Inhaltsangabe zu "NACHT: Thriller"
Island, ein abgelegener Fjord: An einem kalten Winterabend klopft ein Nachbar an das Haus einer Familie, von der es seit einer Woche kein Lebenszeichen mehr gibt. Er bemerkt Spuren, aber niemand öffnet. Als er ins Haus eindringt, sieht er, dass die ganze Familie ermordet wurde. Der Polizist Týr und die Gerichtsmedizinerin Iðunn werden an den Tatort gerufen, um das schreckliche Verbrechen zu untersuchen. Das Ermittlerteam erkennt dabei schnell, dass der Fall Verbindungen zu einer längst vergangenen Zeit aufweist, die alle von ihnen gern für immer vergessen würden. Yrsa Sigurdardóttir schreibt atemberaubend spannend und mit archaischer Wucht. Ihr gelingt es meisterhaft, die schaurige Atmosphäre von Islands gnadenlos eisigen Winternächte heraufzubeschwören.
Grässlicher Familienmord auf einem einsamen Hof
"Hvarf" ist der Name des ehemaligen Bauernhofs, auf dem sich das Drama abgespielt hat. Der Name bedeutet soviel wie "Verschwinden": Selbst für isländische Verhältnisse lebt man hier abgeschieden. Und bewirtschaftet wird der Hof schon lange nicht mehr. Die neuen Bewohner sind Isländer, die lange in den USA gelebt haben: ein Softwareingenieur, der eine Menge Geld gemacht hat, aber wegen Krankheit seinen Beruf nicht mehr ausüben kann, mit seiner Frau und zwei Töchtern. Außerdem lebte ein Au-pair-Mädchen auf dem Hof. Frau, Töchter und Au-pair-Mädchen liegen erschlagen in ihren Zimmern. Von dem Mann keine Spur. Es gibt jedoch eindeutige Hinweise, dass noch Tage nach den Morden jemand auf dem Hof war, gegessen und getrunken sowie die Haustiere versorgt hat. Kann jemand so kaltblütig sein?
Zuständig für die Ermittlungen ist die Polizei von Akranes. Die kennen wir bereits aus dem Krimis von Eva Björg Ægisdóttir: Hörður. Sævar und Elma. Da wir uns aber hier in einem Krimi von Yrsa Sigurðardóttir befinden, sind diese Figuren "ausgeliehen" und spielen kaum eine Rolle. Unsere Hauptperson heißt Týr, gehört zur Polizei Reykjavik und wird dem Team aus Akranes wegen der Schwere des Verbrechens zur Aufstockung zuarbeiten. Das gilt auch für seine Kollegin Karó und die Rechtsmedizinerin Iðunn.
Wir in vielen ihrer Krimis erzählt die Autorin alternierend in zwei Strängen. Der eine deckt die Tage vor den Morden ab und ist aus der Sicht des Au-pair-Mädchens Sóldís erzählt, das nach einer persönlichen Krise die Einsamkeit sucht und deshalb die Stelle angenommen hat. Leider läuft es anders als erhofft: Die Job ist anstrengend und in der Familie ihrer Arbeitgeber liegt offenbar einiges im argen. Die riesigen Glaswände des renovierten Hauses, die besonders nachts wie eine Bedrohung wirken, rauben der jungen Frau den Nerv, und obendrein gibt es gespenstische Vorfälle. Dieser Handlungsfaden wird immer wieder unterbrochen durch die polizeilichen Ermittlungen nach der Bluttat; die Spannung bleibt also hoch. Leider verlaufen die Ermittlungen selbst nach dem furiosen Auftakt eher lahm. Die Autorin plant offenbar eine Serie mit dem gleichen Ermittlerteam, da es sehr viel um Privates geht: Týr hat lange bei einer Adoptivfamilie in Schweden gelebt und quält sich mit ungelösten Fragen um seine Herkunft, und die Gerichtsmedizinerin Iðunn macht einen misanthropischen Eindruck, was sicher auch seine Gründe hat. Am unkompliziertesten ist noch die junge Kollegin Karó, obwohl sie wegen ihrer dunklen Hautfarbe ständig gegen Vorurteile ankämpfen muss.
Die privaten Bürden der Ermittler, besonders Týrs, nehmen nach meinem Geschmack zu viel Raum ein, was vielleicht darüber hinwegtäuschen soll, dass wir über die Ermittlungen selbst gar nicht viel erfahren. Die werden nämlich von der Polizei in Akranes durchgeführt, und das müssten wir uns von Eva Björg Ægisdóttir erzählen lassen. Vielleicht tut sie es noch. Aber es gibt einige Vernehmungen, Verdächtige werden ausgemacht, und natürlich erfahren wir die Auflösung des Mordes - wenn man ein so lahmes, vorhersehbares und (sorry, Frau Sigurðardóttir) lieblos erzähltes Fazit überhaupt "Auflösung" nennen will. Eine Riesenenttäuschung. Auch wenn die Person des Täters überraschen könnte, hat die Autorin hier jede Gelegenheit ausgelassen, die letzten Vernehmungen und Erkenntnisse spannend und wendungsreich aufzubereiten. Das Verbrechen ist spektakulär, der Schauplatz stimmungsvoll - bis etwa zur Mitte stimmt es. Dann scheint die Autorin ihre erzählerischen Mittel im Galopp zu verlieren. "Hvarf" - alles verschwindet. Lust auf den Folgeband, der schon vorliegt, habe ich jedenfalls nicht.