Acqua alta
Mit den Romanen der ehemaligen Weltumseglerin und Vorsitzenden des WWF Frankreich, der 1956 geborenen Französin Isabelle Autissier, reist man weit: nach Südgeorgien mit "Herz auf Eis", an die äußersten Grenzen Sibiriens mit "Klara vergessen" und nun mit "Acqua Alta" nach Venedig. Allerdings liegt die Lagunenstadt schon monatelang in Trümmern, als der Roman 2021 einsetzt:
"Der Nebel steht den Ruinen gut. Er säumt die Risse im Gestein, aus dem nutzlos gewordene Stahlträger hervorragen. Er verschleiert die Trostlosigkeit eines eingestürzten Erkers, eines klaffenden Daches, einer Fassade, aus der die leeren Fenster wie tote Augen starren." (S. 5)
Das unglückliche Zusammentreffen von Hochwasser und Sturm hat zu dem geführt, was viele aufgrund von Bauboom, Massentourismus und Klimawandel längst prophezeiten: dem Untergang der jahrhundertealten Welterbestadt.
Familie Malegatti
Durch die menschenleeren Kanäle steuert ein einsamer Mann sein Boot: Guido Malegatti, Visionär und Macher aus kleinbäuerlichen Verhältnissen an der Küste, dessen Stern in den letzten Jahrzehnten in Venedig kometenhaft aufging: erfolgreicher Bauunternehmer, Heirat mit einer stillen, ganz dem alten Venedig verbundenen Frau aus verarmtem Hochadel und als Krönung gewählter Abgeordneter und Wirtschaftsrat. Wie durch ein Wunder hat er schwerverletzt das Inferno auf seiner Terrasse im dritten Stock überlebt, während die Leiche seiner Frau Maria Alba nie gefunden wurde. Sein Glaube an Fortschritt, Wachstum und Technik war grenzenlos:
"Ich glaube nicht an die Geschichten von der untergehenden Stadt oder der sterbenden Lagune, und selbst wenn es so kommen sollte, dann wird man Lösungen finden. Wir sind schließlich auch auf den Mond geflogen, da machen uns doch wohl ein paar Zentimeter Wasser keine Angst." (S. 185)
Als Stachel in Guidos Fleisch entpuppte sich im Jahr vor der Katastrophe zunehmend seine 17-jährige Tochter Léa. Von der Mutter mit ihrer tiefen Liebe zu Venedig infiziert, erkannte sie während ihres Architekturstudiums schlagartig die Fragilität der Stadt und die Verursacher ihrer Bedrohung. Während ihr Vater auf eine weitere Zunahme der Touristenströme setzte und unbegrenztes Vertrauen in das 2020 eröffnete milliardenschwere Flutschutzsystem MO.S.E. hatte, wurde bei ihr aus anfänglichem Entsetzen Wut, die Studentin aus gutem Hause mutierte zur militanten Aktivistin.
Ein belletristisches Sachbuch
Faszinierend an "Acqua Alta" ist für mich die Mischung aus Sachbuch und Roman, die der wie immer herausragenden Erzählerin Isabelle Autissier vorzüglich gelingt, auch wenn dies unweigerlich zu einem Kompromiss bei der Tiefe und Kompexität der Charaktere führt. Poetische Teile über die Schönheit Venedigs wechseln sich ab mit Daten und Fakten zur Lage der Stadt, im Hintergrund schwingt die Corona-Epidemie mit. Neben Venedig und der Lagune sind – wie immer in ihren Romanen – das Meer und Menschen in Ausnahmesituationen zentral, hier drei antagonistische Mitglieder einer Familie und ihre unvereinbaren Standpunkte.
Nicht nur Venedig
Auch wenn es in "Acqua Alta" vordergründig „nur“ um Venedig geht, steht die Stadt doch symbolisch für die Entwicklung des Klimas, die Umweltzerstörung, das Wegschauen und die Arroganz menschlichen Ehrgeizes weltweit. Dies faktenbasiert und ruhig ins Bewusstsein zu rücken, um im besten Fall ein Nachdenken über eigenes Verhalten zu erreichen, schafft diese fesselnde, gut geschriebene und trotz des vorweggenommenen Endes spannende Dystopie, die nah an der Realität und trotzdem hoffentlich Fiktion bleibt.
Desillusionierende Dystopie...
Einen beeindruckenden Roman präsentiert Isabelle Autissier hier. Sie entwirft ein Untergangsszenario Venedigs, das überaus glaubhaft und deshalb um so erschütternder wirkt.
Im Zentrum des Geschehens stehen die Mitglieder der Familie Malegatti. Diese sind recht prototypisch gezeichnet, was hier aber passend erscheint, da die drei Figuren für jeweils eine andere Position stehen.
Der Vater Guido stammt aus ärmlichen Verhältnissen und hat sich hochgearbeitet, die Hochzeit mit der Tochter einer alteingesessenen venezianischen Adelsfamilie war nur das Sahnehäubchen auf seinem Erfolg. Seither stehen ihm alle Türen offen, und so hat er es bis in die Politik geschafft. Als Wirtschaftsrat kümmert er sich nun um die Finanzen der Stadt und fördert den Tourismus um jeden Preis. Er schlägt die Warnungen vor den Folgen für die Lagune und die Stadt in den Wind, und er vertraut bedingungslos dem Sturmflutsperrwerk MO.S.E. (Modulo Sperimentale Elettromeccanico), das bereits Millarden verschlungen hat und für das jedes Jahr weitere 100 Millionen Euro bereitgestellt werden müssen.
Die Mutter Maria Alba steht für das alte Venedig und den alten Adel. Immer auf akkurates Auftreten bedacht, widmet sie sich den Schönheiten des Lebens und der Stadt. Maria Alba war nie in finanziellen Nöten und bemüht sich, ihrer Tochter das alte Venedig nahezubringen, sie auf die verfallenden Sehenswürdigkeiten aber auch auf die kleinen Besonderheiten der Stadt aufmerksam zu machen. Auf die zunehmenden Rivalitäten zwischen ihrem Mann und ihrer Tochter reagiert sie mit Rückzug. Sie ist die Beobachtende, die Abwartende, die das Geschehen und Handeln anderen überlässt.
Die Tochter Léa wächst wohlbehütet bei ihren Eltern auf, stellt aber mit Beginn ihres Studiums zunehmend einige Standpunkte ihres Vaters in Frage. Sie erfährt viel über die Folgen des Klimawandels, der Industrialisierung, des Tourismus für ihre Stadt - und begreift, dass sie etwas unternehmen muss. Auch das von ihrem Vater so hochgelobte Sturmflutsperrwerk MO.S.E. sieht sie zunehmend kritisch, und das aus gutem Grund. Zu Beginn nimmt Léa nur an Demonstrationen teil, später geht sie in den aktiven Widerstand und verlässt ihre Familie.
All diese Informationen erhält der Leser im Verlauf - nachdem Venedig bereits zerstört wurde. Guido Malegatti hat die Katastrophe überlebt, Mutter und Tochter bleiben vermisst. Monate nach der fürchterlichen Überschwemmung der Stad fährt er mit seinem Boot durch die die Kanäle Venedigs und ist erschüttert vom Ausmaß der Zerstörung. Rückblicke in die Vergangenheit zeugen von den Streitigkeiten zwischen den Befürwortern von Tourismus und Technik und den Mahnern, die vor der Katastrophe warnten. Acqua alta - das winterliche Hochwasser - nimmt seit Jahren an Häufigkeit zu. Ob MO.S.E. hält, was die Betreiber versprechen, wird die Zukunft zeigen.
Penible Recherche liegt diesem Roman zugrunde, der viele Informationen zu den genannten Themen bietet. Sowohl die Funktionsweise des Sturmflutsperrwerks als auch die Argumente für und wider Massentourismus und die Veränderungen in Stadt und Lagune in den letzten Jahrhunderten, v.a. Jahrzehnten werden hier nachvollziehbar dargelegt. Daneben wird immer wieder auch auf die Schönheit Venedigs eingegangen, das Altehrwürdige, die besondere Stimmung zu unterschiedlichen Tageszeiten - und auf den allmählichen Verfall.
Wehmut und Desillusion durchziehen den Roman, was das Ende noch bestärkt. Was mag sich nach solch einer Katastrophe ändern? Autissier deutet an: der Mensch wohl nicht.
Und das beschränkt sich wohl kaum nur auf die Situation um Venedig...
© Parden