Der große Wunsch: Roman

Buchseite und Rezensionen zu 'Der große Wunsch: Roman' von Sherko Fatah
4.65
4.7 von 5 (3 Bewertungen)

Inhaltsangabe zu "Der große Wunsch: Roman"

Feinfühlig und scharfsinnig erzählt Sherko Fatah eine erschütternde Vater-Tochter-Geschichte vor dem Hintergrund der Konflikte im Nahen Osten, die auch das heutige Westeuropa längst erreicht haben. Eine Tochter verschwindet. Sie ist aufgebrochen, um sich in Syrien mit einem Glaubenskrieger zu verheiraten, den sie im Internet kennengelernt hat. Zurück bleibt ein Vater, der sich Vorwürfe macht. Hätte Murad seiner Tochter Naima nur mehr von seinem Herkunftsland erzählt, von dem er sich hier in Deutschland endlich gelöst hat. Hätte er ihren Fremdheitsgefühlen nur mehr Beachtung geschenkt. Vielleicht wäre sie dann nicht im Namen der Religion in eine Welt heimgekehrt, die ihr vollkommen unvertraut ist. Murad sieht nur eine Lösung: Er muss Naima finden. Und so nimmt er Kontakt zu Schleusern auf, reist in das Kurdengebiet an der türkisch-syrischen Grenze und stellt sich dabei auch seiner eigenen Vergangenheit. Als ihm die Schleuser ein Audiotagebuch präsentieren, das von einer Frau in Rakka aufgenommen wurde, mit großer Wahrscheinlichkeit Naima, entscheidet Murad, die gefährliche Reise in das Herrschaftsgebiet des Islamischen Staates auf sich zu nehmen …

Autor:
Format:Gebundene Ausgabe
Seiten:384
EAN:9783630877372

Rezensionen zu "Der große Wunsch: Roman"

  1. 4
    05. Jun 2024 

    In der Fremde

    „Migration verändert Menschen, vor allem aber deren Kinder.“ (17)
    meint Murad, der nach seiner in Nahen Osten verschollenen Tochter Naima sucht. Murad, ein Sohn der kurdischen Einwanderer, hat längst mit seinem Herkunftsland abgeschlossen; als Sozialarbeiter in Berlin hat er seinen Platz in der neuen Heimat gefunden. Völlig unvorbereitet traf ihn deswegen die Nachricht über das Verschwinden von Naima, die mit ihrem westlichen Lebensstil, kurzen Röcken, Make-up und Fingernägel-Design wie jedes andere Mädchen in Berlin wirkte. Aber Naima lernte einen französischen Glaubenskrieger kennen, ist ihm nach Syrien gefolgt, hat sich dem Kalifat angeschlossen.

    Voller Unverständnis für Naimas Entscheidung und von Selbstvorwürfen geplagt, will Murad seine Tochter in Syrien finden und sie zurück nach Deutschland bringen.

    Der Roman von Sherko Fatah spricht viele brisanten Themen unserer Zeit an. Eines der Wichtigsten ist die Migration, die seit dem Ausbruch des Krieges in Syrien sehr stark zugenommen hat. Überzeugend schildert der Autor das Leben in der Fremde, spricht über Parallelgesellschaften und die Sehnsucht nach dem Vertrauten, nach der Zugehörigkeit. Oft geschieht dann, dass „eine Hinterhofmoschee voller >Landsleute< aus aller Herrenländer zur Ersatzheimat“ wird. (29)

    Doch das Hauptthema des Romans ist die Suche nach der Tochter, die ihr westliches Leben aufgegeben hat, um in den barbarischen Krieg in einem fremden, ihr unbekannten Land zu ziehen. Murads Suche entpuppt sich als ständiges Warten; das Warten auf den Boten der Schleuser, das Warten auf irgendwelche Infos über Naima, an eine Nachricht von ihr. Es ist ein Warten voller Hoffnung und Zweifel. Wie schwer Naimas jetziges Dasein ist, erfährt Murad aus den Fragmenten des Audiotagebuches, die ihm die Schleuser in einiger Zeitabständen zusenden. Es sind verstörende Nachrichten, manche sind schwer zu ertragen, auch für mich als Leserin.

    Die Geschichte wirft viele Fragen auf, doch auf keine von ihnen findet man eine eindeutige, klare Antwort. Die Erzählung, auch wenn sie in einer bildhaften Sprache erfasst ist, zieht sich – genauso wie Murads Warten – in die Länge.
    Angeregt von der spannenden Kurzbeschreibung des Buches habe ich diesen Roman mit großem Interesse gelesen.

  1. Entwickelt nach und nach große Kraft

    Kurzmeinung: Großartig – wenn man sich einlässt und aushält, langweilig, wenn man Spannungsromane gewohnt ist.

    Der etwas phlegmatische, energielose und fatalistisch eingestellte Murad bricht aus Deutschland auf und begibt sich ins Hinterland der Türkei, um seine Tochter Naima zu suchen. Im Rücken des Städtchens Mardin, rund 20 km nördlich der Grenze zu Syrien, von dort ist es nicht weit in den Irak, quartiert er sich am Rande eines Dörfchens bei dem älteren Ehepaar Abbas und Aliija ein. Seine Tochter, inzwischen etwa 20 Jahre alt, ist vor längerer Zeit von zu Hause weggelaufen, um mit einem Krieger der IS zusammenzuleben. Heißt es, ganz genau weiß es niemand. Sie soll mit einem Krieger namens Faruk zusammenleben, einem Franzosen, und ein Kind haben.
    Murad betreibt von seinem Standort, seiner Zentrale aus, halbherzige Nachforschungen: er trifft sich mit „dem Boten“ im Kaffeehaus, wartet auf Informationen, für die er bezahlt hat. Er ist zum ersten Mal im Land seiner Väter oder wenigstens in der Nähe davon, sein Vater kommt aus dem Irak. Murad ist also ein typischer Vertreter der in Deutschland geborenen "Generation mit Migrationshintergrund", wie man so schön sagt. Er ist mit einer Deutschen verheiratet, mit Dorothee. Doch die Ehe scheitert. Dennoch ist man durch das gemeinsame Kind verbunden geblieben. Immer wieder ruft Dorothee an und fragt nach dem Stand der Dinge, da sie – ganz richtig – vemutet, dass Murads Reise ein Schnellschuss gewesen ist, ungeplant und unsystematisch und er, wie immer, sozusagen nichts unternimmt, sondern sich treiben lässt.

    Der Kommentar:
    Es ist die Gegend, staubig, hügelig, ereignislos, öde, dennoch voller unterdrückter Spannungen, die Männergesellschaft, das Teetrinken und die Gedanken des quallenartigen antriebslosen Murad, die einen allmählich einfangen. Wie Murad leidet man unter der Abwesenheit von News, von Ereignissen, von Gesellschaft, von Irgendwas und wie Murad verbohrt man sich nach und nach in genau diese Szenerie: Berge, freilaufende Hunde, Telefonate, SMS, die zu nichts führen, unbefestigte Straßen, unwillige Unterhaltungen, Wanderungen auf staubtrockenem Boden, fremdartige Begegnungen, man wird eins mit dem eintönigen Leben der Menschen an prekärem Ort, denn nicht weit entfernt tobt ein Krieg. Die IS ist nie weit. Man hat Angst und hält sich bedeckt.
    Sowohl Murads Antriebslosigkeit, seine ungerechten Gedanken gegenüber seiner Exfrau, seine Gewissensbisse seiner Tochter gegenüber, die er mit dem Scheitern der Ehe fast gänzlich seiner Frau überlassen hat, korrespondieren mit der öden Umgebung. Staub. Berg. Staub. Tee. Karges Essen. Karge Gemeinschaft. Misstrauen. Abhängigkeit. Eine andere Art von Leben. Während Murad unter einer alten Aleppoeiche meditiert und an einer armseligen Quelle seine Zweitunterhose wäscht, unternimmt sein Freund Aziz aus der Ferne, das, was Dorothee von Murad erwartet. Er plant, arrangiert und kommt schließlich zu Hilfe. Jetzt gehts ratzfatz und ist auch höchste Zeit, denn Rakka, dem vermuteten Aufenthaltsort von Murads Tochter, soll gestürmt werden (ich hätte gerne gewusst, von wem).

    Das Leseerlebnis orientiert sich an seiner Umgebung. Erst fad. Dann eintönig. Dann Gewöhnung an die Eintönigkeit. Verliebtsein in diesselbe. Monotonie. Askese. Träumen in der Sonne. Staub. Teetrinken. Verzweiflung. Ich bin Murad. Schließlich werden Murad und ich aufgeschreckt von Aziz. Plöder Kerl, wir hätten ewig unter der Aleppoeiche sitzen können.
    Es fällt natürlich erst schwer, sich auf Monotonie, Gewissensbisse, Apathie und Teetrinken einzulassen. Dazu der Staub, der durch alle Poren dringt. Spärliche Unterhaltungen. Dennoch, die Landschaft ist großartig. Ich sehe sie vor mir und blicke mit Murad und seinem Fahrer in die Täler. Ich renne mit ihm zu der Frau, die ständig mit einer großen Tasche von A nach B wandert; was ist da drin? Ein Maschinengewehr? Ich esse Ziegenfleisch, Fladenbrot und werde allmählich asketisch. Verlangsamung. Einsamkeit. Gedanken. Dann passiert etwas. Verrat. Ein großartiges Ende.

    Fazit: Ein großartiger Roman mit Sprachkraft, ohne Fehl und Tadel, auf den man sich freilich ganz und gar einlassen muss, sonst bricht er unter einem weg. Ein Roman, der mir Hochachtung abnötigt.

    Kategorie: Anspruchsvolle Literatur
    Auf der Longlist des Deutschen Buchpreises 2023 (hätte auf die Shortlist gehört)
    Verlag: Luchterhand, 2023

  1. Beeindruckend, einfühlsam und vielseitig

    „Ich bin hier, um meine Tochter zu finden, die von Deutschland aus herkam, um einen verrückten Traum zu realisieren, sagte er sich und wusste, schon dieser Anlass für die Reise hätte seinen Vater den Kopf schütteln lasen.“ (Zitat Pos. 46)

    Inhalt
    Murad lebt in Berlin. Seit der Scheidung von seiner Frau Dorothee hat er den Kontakt zu der gemeinsamen Tochter Naima verloren, doch er war überzeugt, seine Tochter, inzwischen zwanzig Jahre alt und eine moderne junge Frau, gut zu kennen. Bis Naima vor zehn Monaten verschwunden ist. Sie ist einem jungen Glaubenskrieger ins Kalifat Syrien gefolgt und ist nun verheiratet. Murad lässt nach seiner Tochter suchen, sein bester Freund Aziz, verfügt als Kriegsreporter über viele Kontakte. Dann beschließt Murad, sich selbst mit Hilfe von Schleppern in das kurdische Grenzgebiet durchzuschlagen, vor Ort auf neue Informationen zu warten und seine Tochter nach Hause zurückzuholen. In einem kleinen Dorf wartet er auf den Boten, der mit einer syrischen Organisation in Verbindung steht, die Aussteigern, die zurück nach Hause wollen, bei der Flucht aus dem Kalifat zu helfen. Ist die junge Frau, die in einem Audiotagebuch von ihrem Leben berichtet, seine verschollene Tochter Naima? Wie kann er wissen, ob die tief verschleierte Frau auf den Fotos seine Tochter ist? Wenn ja, will sie überhaupt gerettet werden?

    Thema und Genre
    Im Mittelpunkt dieser Geschichte steht ein Vater mit kurdischen Wurzeln, der in Deutschland aufgewachsen ist und der Heimat seiner Eltern längst entfremdet, auf der Suche nach seiner Tochter, die sich genau diesen Wurzeln zugewendet hat und schon in der Pubertät den Kontakt zum Vater weitgehend abgebrochen hat. Themen sind Familiengefüge zwischen den Kulturen und Religionen, Freundschaft, Vertrauen, die unterschiedlichen Welten und Denkweisen in Ost und West, die Einflussnahme der westlichen Politik auf die Konflikte in diesem gefährlichen Krisengebiet.

    Charaktere
    Seine Frau denkt über Murad „immer zu spät und dann in der falschen Richtung unterwegs.“ (Zitat Pos. 868) Sie drängt, will genaue Berichte und Ergebnisse über die Suche nach ihrer Tochter und versteht nicht, dass es in dieser sensiblen, gefährlichen Situation wichtig ist, Geduld zu haben, zu vertrauen und zu warten. Murad und die Menschen, die er trifft, vertiefen in ihren Ansichten und in ihrem Verhalten die Authentizität dieser Geschichte.

    Erzählform und Sprache
    Es ist eine Geschichte auf vielen Ebenen, in einer personalen Erzählform in deren Mittelpunkt die Hauptfigur Murad steht. Murad reist in ein Dorf im türkisch-syrischen Grenzgebiet, unternimmt mit seinem Fahrer Streifzüge, trifft sich mit seinen Mittelsmännern. Als sein Zimmervermieter ihm ein abgeschiedenes kleinen Haus in Miete überlässt, hat Murad einen Rückzugsort. In den nun folgenden einsamen Stunden und Tagen des Wartens entwickelt sich eine zweite Geschichte, die der Bewusstseinsströme seiner Erinnerungen, Überlegungen und Gedanken. Er denkt über sein Verhältnis zu seiner verschwundenen Tochter nach, fragt sich, was er als Vater hätte besser machen können. Hätte er mehr mit ihr über die kulturellen Wurzeln der Familie gesprochen, hätte sie das vielleicht daran gehindert, selbst in einer ihr völlig fremden Welt danach zu suchen. Kritisch hinterfragt Murad in seinen Gedanken die Eingriffe der westlichen Politik in diese Krisenregion und die kulturellen Unterschiede, die schon in der Familienstruktur beginnen. Im Hintergrund verläuft jedoch, für Murad und damit auch uns Leser zunächst unbemerkt, eine dritte, reale Geschichte, die sich mit kleinen Hinweisen erst zum Ende erschließt. Die Sprache erzählt einfühlsam von der realen und philosophischen Suche eines Vaters nach seiner verschwundenen Tochter, nimmt sich aber auch Zeit für bildintensive Schilderungen der wilden, kargen Landschaft, des Dorflebens, der Menschen und der Natur.

    Fazit
    Ein beeindruckender, auch sprachlich überzeugender Roman, eine vielseitige Geschichte und eine besondere Art des Erzählens mit wichtigen, aktuellen Themen, der wir mit Interesse und gebannt folgen und die zum weiteren Nachdenken anregt.