Der Nebel von gestern

Buchseite und Rezensionen zu 'Der Nebel von gestern' von Padura, Leonardo
5
5 von 5 (2 Bewertungen)

Inhaltsangabe zu "Der Nebel von gestern"

Format:Kindle Ausgabe
Seiten:384
Verlag:
EAN:

Rezensionen zu "Der Nebel von gestern"

  1. Ein großartiges Leseerlebnis

    „Die Bolerosängerinnen damals, das waren ganz besondere Frauen. Frauen mit Charakter, wie geschaffen für die Musik, die sie sangen.“ (Zitat Seite 88)

    Inhalt
    Mehr als dreizehn Jahre sind vergangen, seit Mario Conde die Kripo verlassen hat und nun als Antiquar tätig ist. Gerade in diesen Zeiten der Wirtschaftskrise werden kaum mehr neue Bücher veröffentlicht, Privatbibliotheken werden aus Not jedoch verkauft. El Conde spürt interessante Sammlungen auf, sein Geschäftspartner Yoyi „El Palomo“ bringt diese dann auf den Markt. In einem alten Haus, dessen ehemalige Eleganz noch spürbar ist, entdeckt El Conde eine umfangreiche Bibliothek mit wertvollen Erstausgaben. Die Geschwister Amalia und Dionisio Ferrero, die mit ihrer neunzigjährigen Mutter in dem Haus leben, brauchen das Geld, um nicht zu verhungern. In einem alten Kochbuch findet El Conde einen Zeitungsartikel aus dem Jahr 1960 über die junge, schöne und erfolgreiche Bolerosängerin Violeta del Rio und ihren überraschenden Rücktritt von der Bühne. Das Bild und die Stimme der Bolerosängerin ziehen El Conde beinahe magisch an und er beginnt nachzuforschen, was damals geschehen ist. Eines frühen Morgens jedoch steht plötzlich Manuel Palacios, inzwischen Capitán, vor El Condes Tür. Dionisio Ferrero ist in seinem Haus ermordet worden, El Conde und El Palomo stehen unter Mordverdacht.

    Thema und Genre
    Gibt es den epischen Kriminalroman schon als Genre, denn besser kan man diesen Roman nicht beschreiben. Es geht um Politik und die Wirtschaftskrise in Kuba, das blühende, lebhafte, schillernde Nachtleben Havannas in den Clubs der vorrevolutionären fünfziger Jahre, um Musik, Schicksale, Freundschaft, Liebe und natürlich um Literatur und alte, wertvolle Bücher.

    Charaktere
    Die einzelnen Protagonisten in beiden Handlungssträngen bieten eine bunte Vielfalt, sie alle sind realistisch und absolut glaubhaft charakterisiert. Seine Heimatstadt Havanna, in der Bandenkriminalität und Armut allgegenwärtig sind, wird Mario Conde immer fremder, ihm bleiben seine Erinnerungen, die ihn bei seinen Streifzügen durch die alten Viertel begleiten. „In dieser Nacht der Verirrungen sah er sich vor die Tatsache des allgemeinen Scheiterns gestellt, das er selbst verkörperte, er und seine brutale Entwurzelung inmitten einer im Nebel der Erinnerungen versunkenen und einer anderen, sich auflösenden Welt.“ (Zitat Seite 211, 212)

    Erzählform und Sprache
    Die aktuelle Handlung wird unterbrochen durch eine Reihe von Briefen, die jemand zwischen Oktober und März eines bestimmten Jahres in der Vergangenheit schreibt. Die Jahreszahl fehlt, lässt sich jedoch nachvollziehen, wer diese Briefe schreibt, lässt sich nur vermuten. Erst im Laufe der fortschreitenden Handlung und durch Condes Recherchen, Erinnerungen und Gespräche ergeben sich Hinweise und weitere Teile eines Puzzles der Ereignisse in den fünfziger Jahren. Gleichzeitig malt Leonardo Padura durch seine lebhaften Schilderungen ein eindrückliches und interessantes Bild Havannas in den fünfziger Jahren und in der Zeit der aktuellen Handlung, die ersten Jahre des einundzwanzigsten Jahrhunderts.

    Fazit
    Eine bildintensive, epische Zeitreise durch das pulsierende Leben in Havanna, seine Kultur, Musik und Literatur und gleichzeitig eine packende Geschichte über Träume, Hoffnungen und menschliche Leidenschaften.

    (Taschenbuch-Ausgabe)

  1. 5
    27. Mai 2020 

    Wie verschwand Violeta del Rio?

    Mario Conte ist ehemaliger Kommissar in Havanna, der vor Jahren den Polizeidienst quittierte aus Unzufriedenheit über die Entwicklungen, die das Land und damit auch sein Job nahmen. Heute lebt er als Bücherantiquar mehr schlecht als recht in Havanna, immer auf der Suche nach interessanten Büchern, die in den so zahlreichen verfallenden Stadtvillen Havannas vor sich hinstehen und den Besitzern bisher noch nicht zur Aufbesserung der mageren Einkommensverhältnisse verholfen haben. Durch Zufall macht er dabei einen großen Fang und entdeckt eine sagenhaft umfangreiche und reiche Bibliothek, die so viele Jahre lang unverkäuflich schien. Jetzt aber sind ihre Besitzer zum Verkauf bereit und Mario nimmt mit Sensibilität und Rücksicht auf nationale Schätze einen Teil der Bücher ab. Die Bewahrung des Kulturerbes Kubas ist ihm dabei immer sehr wichtig, denn er weiß sehr wohl: Diese Bücher sind so wertvoll, dass ihre Käufer nicht aus Kuba stammen werden sondern aus dem Kreis der vielen Ausgewanderten, die in der Ferne ihr Glück und eben den Reichtum machen konnten, den die Zurückgebliebenen nie in der Lage waren zu erarbeiten.
    In einem der Bücher entdeckt Mario einen alten Zeitschriftenartikel über eine Barsängerin im Havanna der so pulsierenden vorrevolutionären 50er Jahre. Es handelt sich dabei um Violeta del Rio, die einen sagenhaften Aufstieg in der Musikwelt Havannas zu dieser Zeit hinlegte, um dann aber gleich wieder wie vom Erdboden verschluckt zu verschwinden und nie wieder zu singen. Mario ist von diesem Schicksal und dieser Figur fasziniert und auf eine Weise angezogen, die er sich selbst nicht erklären kann. Steckt dahinter vielleicht die Faszination, die auch sein Vater wohl für diese Frau zeigte? Mario findet sich wieder in seiner früheren Rolle als Polizist und beginnt zu ermitteln, was mit Violeta damals geschah. Dabei pflastert nicht nur eine Leiche seinen Weg, sondern auch viele intensive Ausflüge in die Historie und die historischen Viertel Kubas, auf die ihn der Leser mit neugierigem Blick begleiten kann. Und so wird das Buch nicht nur zu einem Krimi, sondern auch zu einem Roman, aus dem der Leser ungemein viel über das moderne Kuba genauso wie über das Kuba der 50er Jahre erfahren kann.
    Mein Fazit:
    Diese Mischung aus Krimi-Story und gesellschaftlichem Roman mit historischem Hintergrund hat mich begeistert. Leonardo Padura schafft mit treffender Sprache und lebendigem Romanpersonal ein atmosphärisches Bild von Kuba, das bunt, lebendig und gleichzeitig arm und zerfallen ist.
    Mario Conte ist der Held noch weiterer Bücher von Padura. Sie werden irgendwann und irgendwie wohl mal auf meinem SUB landen.
    Ich gebe dem Roman 5 Sterne und eine Leseempfehlung.