, aus Pflichtgefühl und ihrer Töchter willen.
Dabei hilft ihr auch die Musik und ihre Liebe zu Aksel. „ Ich bin mein Leben lang glücklich verliebt gewesen…Nur in einen anderen als meinen Ehemann.“ wird Anna Koppel später ihrem Großneffen gestehen.
Benjamin Koppel hat einen warmherzigen Roman geschrieben über eine Frau, die sich entscheiden muss zwischen Pflicht und Liebe. Diese Hannah wächst dem Leser ans Herz. Erfreut man sich zu Beginn an der lebenslustigen und zielstrebigen jungen Frau, leidet man später mit der älteren Hannah.
Da ändert sich auch der Ton im Roman.
Voller Leichtigkeit und Humor beschreibt der Autor die Sippe der Koppelmans. Zahlreiche Geschichten und Anekdoten ergeben ein lebendiges Bild jüdischen Lebens. Die Familientreffen mit den Brüdern, Onkel und Tanten, Cousins und Cousinen zählen zu Hannahs schönsten Erinnerungen. Dabei verschweigt Benjamin Koppel aber auch nicht die tragischen Momente.
Aber nach jenem Trauma wird der Roman ernster. Was für Konsequenzen hat es, wenn religiöse Traditionen und Konventionen über das Glück des Einzelnen gestellt werden? Für heutige Leser ist das egoistische Beharren der Mutter, aber auch Hannahs klagloses Sicheinfügen kaum nachvollziehbar.
Für Männer war es so viel leichter, ein selbstbestimmtes Leben zu führen. Von Frauen wurde erwartet, dass sie sich dem Willen von Eltern und Ehemann fügen. Dass es auch andere Lebensentwürfe für Frauen geben kann, zeigt der Autor an Hannahs Jugendfreundin Elisabeth.
Benjamin Koppel schreibt mit viel Liebe zum Detail, beschreibt ausführlich einzelne Lebensabschnitte, doch zwischen den Kapiteln gibt es größere Zeitsprünge. Das ermöglicht ihm auf 500 Seiten ein beinahe hundertjähriges Leben auszubreiten.
Musik durchzieht den gesamten Roman. Wer mag, kann sich die zahlreichen Musikstücke, die namentlich aufgeführt werden, anhören.
„ Annas Lied“ ist eine anrührende Familiensaga, die um ein bewegendes Frauenschicksal kreist; schön geschrieben und fesselnd zu lesen.
Nach mehr als sechzig Jahren Ehe stirbt Hannahs Ehemann und sie fragt sich: "What can I do with the rest of my life"?
Nachdem sie ihrer große Liebe Aksel nach dem Willen ihrer Mutter aufgegeben hat, und um ihre Familie nicht zu enttäuschen, folgt Hannah der jüdischen Tradition und stimmt schweren Herzens einer arrangierten Ehe zu. Aus ihrer Heimat Dänemark, zieht sie nach Frankreich, wo sie sehr einsam ihr Leben verbringt. Ihr Ehemann gleicht in nichts ihren Hoffnungen und Vorstellungen, sogar ihre Leidenschaft für das Klavierspiel verbietet er. Sie, die in Musik, in Klängen und Tönen gelebt hat ergiebt sich in allem ihrem Schicksal. Erst nach dem Tod ihres Mannes findet sie die Freiheit, zu tun und zu lassen was sie will, auch der Musik räumt sie wieder den wichtigsten Platz in ihrem Leben ein.
Dadurch lernt sie einen ihrer Urgroßneffen kennen, den Musiker Benjamin Koppel, dem sie ihr Leben schildert, das er in dichterischer Freiheit, mit ihrer Erlaubnis hier in diesem Buch nacherzählt.
Benjamin Koppel ist ja kein Dichter und trotzdem ist ihm das Buch gelungen, nach den ersten zweihundert Seiten, die hätten besser sein können, nimmt sowohl die Spannung zu, als auch die literarische Qualität.
Ihm verdanken wir, dass das Leben der Anna Koppel nicht sang- und klanglos verschwunden ist.
Der Umschlag, ein Ausschnitt eines Gemäldes von Edward Hopper, passt ausgezeichnet zu dem Buch.
‚Es ist besser, geliebt und verloren zu haben, als niemals gelie
Nachdem Hannahs 4 ältere Brüder sich selbst ihre (nichtjüdischen) Frauen ausgesucht hatten, lag auf Hannah die ganze Hoffnung der Familie, den guten Ruf der traditionellen jüdischen Familie zu erhalten. Und so willigt sie in die von (besonders) ihrer Mutter arrangierten Ehe ein und heiratet Francoir, einen für sie Wildfremden, und zieht zu ihm nach Paris.
Sie träumt jahrelang, ‚ihn zu verlassen, seinem klebrigen Spinnennetz aus Selbsthass und Menschenfeindlichkeit zu entkommen, das aus einer dicken Schicht eines Minderwertigkeitskomplexes beruht.‘ Aber sie hält durch – immer wieder auch gestärkt durch Briefe von Aksel, ihrer großen Liebe – die jedoch nicht sein durfte, da Aksel kein Jude war. Und auch aus Verantwortungsgefühl gegenüber ihren drei Töchtern.
(Sehr nahe ging mir die Unterhaltung anlässlich des 98. Geburtstags ihrer Mutter: „Habe ich dich im Stich gelassen, mein Bufkele? Ich wollte doch nur das Beste im Leben für dich. Immer. Du hast das Beste im Leben verdient, meine liebe Tochter.“ Ich weiß nicht, ob ich die innere Größe von Hannah gehabt hätte mit ihrer Antwort.)
Wir erfahren aber nicht nur vom fast 60 Jahre dauerndem Eheleben, sondern auch viel von jüdischen Traditionen und Regeln (und dem unterschiedlichen Umgang damit), von der Geschichte der Juden in Dänemark im 20. Jahrhundert mit Judenverfolgung und dem Leben im Konzentrationslager Auschwitz.
Benjamin Koppel setzte durch dieses Debüt (übersetzt von Ulrich Sonnenberg) seiner Großtante Anna Koppel ein Denkmal. Der Leser spürt auch beider große Verbundenheit durch die Musik – wunderschön und kompetent demonstriert z.B. durch die Beschreibung einer Platte mit Brahms Streichersextett, eine historische Einspielung aus dem Jahr 1952. (Auch als Nicht-Musizierende war das ein Genus für mich!)
Fünf Sterne vergebe ich sehr gerne an diesen vielseitigen und berührenden Familienroman und empfehle ihn wärmstens.