Echtzeitalter
Mein Hör-Eindruck;
Der 10jährige Till besichtigt mit seiner Mutter seine künftige Schule, ein traditionsreiches Wiener Gymnasium, das stolz auf seine Geschichte und seine Absolventen ist. Die hohe Mauer fällt ihm auf, die das Institut umgibt, aber noch ist er zu jung um zu erkennen, dass diese Mauer Schule und Schüler vom Leben draußen abtrennt.
Innerhalb dieser Mauern ist nämlich die Welt noch in Ordnung, jedenfalls nach Meinung der Schulleitung: man pflegt die konservativen Werte und lehnt die Sozialdemokratie und andere Verirrungen ab, die sich außerhalb der Mauer breitmachen. „Das Besondere an Wien sind die Wahnsinnigen mit bürgerlicher Fassade, die weitgehend funktionieren, aber nie von hier wegziehen könnten, weil ihr menschenfeindliches Verhalten in keiner anderen Stadt so wenige Konsequenzen hätte“, heißt es so herrlich sarkastisch im Roman, und einem dieser „Wahnsinnigen“ wird Till ausgesetzt sein: seinem Klassleiter Dolinar. Dolinar hat rückwärtsgewandte pädagogische Konzepte, die auf Unterordnung abzielen, und sein Literatur-Unterricht besteht im Auswendiglernen sinnentleerter Details. T
Till aber rebelliert nicht, sondern er passt sich an, was sich bei Schachinger so liest:
„Sie sagen Egipten, weil der Dolinar überzeugt ist, dass Ägüpten falsch sei, und als er mit jemandem spricht, der ihn vom Gegenteil überzeugt, und daraufhin festlegt, dass ab jetzt Ägüpten die richtige Aussprache sei, folgen sie ihm, und als der Dolinar nach zwei Wochen zurückrudert und verlauten lässt, dass seine Quelle nicht zuverlässig gewesen sei, sagen sie eben wieder Egipten.“
Till geht den Weg des geringsten Widerstandes, er will lediglich die Schulzeit überleben, was ihn aber nicht vor den willkürlichen Strafaufsätzen des Lehrers Dolinar schützt. Till findet aber eine Fluchtmöglichkeit: er wird Gamer. Er vertieft sich in die Welt eines Echtzeit-Strategiespiels und feiert dort große Erfolge, und dem Leser kommt es so vor, als ob Till in seinem echten Leben einer seiner Spielfiguren gleicht.
Der chronologisch, also eher altmodisch erzählte Roman begleitet Till bis zum Abitur. Der Tod des Vaters, Freundschaften erste Liebe, Kontakte zu den Reichen, Schönen und Bornierten, Wettbewerbe und die Zeitgeschichte – all das prägt Till. Die Beschreibungen der Spiele sind gelegentlich langatmig, aber trotzdem interessant auch für einen Nicht-Gamer. Ausgesprochen witzig und ironisch-bösartig sind Schachingers Beschreibungen des täglichen Schul-Lebens. Die Schüler gehören alle einer privilegierten Schicht an, der kein Schulverweis und auch keine schlechten Noten etwas anhaben können: ihr Weg nach oben ist von Geburt an vorgezeichnet und gesichert. Alle sind „akademisch mittelmäßig, ambitionslos, aber trotzdem eingebildet“, meint Schachinger, und passen daher hervorragend zu Österreich.
Schachingers Freude an humorvollen, ironischen Szenen ist unübersehbar und macht die Lektüre zu einer leichten und vergnüglichen Angelegenheit. Mag sein, dass ein Lehrer wie Dolinar aus der Zeit gefallen ist und überzeichnet ist, aber kann es sich nicht auch so verhalten, dass hinter der abwehrenden Mauer der Schule solche Relikte einer rechtslastigen schwarzen Pädagogik überleben können? Schachingers Erzählung ist einerseits scharfzüngig, pointiert und witzig, aber andererseits zeigt er Mitgefühl mit seinen Figuren und ihren menschlichen Kümmernissen.
Die Freude am Buch wird gesteigert durch einen perfekten Sprecher, der den Wiener Tonfall wunderbar in sein Vorlesen integriert. Ein ganz großes Vergnügen!
Fazit: ein absolut lesenswerter/hörenswerter Roman, weniger ein Schul- oder ein Adoslezenz-Roman als ein breit angelegter Gesellschaftsroman.
Wie ist das möglich: ein Buch über die Gaming-Szene bereitete mir großes Vergnügen, obwohl mir das Thema ‚Gamen’ absolut fremd ist und ich überhaupt nichts damit anfangen kann? Es konnte nur am Autor liegen, der dieses Thema auch für Laien gut verständlich rüberbrachte! (Sehr hilfreich fand ich da Tills Erklärungen an seine Mutter!)
Warum ich überhaupt zu diesem Lesestoff gegriffen habe? Drei (unserer fünf) Enkel wohnen seit etlichen Jahren in Österreich, sind ca. in Tills Alter und besuchen auch ein Gymnasium, allerdings nicht in Wien. Der Dialekt und auch die österreichische Denk- und Verhaltensweise sind mir dadurch natürlich sehr vertraut und ließen mich öfters schmunzeln.
Wir begleiten Till Kokorda, empathisches Einzel- und Scheidungskind, durch seine Schuljahre im Marianium, einem Elite-Gymnasium in Wien, ‚dessen typischer Absolvent jemand ist, der den vorhandenen Besitz seiner Familie weiter vergrößert, der als Arzt, Anwalt oder Unternehmer die Praxis, Kanzlei oder Firma seines Vaters übernimmt‘ und von Kindern besucht wird, ‚die schon mit 11 wissen, dass sie mehr erben werden, als ihre Lehrer je verdienen werden‘.
Till interessiert das alles nicht, denn sein Hauptinteresse gilt dem Gamen! Aber er hat das große Pech, dass sein Klassenvorstand, Deutsch- und Französisch-Lehrer, Tutor und Betreuer an 5 Nachmittagen ‚der Dolinar‘ ist, dessen Klassen seit 30 Jahren ein spezieller Ruf vorauseilt: als Sohn Kärntner Bauern verbietet er mehr als er erlaubt und bestraft jegliche Disziplinlosigkeit. (Die daraus resultierenden Strafaufsätze mit der erforderlichen Mindest-Wort-Anzahl für ihn nehmen logischerweise viel Zeit in Anspruch!)
Wir lesen aber nicht nur, wie Till sich mehr schlecht als recht durch das Marianium kämpft, von seinen Siegen und Niederlagen bei ‚Age of Empires 2‘ oder seine Unterhaltungen über ‚A O E 2‘, die Beschreibung der Streaming-Community, über seine erste Liebe, pfiffige Klassenstreiche wie ‚Bullshit-Bingo‘, sondern auch Analysen der österreichischen Gesellschaft. (Köstlich fand ich im Zusammenhang mit der Strache-Affäre den Satz: ‚Ibiza ist wie der ‚Faust‘: Jeder Satz wird zum geflügelten Wort.‘)
Das Buch hat mich mit seiner Vielseitigkeit und seiner hervorragend treffenden Sprache bestens unterhalten und meine Freude war groß, als der Autor (mitten in meiner Lektüre) den deutschen Buchpreis 2023 gewann. 5 Sterne deshalb auch von mir! Ich hoffe, noch viel von diesem jungen Ausnahmetalent lesen zu können!
Kurzmeinung: Mit fortschreitendem Hören wird es immer besser! Aber ja, man braucht Geduld.
Till ist ein Schüler auf dem Marianeum in Österreich, Wien, das Marianeum ist eine Art Halbinternat. Privatschule. Abends darf man zhausgehn.Till und seine Mitschüler leiden vier Jahre lang unter einem besonders strengen Lehrer, dem Dollinger. Seine Art, die Jugendlichen an Literatur heranzuführen endet darin, dass sie Literatur hassen. Der Dollinger beleidigt und verabscheut seine Schüler und verbreitet Angst und Schrecken. So jedenfalls erlebt Till seine Schulzeit: als Hölle. Till will nämlich nicht lesen, sondern Computerspiele spielen; einem davon ist er verfallen und er wird darin eine echte Größe. Aber das ist erst später. Das mit der Größe, mein ich, und dass er in Shanghai, China, deshalb um ein Autogramm gebeten wird!
Der Kommentar:
Der Schachinger ist, wie immer, meisterhaft. Freilich braucht man in seinem „Echtzeitalter“ durchaus eine Menge Geduld und Durchhaltevermögen, genau wie der Till, denn vier Jahre sind lang. Und so kommt es einem auch vor, der Roman ist lang, will heißen, es wird einem lang. Dennoch hört man sich bald ein. Die vielen Spitzen Schachingers gegen die Politik Österreichs, dem spezifischen in Österreich herrschenden Rassismus, dem nicht aufgearbeiteten Nationalismus, dem Klassendenken und dem Rechtsruck, etc. etc., machen einfach Spaß. Österreich wie es leibt und lebt, und all das dargestellt in den drei Jugendlichen, die sich schließlich als Clique finden, Fina und Feli und Till. Die Klassenkameraden von Till legen ebenfalls eine perfekte Parodie auf Snobismus und Darstellungskunst hin.
Eine Besonderheit ist die Tradition der Marianeumsschüler, auf den sich am Eingang der Schule befindlichen steinernen Löwen zu spucken und zu rotzen, eine grausige Gaudi, die die Verachtung für jede Art von schulischem Zwang und Drill zum Ausdruck bringt und womit man buchstäblich auf die in Österreich so geliebten Traditionen und das Hochhalten von Förmlichkeiten spuckt. Es ekelt einen ordentlich bei Schachingers Beschreibung.
Natürlich ist „Echtzeitalter“ in erster Linie "nur" ein Coming of Age Roman, freilich einer per excellence. Doch der Schachinger legt den Jugendlichen so viele Bonmots in den Mund, über das Leben, den Schmerz, die Einsamkeit, das Sterben, das Missverstandensein, das Ausgeliefertsein an höhere Mächte, den ganzen Amtsschimmel, die Illusionen der Erwachsenen, die seltsamen Blüten, die Bürokratie treiben kann, die Liebe ... . Letztlich ist es doch das reine Vergnügen, dem Schachinger bis zum Ende der Schulzeit Tills zu folgen. Drugs and Rock’n Roll, halt auf österreichisch kommen auch vor, aber dezent. Und natürlich Wien!
Hörbuchsprecher ist Johannes Nussbaum. Auch in dessen Stimme muss man sich einhören, aber dann trägt der Sprecher mit viel Witz durch die Handlung.
Fazit: Ein echter Schachinger. Was will man mehr? Als bekennender Schachinger-Fan. (Den Bindestrich würde der Dollinger hassen!).
Kategorie: Coming of Age
Hörbuch-Verlag: Argon Digital, 2023/sonst: Rowohlt
Schülerleben...
Sehr gespannt war ich auf den Gewinner des Deutschen Buchpreises aus dem Jahr 2023. Und zu Beginn war ich auch sehr angetan: kein sperriger Schreibstil, ein chronologischer und gut verständlicher Aufbau, Gedanken und Gefühle des Protagonsiten, die man nachvollziehen kann, gesellschaftskritische Seitenhiebe - mit anderen Worten: lesbar! Keine Selbstverständlichkeit für einen Buchpreisträger...
Es geht um das Schülerleben von Till, der nach der Volksschule in ein Wiener Eliteinternat wechselt, ohne wirklich zu denen zu gehören, die die traditionsreiche Schule üblicherweise besuchen: Töchter und Söhne von Ärzten, Anwälten, Politikern. Till fühlt sich von Beginn an nicht wirklich zugehörig, versucht sich unsichtbar zu machen, und hätte vielleicht auch Erfolg damit, wenn er nicht ausgerechnet an den strengsten und verknöchertsten Lehrer der alten Schule geraten wäre. Der Klassenlehrer lebt in alten Zeiten, hält alte Traditionen hoch und zeigt sich in allen Belangen äußerst engstirnig. Er wird auch nicht müde, die Fehler der Schüler vor der ganzen Klasse hervorzuheben, sie zu ständigem Fleiß anzuhalten und selbst die wenige Freizeit, die den Schülern bleibt, zu dominieren. Strafarbeiten, Zusatzstunden, überholte Lektüre - Alltag für die Schüler aus Tills Klasse.
Glücklicherweise findet Till einen Ausgleich zu diesem harten schulischen Alltag. Er liebt es, am PC zu sitzen und das Echtzeit-Strategiespiel Age of Empires 2 zu spielen. Er flüchtet in diese Welt, findet dort bald internationale Anerkennung und wird zur Online-Berühmtheit - ohne dass in seinem realen Umfeld irgendjemand etwas davon ahnt. Doch was hat er letztlich davon, der jüngste Top-10-Spieler der Welt zu sein?
Hier werden persönliche Belange wie die Schulzeit, die erste Liebe, der Verlust des Vaters oder auch die Pubertät beleuchtet - aber auch Themen aufgegriffen wie die nationalsozialistische Vergangenheit des Internats und bestimmter Wiener Kreise, Rassismus, patriarchalische Strukturen, das antiquierte Bildungssystem, Virtualität u.a.m. Schulpolitische wie gesellschaftskritische Seitenhiebe würzen die Einblicke in das alltägliche Leben von Till und haben mir gut gefallen:
"Das Besondere an Wien sind die Wahnsinnigen mit bürgerlicher Fassade, die weitgehend funktionieren, aber nie von hier wegziehen könnten, weil ihr menschenfeindliches Verhalten in keiner anderen Stadt so wenige Konsequenzen hätte. Menschen, die eben nicht außerhalb der Gesellschaft stehen, sondern in geschützten Bereichen mit beschränkter Haftung ihren Jobs nachgehen: in Magistraten, Privatschulen oder bei der Polizei, auch wenn sie psychisch prekäre Leben führen."
Eine Jugend zwischen Tradition und Gaming-Kultur - ein spannender Coming-of-Age-Roman? Leider letztendlich nicht. Nach einem durchaus interessanten Einstieg plätscherte das Geschehen für mein Empfinden doch zunehmend sehr vor sich hin, wiederholten sich ähnliche Szenen in der Klasse, wurde teilweise sehr ausführlich über das Strategiespiel berichtet, wozu ich eher weniger Zugang hatte, und auch Tills Leben verlief weitgehend wenig dramatisch. Treffend fand ich allerdings die Zeichnung der Charaktere, wobei ich mich in einigen wiedererkannte. So fühlte ich mich an die Jugend meines Sohnes erinnert - meine Gedanken zu seinem Spielverhalten fand ich im Buch wieder bei den Reaktionen der Mutter. Interessant fand ich, von der Perspektive des Jugendlichen demgegenüber zu lesen. Und selbst bei den Einstellungen des unangenehmen Klassenlehrers fand ich teilweise Parallelen zu mir selbst:
"Bei ihm ist keine Rede davon, englische Verben im Deutschen mit neuen Flexionsformen zu versehen, er wehrt sich schon gegen die Aufnahme von Ausdrücken wie checken und shoppen in den allgemeinen Sprachgebrauch..."
Finde ich auch, hm, gewöhnungsbedürftig.
Insgesamt zog mich das Gewinnerbuch leider nicht völlig in den Bann. Ich hatte zwischendurch sogar Mühe, mich zum Weiterlesen zu motivieren - für mein Empfinden über weite Strecken langatmig und wenig interessant, leider. Alles in allem gut lesbar, aber nichts, was bei mir einen bleibenden Eindruck hinterlassen hätte. Schade...
© Parden