Inhaltsangabe zu "Verschlungen: Roman (Edition Klöpfer)"
Verschlungen: Packend und ganz bei sich erzählt Nina Jäckle in ihrem neuen Roman die Geschichte einer Obsession. Während Ewa, die dominantere von zwei Schwestern, manisch nach absoluter Symbiose sucht, unternimmt die Ich-Erzählerin, beengt durch das genetische Diktat des Gleichseins und die Obsession ihrer Schwester, immer wieder Ausbruchversuche. In virtuosen Volten wird hier der Kampf einer Ablösung und Befreiung erzählt. Eine harte, herbe, packende Geschichte – und doch auch eine Art Liebesgesang. Virtuos, vielschichtig: Der Klang dieser versuchten Eroberung einer eigenen Identität und Welt bleibt lange im Ohr.
Das Doppelte oder die Hälfte von eins
„Ich weiß nicht, und vermutlich werde ich es niemals wissen, bin ich denn nun durch dich das Doppelte, oder bin ich die Hälfte von eins?“
„Das doppelte Lottchen“ und „Hanni und Nanni“ haben es vorgemacht: Eineiige Zwillinge sind etwas Besonderes, ein echter Hingucker. Sie sind ein faszinierender Widerspruch zum allgemeinen Streben nach Individualismus innerhalb unserer Gesellschaft. Sie ähneln sich wie ein Ei dem anderen. Aber schaut man genauer hin, lassen sich auch Eier voneinander unterscheiden.
Ganz genau hingeschaut hat Nina Jäckle in ihrem aktuellen Roman „Verschlungen“, in dem sie die Geschichte von Zwillingsschwestern erzählt, deren besondere Verbindung wenig mit den gängigen romantischen Vorstellungen über Zwillingspaare zu tun hat.
Die namenlose Ich-Erzählerin dieses Romans ist 12 Minuten älter als ihre Zwillingsschwester Ewa. Die ersten Jahre nach ihrer Geburt war die monozygote Welt der beiden Mädchen noch in Ordnung. Sie entsprachen dem Idyll des doppelten Lottchens, wofür auch anfangs ihre alleinerziehende Mutter gesorgt hat. Natürlich wurden die beiden Mädchen identisch gekleidet und waren für Außenstehende nicht auseinanderzuhalten. Die Mutter erkannte jedoch schnell, dass diese Gleichmachung in eine Richtung ging, die der Entwicklung ihrer Kinder schaden würde. Denn von Geburt an war die zweitgeborene Ewa die Dominante in dieser geschwisterlichen Verbindung. Sie unterwarf die Ich-Erzählerin vollständig ihrem Willen, diktierte ihr jede noch so unbedeutende Verhaltensweise im Alltag, was bspw. Essgewohnheiten, Schlafenszeiten etc. anging und war auch für die Auswahl der Spielkameraden verantwortlich. Spätestens als die Mädchen ins Teenager-Alter kommen, nimmt Ewas Streben nach „Gleichheit“ manische Züge an und ihr gelingt, jeglichen Versuch der Ich-Erzählerin, sich von der Schwester zu unterscheiden, im Keim zu ersticken.
Ewa ist überzeugt, dass es zwischen den Schwestern keinerlei Geheimnisse gibt. Damit liegt sie falsch, denn der Ich-Erzählerin gelingt es, eine Art Tagebuch zu führen, dem sie ihre Gedanken über die erdrückende Beziehung zu ihrer Schwester anvertraut.
Die Handlung verläuft über zwei Zeitebenen. Denn neben den Erinnerungen an ihre Kindheit, begleiten wir die Ich-Erzählerin bei ihrem Versuch, mit heute 57 Jahren ein Leben nach ihren eigenen Vorstellungen zu führen. Scheinbar hat sie mittlerweile den Kontakt zu ihrer Schwester abgebrochen. Doch welches sind die Vorstellungen der Ich-Erzählerin? Da sie nie einen eigenen Willen entwickeln konnte, steht sie vor der Herausforderung, eine eigene Individualität zu finden, von der sie nicht sicher ist, ob sie diese von der Individualität ihrer Schwester abgrenzen kann.
„Ich zu sein, das bedeutet, Ewa exakt zu entsprechen. Nur in der Summe ergeben wir ein Ganzes. Ich bin gewiss der geringere Teil unserer Summe. Ich abzüglich Ewa, was bliebe übrig unterm Strich? Das ist es, was wir uns antun, seit es uns gibt.“
Der Roman ist im Rückblick geschrieben und behandelt in großen Teilen die Kinderjahre der Schwestern. Der Erzählfluss wird dabei immer wieder durch Auszüge aus dem geheimen Tagebuch unterbrochen. Dies sind kurze Gedanken, die schmerzhaft bewusst machen, welcher seelischen Belastung die Ich-Erzählerin ausgesetzt war. Sie entwickelt Gedanken, die in ihrer Tiefgründigkeit jegliche kindliche Unbeschwertheit vermissen lassen und unfassbar schwermütig wirken.
Ich habe Nina Jäckle durch ihren letzten Roman „Stillhalten“ als eine Sprachkünstlerin kennengelernt, die die Gabe besitzt, mich mit faszinierenden Metaphern und sehr leisen Tönen bis ins Mark zu erschüttern. Auch in „Verschlungen“ zeigt sie diese Kunstfertigkeit. Ihr poetischer Sprachstil ist ein Hochgenuss, der süchtig machen kann.
Fazit:
Nina Jäckle hat ein ungewöhnliches Thema aufgegriffen und durch ihren einzigartigen Sprachstil zu einem wundervollen Stück Literatur gemacht. Ich bin begeistert!
©Renie