Der berühmte Tiefpunkt

Buchseite und Rezensionen zu 'Der berühmte Tiefpunkt' von Amarylis De Gryse
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4 von 5 (1 Bewertungen)

Inhaltsangabe zu "Der berühmte Tiefpunkt"

Format:Gebundene Ausgabe
Seiten:256
EAN:9783716000335

Rezensionen zu "Der berühmte Tiefpunkt"

  1. Zwischen Weinen, Lachen und gutem Essen

    Die 28-jährige Marieke hat den berühmten Tiefpunkt erreicht: ihr langjähriger Freund Blok hat sie rausgeschmissen, ihre Mutter hat mit ihr gebrochen und Freunde hat sie keine. In Folge packt sie ihre Klamotten in einen Mietwagen und kampiert darin. Zu allem Überfluss sperrt Blok ihr Konto und eine Waschmaschine frisst ihre Sommerklamotten – so wird sie nahezu mittellos.

    Die junge Frau ist an einem Wendepunkt angekommen. Tiefer kann sie nicht sinken. Natürlich versucht sie zu analysieren, wie es soweit kommen konnte. Durch diese Rückblicke erfahren wir einiges aus ihrer Kindheit und Jugend. Das Leben mit ihrer depressiven Mutter war nicht einfach, zum Vater hat Marieke keinen, zu ihren Schwestern wenig Kontakt. Freund Blok stammt aus einer Fleischerei, in der Marieke als billige Arbeitskraft gern gesehen wird, Gefühle aber Mangelware sind. Marieke fängt an, die richtigen Fragen zu stellen. Sie durchleuchtet ihre Vergangenheit, wobei sie feststellen muss, dass man nicht jeder Erinnerung trauen kann.

    Diese persönlichen Gedanken werden durchbrochen vom Berufsalltag im Heim, wo Mariekes Wohnbereich in ein neues Gebäude umziehen soll. Der Umzug verzögert sich immer mehr, während Personal und Ressourcen in den Neubau wandern. Bald gibt es kein warmes Wasser mehr, kaum noch Kollegen und tagelang dasselbe geschmacksarme Essen. Mariekes Geduld wird auf eine harte Probe gestellt…

    Marieke erzählt ihre Geschichte als Ich-Erzählerin. Der Ton ist locker, nicht larmoyant, sondern stets mit einer guten Prise Selbstironie gewürzt. Trotzdem besitzt er Tiefe, manche Szenen gehen ans Gemüt, manche wirken auch etwas überzogen. Marieke lässt ihr Leben Revue passieren. Kochen und Essen bedeuten ihr viel. Schöne Erinnerungen verbindet sie mit der Essenszubereitung im Elternhaus, die Küche als Ort der Harmonie: „Trotzdem war die Küche mein Lieblingsort, denn in der Küche kam alles wieder ins Lot.“ Auf der anderen Seite kann die junge Frau auch Probleme regelrecht in Pralinenform in sich hineinfressen, bis es ihr zuviel wird.

    Besondere Intensität haben die Episoden im Seniorenheim, hier beweist Marieke große Empathie und Nächstenliebe. Die Worte, die ihr im Umgang mit ihren nächsten Angehörigen fehlen, findet sie für die alten Menschen. „Wir ähneln uns, die Senioren und ich, wir leben in einer unbekannten Welt. Wir können nichts anfangen mit den Bildern aus der Vergangenheit.“ (S. 198) Mit großer Zuwendung kümmert sie sich um die ihr anvertrauten demenzkranken Alten.

    Der ausdrucksvolle Schreibstil hat die richtige Balance aus Tragik und Komik, man findet nachdenkenswerte Sätze und Formulierungen. Deutlich werden die Zustände in Pflegeheimen angeprangert, in denen der Einzelne kaum eine Rolle spielt, wenn es um Geld oder Profit geht. Würdevolles Altern ist gar nicht so einfach unter diesen Bedingungen. Trotz aller privaten Probleme zeigt sich Marieke hier als Fels in der Brandung. Sie schmiedet neue Allianzen, die es ihr letztlich ermöglichen sollten, den Weg zurück in ein selbstbestimmtes Leben zu finden.

    Auf dem Weg dorthin wird längst nicht alles auserzählt. Vieles bleibt offen, so dass man als Leser noch länger über den Ausgang des Romans nachsinnieren kann. Man solidarisiert sich mit der Protagonistin, ans Herz wächst sie einem jedoch nicht. Zu widersprüchlich ist ihr Verhalten, zu selten begehrt sie gegen Ungerechtigkeiten auf; man möchte sie regelrecht wach rütteln. Doch eine schwierige Kindheit lässt sich nicht einfach abstreifen, sie wirkt lange nach.

    „Der berühmte Tiefpunkt“ ist ein empfehlenswertes Debüt rund um die Selbstfindung einer jungen Frau in der Krise, in dem viele aktuelle Themen angesprochen werden. Ein Roman, der sich zu lesen lohnt.