Die Stadt der Anderen: Roman

Buchseite und Rezensionen zu 'Die Stadt der Anderen: Roman' von Patrícia Melo
4.65
4.7 von 5 (8 Bewertungen)

Inhaltsangabe zu "Die Stadt der Anderen: Roman"

Glitzernde Pools, kunstvolle Skulpturen und imposante Tore: Sehnsüchtig blickt Chilves auf die luxuriösen Wohnanlagen von São Paulo. Sein eigenes Leben könnte nicht weiter davon entfernt sein: Er findet Unterschlupf auf der Praça da Matriz, ein Ort, wo jene zusammenkommen, die keinen Ort mehr haben. Da ist Jéssica, seine Jéssica, die große Pläne hegt für ihre gemeinsame Zukunft. Da ist der kleine Dido mit seinem Hundewelpen, der Schriftsteller Iraquitan, der sich an der Schönheit seltsamer Worte festhält, oder Farol Baixo, der Lügner. Zwischen behelfsmäßigen Verschlägen und Öltonnen, in einer Welt, in der sich jeder selbst der Nächste ist, entsteht eine unerwartete Gemeinschaft. Patrícia Melo reißt uns mit in eine schmutzig schillernde Metropole und fragt, was uns als Mensch ausmacht.

Format:Gebundene Ausgabe
Seiten:400
Verlag: Unionsverlag
EAN:9783293006027

Rezensionen zu "Die Stadt der Anderen: Roman"

  1. Schieflage einer Gesellschaft

    Patricia Melo versetzt ihren Leser nach Sao Paolo/Brasilien, eine 12-Millionen-Stadt. Das Eingangszitat aus Victor Hugos „Die Elenden“ stimmt den Leser schon ein auf das, was ihn erwartet: einen Roman über Obdachlose, über soziale Probleme, über ethnisch Diskriminierte, über sozial Deklassierte, Menschen aller Couleur, die am Rande der Gesellschaft leben und nicht in der Lage sind, sich an ihren eigenen Haaren aus dem Sumpf zu ziehen.

    Melo lässt einen Figurenreigen auftreten, dessen Figuren locker miteinander verbunden sind und die eines gemeinsam haben: alle sind auf der Straße gelandet, und sie kämpfen mit unterschiedlichen Mitteln ums tägliche Überleben. Die Autorin führt die vielen Personen sehr sicher durch die Handlung, sie behält die Erzählung souverän in ihrer Hand. Traumatisierte, Bettler, Junkies, Prostituierte, elternlose Kinder, Transvestiten, Tagelöhner, Diebe und andere Kriminelle, aber auch Studenten und ehemals Bürgerliche, die in eine Schieflage geraten sind und nicht mehr herausfinden – sie alle sammeln sich an einem Platz.

    Mit dieser Situation nimmt Melo aber auch andere Probleme der brasilianischen Gesellschaft ins Visier: eine korrupte Justiz, eine gewalttätige Polizei, die Lynchjustiz praktiziert, den alltäglichen Rassismus, die staatliche Förderung von Großkapital, den Pauperismus breiter Gesellschaftsschichten – kurz: die gewaltige Schieflage der brasilianischen Gesellschaft und das Versagen eines Staatswesens.
    Melos Sozialkritik ist überdeutlich und auch berechtigt. Gelegentlich geht ihre Empörung mit ihr durch, etwa wenn sie als Autorin Informationen über das Gesundheitswesen gibt, die die Perspektive der jeweiligen Figur übersteigen.

    Die einzelnen Figuren des großen Reigens sind voller Empathie gezeichnet. Sehr anrührend ist es, wenn sie selber ihre Träume schildern: eine Steuernummer, eine Arbeit, das tägliche Essen für sich und die Familie, ein Dach über dem Kopf. Im Zentrum der Handlung steht das sog. Makan-Gebäude, das einem weiblichen Immobilien-Tycoon gehört, die es als Spekulationsobjekt verkommen lässt. Eine Gruppe besetzt das Haus, renoviert es, installiert eine funktionierende Gemeinschaft – ein Hoffnungsschimmer für die Obdachlosen und zugleich der Ansatz einer Revolution, die allerdings durch Polizei und Militär zerschlagen wird.

    Was bleibt? Wer hat eine Zukunft?

    4,5/5*

  1. 5
    21. Apr 2024 

    Armut und Menschlichkeit

    Schauplatz des aktuellen Romans „Die Stadt der Anderen“ der brasilianischen Autorin Patrícia Melo ist die größte Stadt Brasiliens: Saõ Paulo.
    Inmitten dieser gigantischen Stadt gibt es einen Ort, an dem diejenigen zusammenkommen, die anders sind. Sie werden von den Einwohnern der Stadt bestenfalls geduldet, denn sie sind arm, obdachlos, kriminell, drogenabhängig … verachtenswert, denn sie verkörpern den Bodensatz der Gesellschaft.

    Patrícia Melo erzählt die Geschichte dieser Menschen und deren Alltag. Den Rahmen bildet dabei ein Szenario, das man wahrscheinlich in vielen Großstädten dieser Welt findet: Immobilienspekulanten haben es auf ein lukratives Areal abgesehen, auf dem sich die Drogen- und Obdachlosenszene angesiedelt hat. Patrícia Melo schlägt sich dabei auf die Seite der Obdachlosen, also der Schwächeren in diesem Roman.
    Inmitten dieses Konflikts begegnen dem Leser unzählige Charaktere, die Patrícia Melo auf eine sehr besondere Weise gestaltet. Sie schildert das schreckliche Leben dieser Menschen völlig schonungslos. Aber egal, wie arm und heruntergekommen eine Figur ist, die Autorin stellt das Menschliche in den Vordergrund. Sie erzählt deren persönliche Geschichten und wie es dazu kam, dass sie in der Gosse gelandet sind. Der Leser lernt die Träume und Sehnsüchte der Protagonisten kennen. Und nach und nach entwickeln sich Charaktere, die vielschichtig sind, die fern ab aller Klischees gestaltet sind, und die nicht auf ihren gesellschaftlichen Status reduziert sind. Aus dieser Vielzahl an Charaktere werden sich einige für den Leser zu Lieblingsmenschen entwickeln. Man schließt sie ins Herz, leidet mit ihnen und hat die Befürchtung, dass ihnen Schlimmes widerfahren könnte, was sich leider bei manch einem auch bewahrheiten wird. Daher freut man sich umso mehr über die kleinen positiven Momente, die - so unbedeutend sie auch sein mögen - durch die Freude, die sie diesem Lieblingsmenschen bereiten, auf einmal riesengroß sind.

    Neben der Vielzahl der positiven Charaktere in diesem Roman gibt es aber auch die Fieslinge, die nicht nur in dieser Gemeinschaft zu finden sind, sondern insbesondere außerhalb: Es sind die Reichen und Wohlhabenden, genauso wie Angehörige des brasilianischen Staatsapparats, die den Unterprivilegierten mit einer unfassbaren Menschenverachtung begegnen, die schwer zu akzeptieren ist.

    Ein großes Thema in diesem Roman ist die vorherrschende Korruption innerhalb der Polizei und der öffentlichen Institutionen. Es ist nicht so, dass man als westeuropäische Leserin nicht damit rechnen würde, dass die Korruption zum öffentlichen Alltag in einem südamerikanischen Land dazugehört. Aber das Ausmaß, welches Patrícia Melo in diesem Roman schildert und anprangert, trifft die Vorstellungskraft der Leserin nur ansatzweise.

    Mein Fazit:
    „Die Stadt der Anderen“ ist ein Roman über ein Thema, auf das man nur mit Empörung reagieren kann, was das Lesen bei jedem anderen Roman sehr aufreibend und anstrengend machen würde. Doch hier ist das Gegenteil der Fall, ich habe diese Geschichte als „Wohlfühlroman“ erlebt. Neben der ganzen Hässlichkeit, die sich in diesem Roman zeigt, schwingt unglaublich viel Empathie für die Charaktere und Menschlichkeit durch, wobei Patrícia Melo auf jegliche Gefühlsduselei verzichtet. Diese Menschlichkeit ist der Grund, warum ich mich bei diesem Roman sehr wohlgefühlt und ihn sehr genossen habe. Dabei habe ich jedoch in keinem Moment den kritischen Blick auf die gesellschaftlichen Missstände verloren. Patrícia Melo hat also den Königsweg zwischen Empörung und Lesegenuss gefunden. Großes Erzählkino!

    ©Renie

  1. Portrait einer Gesellschaft am Rande des Abgrunds

    Seit Jahren ist die brasilianische Autorin für ihre sozialkritischen und gut recherchierten Kriminalromane bekannt. Nicht zum ersten Mal wendet Melo in "Die Stadt der Anderen" den Blick auf die menschliche Widerstandsfähigkeit und die nie versiegrende Kraft der Hoffnung und die vereinigende Kraft des Zusammenhalts. In der brasilianischen Großstadt Sao Paulo kann man schnell und unversehens vom Mittelstand in die Obdachlosigkeit abrutschen und so in der Gesellschaft "verloren gehen". Viele teilen ein solches Schicksal. Sie mögen im Einzelnen höchst individuelle Schicksale haben, doch einmal an die Ränder der Gesellschaft angelangt, vereint sie der Glaube daran, dass man zusammenhalten muss, um den Hauch der Chance zu haben, wahrgenommen werden. Es ist ein solcher Kampf um Sichtbarkeit einer Vielzahl obdachlos gewordener Menschen, den Melo in ihrem neuen Roman eindrucksvoll schildert.

    Dass sie sich um den Praza da Martiz tummeln, ist der Verwaltung ein Dorn im Auge. Dennoch wird das Schicksal der vielen Namenlosen, die unbestimmt miteinander verbunden sind und sich allesamt in einer Art Teufelskreis zu befinden scheinen, recht tatenlos in Kauf genommen. Melo kritisiert die schreienden Ungerechtigkeiten im Herzen Brasiliens. Sie rückt diese ins Licht ohne anzuklagen oder dem naiven Glauben, grundlegende Änderungen seien möglich zu befeuern. Stattdessen geht es ihr darum, Obdachlose als Menschen unter Menschen zu sehen, die ihre eigene Stimme und einen gebührenden Respekt verdienen.

    Meiner Meinung nach ist dies nicht der stärkste Roman Melos. Dennoch habe ich die Geschichte mit viel Interesse gelesen. Empfehlenswert ist das Buch für jene, die mehr über die brasilianische Gesellschaft mitsamt ihren (ungleichen) Strukturen in Erfahrung bringen wollen.

  1. Empathie und Menschlichkeit am sozialen Rand

    Patrícia Melos Roman „Die Stadt der Anderen“ ist ein Buch, das nachklingt und beeindruckt – etwas, was man zu Beginn der Lektüre so noch gar nicht vermutet, denn es braucht wirklich eine ganze Weile, um sich im Dickicht der Personen und des Großstadtdschungels von Sao Paulo zurechtzufinden. Vom Aufbau her wirkt der Text zunächst wie ein Episodenroman, die einzelnen Handlungsstränge und Figuren scheinen lose nebeneinander zu stehen, verbunden lediglich durch die (drohende) Obdachlosigkeit. Sehr schnell wird allerdings klar, dass es sich hier um eine Geschichte im Stil von Filmen wie „L.A.Crash“ handelt, sich fast alle Figuren also irgendwann über den Weg laufen oder eine Rolle im Handlungsstrang der anderen spielen. Das ist ausgesprochen fein und sinnvoll konzipiert, wird sehr behutsam ausgesponnen und entwickelt eine regelrechte Sogwirkung beim Lesen, denn dadurch, dass die Kapitel immer wieder unterschiedliche Figuren als Fokus haben, man gleichzeitig aber nach Überschneidungen und Vernetzungen forscht, ist die Lektüre sehr abwechslungsreich und kurzweilig und erzeugt ein fortlaufendes Spannungshoch.

    Hat man sich erst einmal mit dem doch recht umfangreichen Figurenpersonal vertraut gemacht, nimmt der Roman einen mit zu den Abgründen, den sozialen Ungerechtigkeiten, den Abstürzen und den Leben, die nach gängiger gesellschaftlicher Definition nicht mehr viel wert sind. Der Roman zeigt die dünne Grenze zwischen Mittelschicht und Obdachlosigkeit, die sich in Brasilien offenbar innerhalb weniger Tage auflösen kann, ein politisches System, das die Schwächsten alleinlässt und religiöse Eiferer, die diese Aussichtslosigkeit ausnutzen, berichtet von unrealistischen Träumen und Visionen.

    Das alles schafft Melo ohne den Leser auch nur an einer Stelle in ohnmächtige Dunkelheit zu stoßen, stattdessen bleibt in ihrer Geschichte die Hoffnung immer präsent und das obwohl in diesem Roman sehr viel gestorben und gelitten wird. Dass der Roman nicht in bedrückender sozialkritischer Depression versinkt, verdankt er Melos souveränem Schreibstil. Denn auch wenn hier nur wenig Gutes passiert, hält sie sich auch mit dem Schlechten nicht lange auf. Todesfälle werden wie auch die grausamen Ereignisse nüchtern, fast faktisch-distanziert protokolliert. Ihre Figuren betrachtet sie empathisch und liebevoll betrachtet, aber ohne übertriebene Betroffenheitspose oder unnötiges Sentimentalitätsgeplauder.

    Bei Melo ist das Leben schwer, aber Jammern hilft nicht, denn die Bedingungen in Brasilien sind entsetzlich, doch daran muss man sich anpassen, denn eine grundlegende Änderung ist nicht in Sicht. Durch diese Haltung, die vom Aufbau des Textes, der Figurenkonzeption und dem Stil der Autorin reflektiert wird, weckt der Roman Aufmerksamkeit für das Leben auf den Straßen Sao Paulos und natürlich auch Mitgefühl. Für wen und warum kann man sich aber selbst aussuchen – für mich die ganz große Stärke des ganzen Textes. Hier wird nicht mit didaktisch erhobenem Zeigefinger zur Revolution aufgerufen, der Leser nicht zur Empörung gezwungen, vielmehr geht es darum, die am Rande einer Gesellschaft Existierenden sichtbar zu machen und als Menschen zu betrachten, sie mit Würde auszustatten und menschlich zu behandeln.

    Mich hat der Roman sehr begeistert, fasziniert und bereichert. Melo gelingt es sehr eindrucksvoll Brasiliens Politik und z.B. auch die Corona-Krise in den Roman einzubinden ohne je den Fokus zu verlieren. Sie weckt Verständnis und Mitgefühl, drückt aber nie auf die emotionale Tränendrüse. Der Roman ist erschütternd, aber anstatt zu verstören oder zu schockieren, weckt er Sensibilität für Themen, die sich außerhalb unserer Nachrichtenwelten abspielen. Mich hat der Roman sehr begeistert.

  1. Brasilien von unten

    Sao Paulo gilt als Finanzzentrum Brasiliens und ist mit über 12 Millionen Einwohnern eine der bevölkerungsreichsten Städte der Welt. Es gibt exzellente Bars und Restaurants, ein breites kulturelles Angebot, traumhafte Villen sowie architektonische Meisterwerke. Doch von all diesen touristischen Highlights berichtet Patricia Melo in ihrem neuen Roman nicht. Sie zeigt uns die andere Seite der Stadt, die Welt der Armut, der Vergessenen, der Gestrauchelten, den auf der Straße Lebenden. Die Kapitel sind kurz. Einem Kaleidoskop ähnlich zeigt sie uns jeweils ein Schicksal und erzählt nach und nach die dazu gehörige Geschichte. Die Perspektiven wechseln. Die Lebensumstände der gezeigten Figuren ähneln sich, doch hat jeder seine eigene Dramatik. Die meisten Menschen haben keine feste Arbeit. Wem diese fehlt, der verliert seine Wohnung und landet über kurz oder lang in der Obdachlosigkeit. Wer noch kann, versucht sich durch einfache Jobs über Wasser zu halten oder Müll zu sammeln, den man am Abend verkaufen kann. Handel ist beliebt, die Grenze zur Illegalität verläuft fließend. Wer sein Elend nicht mehr ertragen kann, konsumiert Drogen, was Beschaffungsnöte nach sich zieht und den Weg in die Prostitution, zu Raub und Diebstahl ebnet. Fehlende sanitäre Anlagen verbessern die Lage nicht. Meistens gehen die Wege dieser Menschen nur in eine Richtung: bergab.

    Patricia Melo zeigt uns diese Menschen rund um die Praca da Matriz, den großen Platz im Zentrum Sao Paulos. Hier wimmelt es von Wohnungslosen, was die Verwaltung nicht gerne sieht. Der Roman gibt ihnen Gesichter und Individualität. Wir lernen die einzelnen Schicksale kennen, erfahren wesentliche Stationen, an denen die einzelnen Figuren gestrauchelt sind. Nicht selten ist behördliche Willkür im Spiel. Wer auf der Straße lebt, muss ständig Angst vor den Hierarchien der Macht haben, seien es Behörden, Miliz oder Polizei. Auf allen staatlichen Ebenen ist man korrumpierbar und sucht den eigenen Vorteil. In diesem Milieu ist es völlig risikolos, jemanden in Beugungshaft zu nehmen oder umzubringen. Niemand forscht ernsthaft nach, wenn einer von den obdachlosen Schwarzen verschwindet. Für diese Menschen gibt es keinen Schutz und keine Gerechtigkeit, was die Hemmschwelle zum Töten und Drangsalieren niedrig macht. Die Kriminalitätsrate ist immens hoch.

    Die Protagonisten werden weitgehend sehr menschlich und sympathisch gezeichnet. Sie verhalten sich solidarisch untereinander, versuchen für ihre Rechte zu einzustehen, was sich u.a. in einer Hausbesetzung äußert. Die bescheidenen Wünsche, Sehnsüchte und Träume dieser Leute sind ebenso nachvollzieh- wie meistens unerreichbar. Aber es gibt auch andere, die ihre Nächsten beklauen, sie zu Drogen oder Alkohol verführen und das Gesetz der Straße perfekt beherrschen. Man muss nicht nur vor den behördlichen Handlangern auf der Hut sein.

    Ein Gegenpol und ausgeprägter Held des Alltags ist der Totengräber Douglas. Auf dem Friedhof fällt ihm die obdachlose Zelia auf, die unter tragischen Umständen ihren Sohn und damit jeglichen Halt verloren hat. Douglas bemüht sich um das Vertrauen der Frau. Er will ihr erlittenes Unrecht sühnen und tritt damit sprichwörtlich eine Lawine in Gang, die in einen Thriller passen würde.

    Es ist faszinierend, wie es der Autorin gelingt, das gezeigte Grauen, die Willkür des Staates, die grausamen Ungerechtigkeiten für den Leser erträglich zu machen. Man verfolgt Kapitel für Kapitel mit großem Interesse, die Spannung steigt kontinuierlich. Melo jongliert verschiedene Handlungsfäden, die sich teilweise ergänzen und verzahnen. Der Roman fesselt wie ein Kriminalroman, ohne einer zu sein. Es wird kein Täter ermittelt, sondern ein System aufgedeckt: das System der brasilianischen Armut. Es handelt sich klar um ein sozialkritisches Werk, doch Melo bewertet nicht und verkündet auch keine lautstarken Botschaften, sondern schildert lediglich, indem sie zeigt, wie das Leben der Ärmsten in der Millionenmetropole vonstattengeht. Die Handlung wurde übrigens während der Corona-Pandemie angesiedelt. Sie bildet jedoch nur den Hintergrund, der die ohnehin prekäre soziale Lage drastisch verschärft. Das betrifft insbesondere die Situation in Krankenhäusern und auf Friedhöfen, wo sich die Todesopfer stapeln. (Wir erinnern uns, dass Präsident Bolsonaro die Pandemie als „kleine Grippe“ bezeichnete – die Folgen waren verheerend.)

    Große Leseempfehlung für diesen großartig geschriebenen und unter die Haut gehenden Pageturner, der uns Europäer ein Stückweit aus unserer Wohlstandsblase hinausführt und eine Welt zeigt, mit der wir gar nicht gerne konfrontiert werden. Patricia Melo ist eine fabelhafte Erzählerin, die den richtigen Ton trifft und ihren Roman ohne Pathos glaubwürdig über die Ziellinie bringt. Sie bleibt bis zur letzten Zeile erschreckend realistisch. „Die Stadt der Anderen“ ist ein Buch, das man breiten Leserschichten an die Hand geben kann. Eine sehr gewinnbringende Lektüre!

  1. Lesehighlight

    Die Metropole São Paulo bietet eine Menge, für die Menschen die ganz unten angekommen sind jedoch sehr wenig. Ohne Arbeit, ohne Geld, sind viele dieser Menschen obdachlos, aus diesem Sumpf wieder herauszukommen ist nicht leicht. Die Praça da Matiz ist nun ihr zu Hause.
    Auf eine schlecht bezahlte Arbeit kommen zig mal mehr Bewerber als Angebote da sind. Die Stellen, an denen Hilfe zu erwarten ist, liegen weit auseinander, man muss sich also entscheiden, ob man den Duschbus nutzen möchte, oder sich stundenlang anstellt, um eine geringe Aussicht auf einen Job zu bekommen, dessen Entlohnung auch nur für eine Unterkunft, oder für Nahrung reicht. Ein schrecklicher Teufelskreis.
    Drogen, Kriminalität, Prostitution und Gewalt stehen an der Tagesordnung. Wer erstmal in diese Mühle geraten ist, entkommt ihr nur sehr schwer aus eigenem Antrieb.

    Die Autorin zeigt in ihrem Roman viele, verschiedene Schicksale, der soziale Abstieg hat bei den meisten schon stattgefunden, oder sie stehen kurz davor. Sie beschreibt die Lebensumstände, die Ursachen, prangert dabei aber nicht an, sie zeigt nur auf, was in den Straßen abgeht.
    Sie erzählt von Chilves und Jéssica, die auf Pappen schlafen, und tagsüber sammeln gehen um ihre Beute einzulösen, zu einem niederschmetternd niedrigen Preis.
    Seno verliert seine Arbeit, seine Frau, und findet einfach keinen neuen Job.
    Dido, eigentlich fast noch ein Kind, lebt ebenfalls auf der Straße, er liebt seinen Hund über alles, doch überleben kostet Geld, warum dann nicht dealen, wenn man die Möglichkeit dazu hat?
    Der Schriftsteller Iraquitan, der sich Hilfe suchend an eine Einrichtung wendet, aber merkt, dass er mit den Doktrinen, den Auflagen dort, nicht klar kommt.
    Glenda, die eigentlich Weaverton heißt, und die als schriller Paradiesvogel das Herz am rechten Fleck hat, und sich trotz der Anfeindungen nicht unterkriegen lässt.
    Douglas, der der Mutter eines Kindes helfen möchte Gerechtigkeit zu bekommen, weil ein Polizist ihren Sohn grundlos erschossen hat. Generell ist die Korruption seitens der Polizei mehrfach Thema, schrecklich, dass mit dem Elend dieser Menschen auch noch gespielt wird, sie scheinen nicht nur ihr Heim verloren zu haben, sondern auch ihre Grundrechte.
    Ich habe hier bewusst nicht alle Charaktere aufgeführt, und ihr Schicksal auch nur kurz angedeutet, denn man muss diesen Romaneinfach selbst lesen, um das gewaltige Ausmaß greifen zu können.
    Es lohnt sich auf jeden Fall, denn der Schreibstil der Autorin ist sehr fesselnd, und sie versteht es den Leser in ihren Bann zu ziehen.
    Ein Werk, das wachrüttelt, das informiert, was ein neues Bewusstsein für dieses Land aufkommen lässt.
    Für mich zählt dieser Roman zu meinen Lesehighlights für dieses Jahr, und kann ihn wärmstens empfehlen!

  1. Auf der Straße leben.

    Kurzmeinung: Gesellschaftskritisch, unlarmoyant, auf den Punkt.

    Patricia Melo widmet sich in ihrem Roman „Die Stadt der anderen“ dem Problem der Obdachlosigkeit in Brasilien. Dabei konzentriert sie sich auf eine einzige brasilianische Großstadt, auf Sao Paulo. Aber was dort geschieht, ist exemplarisch für jede Großstadt Brasiliens.
    Ihr Roman spielt zu HochZeiten der Corona-Pandemie. Brasiliens Regierung tut nichts und die Ergebnisse dieses Nichtstuns sind Berge von Toten, die u.a. der Totengräber Douglas zu entsorgen hat, einen Sarg kann man schon lange nicht mehr jedem Toten zukommen lassen, die städtischen Ressourcen sind endlich.
    Die Auswirkungen der Pandemie treffen diejenigen am härtesten, die schon lange alles verloren haben und schutz- und de facto rechtlos in einer Stadt wohnen, deren Vorteile und Errungenschaften sie nicht in Anspruch nehmen dürfen. Sowohl von der zivilen wie auch von der militärischen Polizei werden diese Menschen misshandelt. Das Polizeiwesen ist korrupt bis auf die Knochen, die Stadtverwaltung will die Menge der Obdachlosen an die Ränder der Großstadt drängen, weil sie das Stadtbild verschandeln und greift zu unlauteren und illegalen Mitteln, um dieses Ziel zu erreichen. Das Problem, Polizeigewalt und Behördenwillkür, ist nicht zu überwinden. Selbst dann nicht, wenn man noch nicht jeder Initiativkraft beraubt ist.

    Der Kommentar:
    Der Roman ist wie ein Wohlfühlroman geschrieben, obwohl er thematisch kein Wohlfühlroman ist bei all dem Elend, das man antrifft. Er ist in kurze Kapitel gegliedert, mit sympathischen Figuren und Charakteren bevölkert, die Autorin versammelt zahlreiches Personal. Am Anfang ist das anstrengend, bis man alle kennengelernt hat, aber kaum sind alle einmal aufgetreten, schwimmt man als Leser wie ein Fisch im Wasser. Warmherzig vermittelt die Autorin den berechtigten Aufschrei der Obdachlosen „wir sind Menschen“ behandelt uns gefälligst als solche!"
    Das sind sie, sie sind Menschen, das macht uns Patricia Melo klar, obgleich keine Engelein. Sie streiten sich und übervorteilen sich, sie sind Dealer und Zuhälter und sie kämpfen zum Teil rücksichtslos ums Überleben. Aber immer wieder entfaltet sich in dem ganzen Chaos auch Fürsorge und Menschlichkeit. Noch immer hegen die Menschen tief in ihrem Inneren Träume und eine Hoffnung.
    Obdachlosigkeit ist in Brasilien ein großes Problem; aber nicht nur dort. Auch in unseren Breitengraden wird Wohnungsnot immer akuter. Wie schnell kann es gehen, dass eine oder mehrere Sprossen der Lebens- und Karriereleiter nicht halten und man krachend abstürzt. Wenn dann kein tragfähiges soziales Netz der Behörden da ist, ist man verloren. Wenn man erst einmal ganz unten angekommen ist, hat ein Mensch kaum noch eine Chance. Ein brutaler Überlebenskampf beginnt. P. Melo schaut hin, wechselt die Perspektive, versetzt sich in den anderen. Ein wohltuendes Beispiel für Menschlichkeit, auch ein aufrüttelndes, sind wir doch genauso wie die gesettelten Bewohner Sao Paulos es gewohnt, wegzuschauen. Melo lässt das nicht zu!

    Fazit: Ohne Hinzuschauen, ohne Umdenken in der Gesellschaft kann es keine Perspektiven und keine Lösungen für soziale Not geben. Es bleibt nur Hoffnungslosigkeit und Trauer und Entsetzen. Dies zeigt Patricia Melo in aller Deutlichkeit in ihrem Roman auf. Großes Kino. Leseempfehlung.

    Kategorie: Anspruchsvoller Roman. Gesellschaftskritik
    Unionsverlag, 2024

  1. Die Große Null

    Originaltitel: Menos que um ( = dt. Weniger als Eins)
    Zur Erläuterung des Titels ein Zitat von Seite 115:
    „Wenn nach ihrer einfältigen Rechnung die Null ein verdammtes Nichts ist, dann ist sie für uns, die fünf Prozent*, nicht weniger als Eins, die Null hat einen mystischen Wert, den Wert des perfekten Kreises.“
    *Die Bescheidenen Lehrer der Wahrheit sind die fünf Prozent der Weltbevölkerung, die bereit sind, die Wahrheit zu offenbaren und dem Gemeinwohl zu dienen.

    Zunächst stellt Melo das Personal vor – Arbeitslose, Obdachlose, Wirtschaftsflüchtlinge, Drogensüchtige, Arme, Schwarze. Die Hautfarbe ist immer ein Thema, wenn auch eher unterschwellig. Auch die Gewalt der Polizei und die Willkür der Behörden werden zum Teil nur angedeutet, zum Teil in ausführlichen Dialogen plastisch dargestellt.

    Wir erfahren viel über das Leben auf der Plaça da Matriz, in der Gated Community Swiss Life Residence, im besetzten ehemaligen Makan-Kaufhaus. Und immer wieder wird die Gemeinschaft geschildert, die zwischen den Handelnden herrscht, die Hilfe, die sie einander zuteil werden lassen, die Träume, die sie für sich selbst und für einander haben.

    Die kurzen Kapitel betreffen jeweils einen der Protagonisten, auch die Sprache wechselt je nach Kontext. Eingestreut werden Andeutungen zum Leben in Brasilien in der Corona-Pandemie, zu den vielen Corona-Toten; Präsident Bolsonaro wird erwähnt, wenn auch nicht namentlich; die Möglichkeiten der Obdachlosen, ein wenig Geld zu verdienen und wie sie dabei ausgebeutet werden, werden geschildert.

    Am Schluss ist der korrupte Polizist tot, weil er verpfiffen wurde, aber auch viele andere sind entweder gestorben oder mehr oder weniger brutal ermordet worden. Es gibt auch Lichtblicke und ein Leben nach der Armut; die Autorin mag ihre Figuren und beschreibt sie mitfühlend und, ja, liebevoll.

    Aufgrund des Themas, der Erzählweise und des Aufbaus für mich ein klares Fünfsterne-Buch.